Repressive
Entsublimierung
SOLL MIR LIEBER GOYA DEN SCHLAF RAUBEN ALS IRGENDEIN ARSCHLOCH von Rodrigo Garcia
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Lars Eidinger in Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch an der Schaubühne Berlin | Foto © Heiko Schäfer
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Bewertung:
Gibt es eine absolute Freiheit? Wie könnte es aussehen, wenn das Gewissen, Denken, der Willen auch von allen politisch-wirtschaftlichen Einflüssen völlig frei ist? Der 42jährige Schauspieler Lars Eidinger ist dafür bekannt, dass er auf der Bühne oder im Film eine kraftvoll-rüpelhafte Selbstgewissheit ausstrahlt. Seine Figuren stellen sich oft gegen alle Konventionen, wollen sich mit anderen reiben, um daran zu wachsen oder andere auszustechen. Ihnen scheint jedes Mittel recht. In dem 2011 an der Berliner Schaubühne uraufgeführten Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch trägt Eidinger ein Ganzkörperbärenkostüm, bei dem nur sein Kopf herausguckt. Er spielt einen Vater, der mit seinen noch nicht im Teenageralter befindlichen Söhnen ungehemmt feiern möchte. Dazu lädt der auf der Bühne glitzernde und mit Spiegelpailletten umkleidete Mercedes ein. Mit dem letzten Geld, ganze 2.000 Euro, teilt sich der Vater mit seinen Söhnen dieses Taxi. Während seine Söhne nach Disneyland in Paris wollen, möchte er mit ihnen nachts in den Prado in Madrid einbrechen und ihnen bei dieser verrückten Aktion etwas möglicherweise Wertvolles mit auf dem weiteren Lebensweg geben.
Denn er will zusammen mit seinen Kindern die Malereien Francisco de Goyas (1746-1828) studieren. Der spanische Hofmaler musste sich seinerzeit vor der Inquisition für Gemälde nackter Frauen rechtfertigen, schuf in seiner späten Schaffensphase düstere Phantasien und beschäftigte sich in seinen Bildern mit Wahnsinn. Goya erregte Anstoß mit Lasterhaftem, und es entstanden albtraumähnliche Darstellungen. Bildprojektionen auf der Bühne zeigen düstere Werke Goyas, in die sich im Sinne der Wünsche aller Beteiligten plötzlich Walt Disney-Zeichentrickfiguren wie Tinker Bell oder Minnie Maus kontrastreich einfügen. Der Vater versteht nicht, warum seine Söhne auf dieses niedere Entertainment im Freizeitpark anspringen, verspricht er ihnen doch ein viel größeres Abenteuer.
Eidinger legt während seiner Solo-Performance wummernde Bass-Musik auf, schickt dichten Theaterrauch über die Publikumsreihen und probiert hässliche Masken aus. Völlig ungehemmt und prollig spricht er als Familienvater davon, seinen Söhnen die Vorzüge des Fickens näherbringen zu wollen, etwa wie man richtig bläst und „Fotzen“ leckt, damit man auch noch etwas vom Leben hat. Der Familienvater plädiert in einer entwertenden Umgangssprache für eine möglichst rasche und umfassende Bedürfnisbefriedigung. Es gilt nur noch das Hier und Jetzt, wie bei einem Fußballspiel. Eidinger ist immer in Bewegung und legt Bücherstapel ins Bühnenzentrum. Wenn er versucht auf ihnen zu stehen, bekommt der Ausdruck "etwas zu verstehen" eine sehr direkte, anschauliche Bedeutung. Hier wird gestenreich angedeutet, dass Menschen oft gewohnheitsmäßig viel Wissen anhäufen, ohne mit diesem Wissen wirklich etwas anfangen zu können. Später pflanzt Eidingers Figur Bücher in den Rollrasen und gießt sie sodann. Einzelne Bücher wirft er am Ende auch ins Publikum und droht auch einen abgewetzten Ball hierhin zu schießen. Die Lichttechnik schickt außerdem Lichtblitze durch Stroboskopeffekte in die Zuschauerreihen.
Die minderjährigen Söhne werden niedlich über Videoprojektionen eingeblendet. Sie geben irgendwann den Protest gegen die Ideen ihres Vaters auf. Dieser sucht sich alsbald eine andere Instanz, an der er sich reiben kann. Niemand geringeres als Peter Sloterdijk, einer der renommiertesten deutschsprachigen Philosophen der Gegenwart, soll ihn und seine Söhne auf ihrer gemeinsamen Reise begleiten. Alsbald sitzt eine Figur, eingepfercht in ein Sack-Ganzkörperkostüm, neben dem Vater. Diese Karikatur des wahrscheinlich wirkungsmächtigsten Vorzeige-Intellektuellen Deutschlands postuliert in Dauerschleife lateinische Sätze oder brabbelt anderes schwer Verständliches dahin, während der Vater eine ganze Flasche Wein in einem Zug in sich hineinkippt oder sich ohne Unterbrechung Erdnüsse in den Mund schiebt. Alle Triebe werden – vielleicht im Sinne der sogenannten repressiven Entsublimierung – unreflektiert, hemmungs- und rücksichtslos befriedigt.
Der spanisch-argentinische Regisseur und Autor Rodrigo Garcia schuf ein verrücktes, freches und provokantes Stück, das urplötzlich nach einer knappen Stunde sein Ende findet. Nach dem Abschlussapplaus legt Eidinger noch einmal deutschsprachige Musik auf - zur stimmungsvollen Begleitung auf dem Weg hinaus.
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Lars Eidinger in Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch an der Schaubühne am Lehniner Platz | Foto © Heiko Schäfer
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Ansgar Skoda - 1. Mai 2018 (2) ID 10679
SOLL MIR LIEBER GOYA DEN SCHLAF RAUBEN ALS IRGENDEIN ARSCHLOCH (Schaubühne am Lehniner Platz, 29.04.2018)
Text und Regie: Rodrigo García
Bühne und Kostüme: Rodrigo García
Video: Rodrigo García und Krzysztof Honowski
Dramaturgie: Nils Haarmann
Licht: Carlos Marquerie
Mit: Lars Eidinger
Uraufführung war am 5. März 2011.
Weitere Infos siehe auch: http://www.schaubuehne.de
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