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Premierenkritik

Persönliche

Grenzerfahrungen



Über Grenzen am Schauspiel Leipzig | (C) Rolf Arnold

Bewertung:    



Um sogenannte Grenzerfahrung geht es in dem neuen Abend, den Regisseur Yves Hinrichs und Autor David Lindemann gemeinsam mit Mitgliedern des Leipziger Schauspielensembles und des Theaterjugendclubs „Sorry, eh!“ nach Texten eingerichtet haben. Damit sind nicht nur Grenzen im herkömmlichen Sinn von räumlichen und territorialen Trennlinien gemeint. Es geht auch um Zugehörigkeitsgefühle, identitätsstiftende Abgrenzungen zu anderen und Grenzüberschreitungen. In der Stückentwicklung Über Grenzen berichten also DarstellerInnen dreier Generationen spielerisch von eigenen Erfahrungen, bei denen sie an ihre Grenzen gelangt bzw. diese überschritten haben.

Es beginnt damit, dass Schauspielerin Julia Berke das Horrorszenerio, ohne gültige Papiere an einer Landesgrenze abgewiesen zu werden, aus Sicht einer Schengen-verwöhnten EU-Bürgerin beschreibt. Ist der Kinderpass abgelaufen, kann es einer Familie durchaus mal passieren, am Check-In-Schalter eines Flughafens abgewiesen zu werden. Was innerhalb der EU-Grenzen für uns kaum noch von Bedeutung ist, wird in Zeiten von Grenzabschottungen gegen zunehmende Flüchtlingsströme schon bald wieder zur bitteren Realität. Das allein ist aber nicht die einzige Intension dieses Abends.

Auch wenn das Ensemble performativ und tänzerisch zu Beginn auch mal ein schwarzes Loch darstellt, in dem eine Freiwillige aus dem Publikum verschwinden muss, während Schauspieler Hartmut Neuber über die Relativitätstheorie und den sogenannte Schwarzfeldgrenzradius, bei dem sich unter Druck ein Objekt im Weltraum in ein alles verschluckendes schwarzes Loch verwandelt, referiert, geht es im Folgenden vor allem um das Ausloten und Überschreiten ganz persönlicher eigener Grenzen. Das wäre z.B. für Philip Schroeder ein Grenzerfahrungstrip nach dem Vorbild eines Christopher McCandless (bekannt aus Buch und Film Into the Wild) in die Wildnis als totaler Ausstieg aus der Gesellschaft ohne Hintertür. Charlotte Kremberg berichtet von einer Demo gegen Nazis und ihrer Begegnung mit der Staatsmacht in Person der Polizei. Plötzlich hat sie einen brennenden Molotow-Cocktail in der Hand. Wie weit will man gehen für seine Ideale? Brennende Fragen, die im Zusammenspiel mit dem Ensemble und der starken Sound- und Gesangsuntermalung von Musikerin Undine Unger am Keyboard szenisch sehr anschaulich verhandelt werden.

Unter harten Technoklängen wird ein großer Flokatiteppich ausgerollt, auf dem liegend der Älteste des Abends, Schauspieler Andreas Herrmann über die Überschreitung der letzten Grenze spricht. Dazu beschreibt Paul Spiering die biologischen Vorgänge beim Sterben und der Verwesung des Körpers. Aber nicht nur über die Haut als empfindendes Grenzorgan, auch über zwischenmenschliche Grenzen geht es, wenn sich ein Paar (Julia Berke, Hartmut Neuber) über Freiheit, Vertrauen und Kontrolle in ihrer Beziehung streitet. Es werden lauthals Identitätsfragen, gesellschaftliche Normen und Genderwahn diskutiert, bis die Frauen des Ensembles in einem witzigen Westernplot die Herrschaft der Männer mit Spielzeugpistolen beenden. Dazu färben sich Videowand und Flokati unter den Videoprojektionen von Max Vincent Schulze blutrot.

So gibt der Abend Raum für viele weitere grenz- und genenerationsüberschreitende Betrachtungen unseres Lebens. Dabei legt sich das Ensemble mit viel Spielwitz- und -freude ins Zeug, bis am Ende des Stücks der Schauspieler Andreas Herrmann noch einmal über eine für ihn und seinen Beruf sehr wichtige Grenze spricht, die durch den Fall der „vierten Wand“ bedroht scheint. Er bricht hier nochmal eine Lanze für den Schutzraum Bühne, in dem er verabredet lügen, morden und doch auch eine eigene Wirklichkeit zur realen Welt erschaffen kann. Eine allabendliche Existenzbehauptung, mit der man sich diese Welt spielerisch erobern kann. Und auch das zeigt dieser Abend wunderbar.



Über Grenzen am Schauspiel Leipzig | (C) Rolf Arnold

Stefan Bock - 3. Februar 2018
ID 10505
ÜBER GRENZEN (Diskothek, 02.02.2018)
Regie: Yves Hinrichs
Bühne: Yves Hinrichs & Leonie Kramp
Kostüme: Marleen Hinniger
Choreographie: Jana Rath
Video: Max Vincent Schulze
Dramaturgie: Clara Probst
Mit: Julia Berke, Andreas Herrmann und Hartmut Neuber (Mitglieder des Schauspielensembles) sowie Charlotte Kremberg, Philip Schroeder, Paul Spiering, Undine Unger und Marie Schulte-Werning (Mitglieder des Theaterjugendclubs „Sorry, eh!“)
Premiere am Schauspiel Leipzig: 2. Februar 2018
Weitere Termine: 07., 28.02.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-leipzig.de/


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