Mach mir
den Räuber
VERRÜCKTES BLUT von Nurkan Erpulat und Jens Hillje
|
Verrücktes Blut am Theater der Keller | © MEYER ORIGINALS
|
Bewertung:
Der Bühneneingang ist durch Stühle und Pulte zugestellt. Sieben pubertierende Jugendliche fläzen sich hier lässig in Kapuzenpullis, Jogginghose oder Tigerleggins. Eine Schülerin (Romi Maria Goehlich) trägt Kopftuch. Beherzt versucht diese, sich aufdringlichen Fummeleien zweier sich neben sie setzender Mitschüler zu erwehren. Gleich zu Beginn wird lustvoll gekreischt, krakeelt, gerotzt, geflucht, sich im Schritt gekratzt oder vor dem Handy-Spiegel posiert. Alleine ein Jugendlicher (Frank Casali) sondert sich ab. Er wirkt ängstlich und macht sich klein. Sogleich wird er von einem anderen pöbelnden Schüler (Müjdat Yüksel) bedroht, der ihn von hinten an den H. greift und so tut, als würde er ihn rammeln. Munter werden Klischees bedient, wenn Deutschlehrerin Sonia Kelich (Barbara Fernández) im grauen Kostüm Mühe hat, diesen Albtraum einer Schulklasse zu betreten und dabei das Chaos schlicht ignoriert. Während die Jugendlichen weiterhin lautstark rüpeln und provozieren, doziert sie zum Publikum hin über die literarische Epoche der Aufklärung, die ihr innewohnende Strömung des Sturm und Drangs und eines der Hauptwerke dieser Zeit, Friedrich Schillers Drama Die Räuber (1782). Irgendwann wird ihr das Treiben hinter ihrem Rücken dann doch zu ohrenbetäubend, und sie dreht sich um. Die Schüler werden einen kurzen Moment leiser, prusten sogleich aber wieder los.
Da fällt dem hartgesottenen Musa (Chris Ngoy Muninga) plötzlich eine Schusswaffe aus dem Rucksack. Schnell reagiert Kelich und eignet sich diese an. Um zu zeigen, dass auch sie Gewalt ausüben kann, feuert sie die Pistole mehrfach in die Luft ab. So verschafft sich die Pädagogin beherzt Respekt bei den Jugendlichen. Sogleich läuft sie zu Hochtouren auf, um den Schülern die Aufklärung und Ästhetik Schillers näherzubringen. Es beginnt ein Spiel im Spiel, wenn Kelich Latifa (Anna Röser) und Ferit (Denis Merzbach) zwingt, Szenen aus Schillers Klassiker Kabale und Liebe nachzuspielen. Kelich lässt sich immer wieder auf das Niveau der Schüler herab, auch um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie flucht selbst beeindruckend vulgär, überrascht mit eigenen Gewaltfantasien und erniedrigt die machohaftesten ihrer Schüler, indem sie sie auffordert, vor ihr die Hosen herunter zu lassen. Durch die Pistole bedroht, lassen sich die Schüler dazu herab, den Aufforderungen der Lehrerin Folge zu leisten, der eine oder andere findet jedoch auch Gefallen an dem neuen pädagogischen Thrill. Dies wirkt manchmal etwas pathetisch und gewollt - etwa, wenn sich gleich drei männliche Schüler ihre T-Shirts herunterreißen, um dadurch vielleicht auch ihre Rolle als Heranwachsender etwas abzustreifen und die Rolle der heißblütigen Figuren aus Schillers Dramen mit voller Leidenschaft zu verkörpern.
Unterbrochen wird das temporeiche Spiel immer wieder, wenn das Bühnenlicht in Dämmermodus übergeht. Dann tragen alle Figuren im harmonischen Miteinander deutsches Volksliedgut vor. Dieser Verfremdungseffekt erinnert an das epische Theater Bertolt Brechts, ohne das dem bereits in der Stückvorlage angelegtem Bruch eine eigene, das Drama vorantreibende Funktion zukommt. Nils Daniel Finckh schafft (nach seiner Inszenierung von Katja Lange-Müllers Roman Böse Schafe am Kölner Theater der Keller) mit Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje erneut einen reichlich unterhaltsamen Abend, der mit seinen Bildern provoziert, die Vorlage jedoch etwas zu sehr reduziert, indem er den Fokus auf die Figur der Lehrerin legt, anstatt die Schüler mit ihrem Migrationshintergrund und möglicher Perspektivlosigkeit etwas ernster zu nehmen.
|
Verrücktes Blut am Theater der Keller | © MEYER ORIGINALS
|
Ansgar Skoda - 8. November 2016 ID 9673
VERRÜCKTES BLUT (Theater der Keller, 27.10.2016)
Regie, Bühne und Kostüme: Nils-Daniel Finckh
Mit: Frank Casali, Barbara Fernández, Romi Maria Goehlich, Tobias Krebs, Denis Merzbach, Chris Ngoy Muninga, Anna Röser und Müjdat Yüksel
Uraufführung bei der RUHRTRIENNALE war am 2. September 2010.
Kölner Premiere: 3. März 2016.
Weitere Termine: 8., 11. 11. / 2., 3., 23. 12. 2016 // 12., 17. 1. 2017
Weitere Infos siehe auch: http://theater-der-keller.de/
Post an Ansgar Skoda
http://www.ansgar-skoda.de
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|