Homosexuell,
heimatlos,
herumirrend
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Die juristische Unschärfe einer Ehe am Maxim Gorki Theater, Berlin | (C) Esra Rotthoff
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Bewertung:
Vier junge Menschen ringen auf der Bühne mit einem Wechselbad widersprüchlicher Gefühle. Sie sprechen teilweise synchron und frontal zum Publikum. Im Bühnenzentrum richtet sich langsam eine stilisierte Wand auf. Die Vier werfen sich dagegen und werden an ihr hängend emporgehoben. Später wechseln sie sich mit dem Erzählen der Geschichte ab, indem sie ein Mikrofon weiterreichen. Alle tragen einheitlich ein helles Tütü. Das Drama spielt zunächst im postsowjetischen Russland und handelt von der Enge gesellschaftlicher Verhältnisse und davon, ob man das gleiche Geschlecht begehren darf. Zwei Frauen begehren einander, stellen ihre Gefühle und ihr Erleben allmählich in Frage und kämpfen verzweifelt gegen gesellschaftliche Konventionen. Ein Mann heiratet eine der beiden Frauen, fühlt sich jedoch sexuell zu Männern hingezogen. Trotzdem fällt es ihm schwer hinzunehmen, dass seine Frau eine andere begehrt. Als sich das Geschehen von Russland nach Berlin verlagert, erblinken die Buchstaben von "JOY" (Freude) auf einer großformatigen Installation über dem sich nun drehenden Szenario. Einzelne Figuren entkleiden sich auf der Bühne und tragen bald ein bequemes Sport- bzw. ein aufreizendes Freizeitdress. Nurkan Erpulat besetzte seine Inszenierung von Olga Grjasnowas zweitem Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe (2014) im Gorki Theater mit vier aufregenden, jungen Darstellern. Lea Draeger und Mehmet Ateşçi spielen auch in Falk Richters Uraufführung von Small Town Boy Hauptrollen, das weiterhin am Gorki-Theater zu sehen ist und ausdrucksstark Themen wie Homosexualität bei türkischen Männern und alltägliche Schwierigkeiten homosexueller Paare in der Öffentlichkeit behandelt. Auch in Die juristische Unschärfe einer Ehe darf Ateşçi leidenschaftlich singen und als Berliner Drag Queen provokant feminine Anteile seiner Figur verkörpern.
Grjasnowas Roman wird stark gekürzt und teilweise leicht geändert nacherzählt: Leyla (Lea Draeger) tanzt hervorragend Ballett. Ihre Mutter sowie ihre russische Musiklehrerin fördern streng die Disziplin der magersüchtigen russischdeutschen Studentin. Nach einem Unfall muss Leyla jedoch das Moskauer Bolschoi-Theater verlassen. Altay (Taner Şahintürk) ist Psychiater. Nach dem Suizid seiner großen Liebe lässt er keinen Mann mehr an sich heran. Altay und Leyla führen eine Scheinehe, um ihre russischen bzw. aserbaidschanischen Familien zufrieden zu stellen. Mit Mitte zwanzig wollen beide in Berlin von vorne anfangen. Da tritt Jonoun (Mareike Beykirch) in ihr Leben, die auch hybride kulturelle Wurzeln hat. Sie verliebt sich in Leyla. Erpulat reichert die Dreiecksgeschichte von Grjasnowa um Videos an, wenn er Aufnahmen von Berlin und Baku und von jungen Männerkörpern im Darkroom zeigt, die Darsteller sich selbst filmen und ihre Gesichter großformatig auf die Bühnenwand projiziert werden. Auch eingespielte oder live gesungene Elektrosongs bereichern die Geschichte atmosphärisch. Die Autorin der Buchvorlage wurde 1984 in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, geboren, siedelte 1992 nach Hessen über und lebt inzwischen in Berlin. Das letzte Drittel der Inszenierung spielt in Baku, wo die frühere Ballerina Leyla wegen illegaler Autorennen verhaftet wird und Altay die schwule Subkultur sucht.
Grjasnowas Dreiecksgeschichte behandelt Gewalterfahrungen und tragische Erlebnisse der Protagonisten und ihre Träume von Liebe und vom Glück. Die Protagonisten wollen sich von repressiven Strukturen der Kultur ihrer Heimat befreien, vermögen dies jedoch nur eingeschränkt, da sie von scheinbar neugewonnenen Freiheiten und Berliner Einflüssen auch überfordert scheinen. Auf der Bühne am Gorki werden heimatlos gewordene junge Menschen gezeigt, die ihre Sehnsucht nach Geborgenheit verleugnen und atemlos-energiegeladen jede Orientierung zu verlieren drohen. Dichte Monologe, die den Roman nacherzählen, wechseln mit szenischem Spiel. Das schlichte Bühnenbild mit wenigen Requisiten ändert sich selten. Leider sind einige Szenen deutlich überzogen, wenn die Darsteller nebeneinander aufgestellt dem Publikum zugewandt ganze Wasserflaschen in sich hineinkippen, Jonoun-Darstellerin Beykirch mit Popcorn um sich werfend dasselbe isst oder Leyla-Darstellerin Draeger – im Bühnenzentrum mittig mit baumelnden Beinen - mehrere Tortenstücke in sich hineinschaufelt und dabei traurig von Altay beobachtet wird. Hier hätte man sich innovativere Ansätze der Regie gewünscht, um das Leid der Protagonisten zu illustrieren; erhöht doch auch in anderen Berliner Uraufführungen – z. B. in Armin Petras Inszenierung von Frank Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 mit Peter René Lüdicke als unzählige Würstchen verschlingender und schließlich ausspuckender Darsteller - Völlerei nur den Ekel-Faktor, ohne die Geschichte voranzutreiben.
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Ansgar Skoda - 23. September 2016 ID 9570
DIE JURISTISCHE UNSCHÄRFE EINER EHE (Maxim Gorki Theater Berlin, 17.09.2016)
Regie: Nurkan Erpulat
Bühne: Kathrin Frosch
Kostüme: Pieter Bax
Musik: Valentin von Lindenau / kling klang klong
Video: Sebastian Pircher
Bewegungschoreographie: Nir de Volff
Dramaturgie: Daniel Richter
Mit Mehmet Ateşçi, Mareike Beykirch, Lea Draeger und Taner Şahintürk
Uraufführung war am 17. September 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de
Post an Ansgar Skoda
http://www.ansgar-skoda.de
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