Nähe
aushalten!
ORFEO Nach Claudio Monteverdi. Eine Sterbeübung
im Martin-Gropius-Bau
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2 (von mehreren) Eurydiken im Esszimmer der bei der RUHRTRIENNALE 2015 uraufgeführten "Sterbeübung" Orfeo | © JU / Ruhrtriennale
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Bewertung:
Mit dem Orfeo Monteverdis - dieser allerersten Oper überhaupt - sich nicht nur musikalisch sondern (und vor allem) szenisch zu beschäftigen hat vorrangiger Weise eine für die Macher ehrgeizige Komponente. Ziel ist immer oder meistens, dieses Zeitlose, dieses "Unendliche" aber auch letzten Endes völlig Unbegreifliche des vorliegenden Stoffes szenisch aufzudröseln, u.U. womöglich neu zu deuten und sodurch zur Diskussion zu stellen. Während der Electroclasherin Peaches (mit dem Solistenensemble Kaleidoskop) vor ungefähr drei Jahren eine schwerelose Mischung zu dem Thema im HAU1 gelang, schien sich die hauptstädtische Tanzikone Sasha Waltz (trotz Mitwirkung des Freiburger Barockorchesters) erst vor Kurzem in zig Unverbindlichkeiten zu verlieren... Dieser Monteverdi war und ist und bleibt - so wie wir daraus schließen - nicht ganz einfach zu bewältigen, ja und es braucht vielleicht Impulse von wo völlig anders her, um diesbezüglich neu und einmalig nach außen hin präsent zu sein.
Jetzt gibt es eine zwischen den drei Genren Kunst, Theater und Musik rieselnde Zeitlupenversion, welche die RUHRTRIENNALE letzten Monat in der Mischanlage vom Welterbe Zollverein in Essen uraufführte und die jetzt - seit diesem Freitag - im Berliner Martin-Gropius-Bau eingehend zu bestaunen ist:
"In dieser performativen Installation von Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot, wird Orfeo als begehbarer Parcours konzipiert. Die Zuschauer werden in Gruppen von maximal acht Personen durch unterschiedliche Räume geführt. Die Handlung von Orfeo konzentriert sich auf die Reise durch die Unterwelt. Das Publikum wird Zeuge von Eurydikes Leben nach dem Tod. Inspiriert vom 'Tibetischen Totenbuch' und den dort beschriebenen Stufen des Todes und der Wiederauferstehung, ist ein polyphones Raumgefüge gestaltet worden, durch das sich der Besucher bewegen wird. Es ist eine Welt, die mit der ambivalenten Beziehung zwischen realen physischen und virtuellen Zuständen spielt. In dieser hyperrealen Umgebung, bewohnt von 'synthetic girls', kommt es zu einer Fusion von physischem und digitalem Selbst.
Dieses Zwischenreich, in dem Eurydike residiert, ist von Musik umgeben. Musikalische Fragmente der Oper Monteverdis verselbstständigen sich und verbinden die Räume, die Eurydike bewohnt. Das Solistenensemble Kaleidoskop überführt Monteverdis Partitur in momenthafte Klangereignisse, unabhängig vom ursprünglichen chronologischen Verlauf der Musik. Die Musiker synchronisieren ihr Spiel stattdessen mit einer digitalen Version der Partitur. Damit werden sie Teil der Maschine, die diese Zwischenwelten steuert."
(Quelle: berlinerfestspiele.de)
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Eingangstür zum Orfeo-Parcours | © JU / Ruhrtriennale
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Sieben Räume (gebaut von Katrin Bombe) gilt es nacheinander zu entdecken, für je 10 Minuten okkupierend einzunehmen und - jeweils durch eine zweite Tür, also nicht die, wodurch man rein gelangte - wieder zu verlassen. Grün und/oder rot aufleuchtende Signale oberhalb der jeweiligen Türpfosten gestatten und/oder verhindern selbständiges Fortbewegen; zwischen den besagten Räumen muss durch dunkle Gänge von der einen zu der anderen Station gewartet werden. [8 Personen ist das jeweils maximale "Fassungsvermögen"; in der Zeit von 10 bis 19 Uhr erfolgt die Kunstaktion; der letzte Einlass: 17.40 Uhr.]
Vom innenarchitektonischen Gesamtstil wie dem inklusiven Interieur her lässt sich auf ein Heim bzw. eine Heilanstalt bzw. ein Hospiz für Wohlhabende schließen. Die hermetischen Umgrenzungen sind physisch unbrutal. Auch könnte es als Raum der Zukunft vorgestellt gewesen sein; aus DDR-Sciencefiction-Filmen (Eolomea oder Signale - ein Weltraumabenteuer) ist mir Ähnliches ganz vage in Erinnerung verhaftet.
Das weit Aufregendere dieses interdisziplinären Schau-Akts sind jedoch seine "BewohnerInnen", "Schutzbefohlenen", "Insassen" oder "Internierten". Sie sind allesamt hinter den Einheitsmasken von Carina Campbell (!), die sich allesamt durch einen volllippigen und traurig nach unten gewinkelten Mund sowie zwei Augenöffnungen auszeichnen, versteckt - und der sie Anstarrende und Betrachtende wird sofort auf die jeweilige Iris seines von ihm angestarrten und betrachteten (menschlichen) Gegenübers, quasi doppelpunktuell, geleitet und gelenkt. Hat man den Punkt/die Punkte erst einmal in seinem eigenen Visier, gelingt ein Ausweichen nur noch unter der Aufbietung enormster Eigenkräfte. Ja, der von den Machern kalkulierte "zwischenmenschliche Kontakt" - von den PerformerInnen justament ab jenem Augenblick zur Zuspitzung gebracht, wo sie dich so von Aug' zu Aug' fest in die Mangel nehmen; gleichsam tun sie das jedoch ganz unaufdringlich, nebenbei fast - hat einen schier untoppbaren suggestiven Zwang. DAS ist es, was dem anteilnehmenden Besucher bis zur Ohnmachtsgrenze auf die Probe stellt. DAS führt zu einer Sensibilisierung (oder Abwehr, je nachdem) für eine/n Andere/n. DAS wird "uns" flugs also vorübergehend als der Teil von Menschlichkeit bewusst, den wir an uns und für die Andern zulassen. Und diese Art Theater habe ich bisher noch nie zuvor gesehen und erlebt!
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Von den Menschen isoliert: Eurydike 1 - im Einzelzimmer des Orfeo-Parcours | © JU / Ruhrtriennale
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Aus dem Eigenleben der besuchten 7 Räume des Orfeo-Parcours
(0) Im Eingangsbereich:
Vor dir eine geschlossne Fahrstuhltür. Links eine Fahrstuhlanzeige (von einem Wert weit über 500 [Etagen] abwärtszählend). Du sitzt auf einem von fünf Stühlen und setzt dir vielleicht die auf den Stühlen bereitliegenden Kopfhörer auf; aus diesen erklingen Musik (aus Monteverdis Orfeo) oder auf Englisch vorgetragene Verhaltensmaßregeln zu der bevorstehenden Tour durch den Parcours. Dann plötzlich graues Bilderrauschen, "Enter"-Anzeige und grünes Licht über dem Fahrstuhl. Es beginnt.
(1) Im Boudoir:
Auf einem Ledersofa sitzt Eurydike. Sie wirkt medizinal-versorgt (Dosis von Antidepressiva?), zeigt sich ängstlich und verstört vom Auftauchen der für sie fremden Menschen. Ihr abruptes Ausgeliefert- oder Schutzlossein stimmt dich nicht wohl, nein, macht dich selber traurig. Ihre müden Blicke messen die fünf "Eindringlinge". Du hast Angst davor, dass sie dich ansieht, und zugleich hoffst du nichts Sehnlicheres.
(2) Im Esszimmer:
Zwei weitere Eurydike's [s. Foto o. re.] an einem Glastisch, worauf eine Obstschale gestellt ist. Die Beiden sind nicht minder medikamentös beeinflusst, denkst du dir sofort, nicht minder als die erste "dieser Art", die in dem Einzelzimmer vorhin auf dem Ledersofa saß. Ihre fast porzellanige Zerbrechlichkeit, ihr ängstliches Von-uns-Gestörtwerden verunsichern dich mehr und mehr. Die eine von den zwei Eurydike's verausgabt sich an einer Rotweintraube, ja und jede neue Frucht bereitet ihr (der Bulimistin?) anstrengende Pein. Die neben ihr gibt Schlucklaute, die dich beunruhigen und irritieren könnten, von sich. Und den Blick der Ersten (Bulimistin?) wirst du bis zum Ende des Parcours nicht los.
(3) Im Bad:
Hinter dem Duschvorhang bewegt sich wer. Der Wasserlauf sowie die Wasserstärke werden über Lautsprecher dosiert. Dann kommt die fünfte der Eurydiken durch eine zweite Tür - es ist die Tür, durch die du dann das Bad wieder verlassen wirst - herein und stellt sich vor den Flachbildschirm links von der zugevorhangten Kabine mit der Duschenden (vierten Eurydike). Sie imitiert, in Zeitlupe, Tanzschritte und -bewegungen. Auch sie, gemäß ihrer verzögerten Beweglichkeit, muss Antidepressiva in sich haben. Irgendwann beendet sie ihre Erinnerungen an den Tanz von früher und geht wieder ab.
(4) Im Musiksalon:
Mit futuristisch-weißen Instrumenten ausgestattet warten, wie es scheint, vier weitere Eurydiken auf dich. Sie machen eine Therapie, Musik zur Selbsthilfe. Sie warten lange, sehen währenddessen abwechselnd auf dich und/oder deine Mitbesuchenden, bevor sie anfangen zu musizieren. Sie beschränken sich auf einen Ton, oder sind es womöglich zwei, drei, vier Töne gewesen - du erinnerst dich im Nachhinein nicht mehr daran.
(5) Im Wartezimmer:
Hier begegnest du, ganz überraschend, einem Rest der Leute, die zur Gruppe, welche vor dir eingelassen worden war, gehört. Es ist in einem Wartezimmer, ringsum stehen Stühle, in der Mitte plätschert sanft ein kleiner Zimmerspringbrunnen (war das tatsächlich so, also das mit dem kleinen Zimmerspringbrunnen? fragst du dich viel, viel später). Nach je ein bis zwei Minuten tritt eine je andere Statistinnen-Eurydike herein, verweilt ein Stück und sucht sich einen "Kandidaten" aus - den bittet sie dann, mittels eines Fingerwinks, zur Tür, durch die sie reingekommen war. Sie lässt dir - also wenn du an der Reihe bist - den Vortritt und weist dir die nächste Tür, durch die du selber gehen sollst und musst...
(6) Orfeos "Unterwelt":
Der Raum ist gleißend weiß. Du bist von diesem wie geblendet. Vor dir steht jetzt Hubert Wild, du weißt es vom Besetzungszettel, er spielt den Orfeo, auch mit Maske, allerdings mit zusätzlichem Schlitz für seinen Mund (tatsächlich? weiß nicht mehr so ganz genau). Er sieht und singt dich an. "Possente spirto", nur für dich allein, denkst du und kannst die Tränen kaum noch unterdrücken - schneller, als dir lieb ist, leuchtet dann das grüne Licht zum Weitergehen - - raus aus diesem Chefarztzimmer!
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Orfeo höchstpersönlich - im Orfeo-Parcours | © JU / Ruhrtriennale
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(7) Im Sterbezimmer:
Eine letzte aller lebenden Eurydiken liegt, unkonstant ein-/ausatmend, auf einem Sterbebett. Es muss ein Sterbebett sein, denkst du dir, dein Bildungsbürgerwissen gibt nichts anderes Vergleichbares zum Thema her. Der Raum ist dunkelblau. Durch einen Seidenvorhang kannst du, nebulös gestaltet als wie inszeniert, die MusikerInnen des Solistenensembles Kaleidoskop sehen, sie spielen live und sind - nichts Anderes war zu erwarten - als Eurydike's gestylt.
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Einfach genial.
Ja, hingeh'n, aushalten, berühren lassen!!!
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Andre Sokolowski - 20. September 2015 ID 8882
ORFEO (Martin-Gropius-Bau, 18.09.2015)
Regie: Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot
Musikalische Konzeption und Umsetzung: Tilman Kanitz und Michael Rauter
Bühne: Katrin Bombe
Kostüm: Lotte Goos
Maske: Carina Campbell (!)
Licht: Jurgen Kolb
Video: Rodrik Biersteker
Konzeption und Elektronische Klanggestaltung: Ole Brolin
Dramaturgie: Marit Grimstad Eggen und Jeroen Versteele
Orfeo: Hubert Wild
Mit: Suzan Boogaerdt, Indra Cauwels, Marie Groothof, Floor van Leeuwen, Bianca van der Schoot und Anna Maria Sturm
Solistenensemble Kaleidoskop
Uraufführung zur RUHRTRIENNALE war am 20. August 2015
Berliner Premiere: 18. 9. 2015
Weitere Termine: 26., 27., 30. 9. / 1. - 4. 10. 2015
Eine Produktion der Ruhrtriennale – Festival der Künste und des Solistenensemble Kaleidoskop. Koproduziert von Berliner Festspiele und Toneelgroep Oostpool
Weitere Infos siehe auch: https://www.ruhrtriennale.de/de/orfeo
Post an Andre Sokolowski
http://www.andre-sokolowski.de
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