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Premierenkritik

Zwiespalt muslimisch-deutscher Jugendlicher

Volker Lösch inszenierte NATHAN am Theater Bonn


Nathan am Theater Bonn | © Thilo Beu

Bewertung:    



Ein klassisches Feindbild gibt Orientierung, schafft ein Gemeinschaftsgefühl, mobilisiert Kräfte und Seilschaften. Der Lehrer kann ein solches Feindbild für die Schüler sein, der Jude war über Jahrhunderte ein solches für den Christen, der Islam ist heute ein solches für sogenannte besorgte Bürger wie die Pegida-Bewegung hierzulande. Um die Grenzen und das Für und Wider von Toleranz geht es in Volker Löschs Inszenierung von Nathan frei nach G.E. Lessings Drama von 1783. Auf der Bühne der Bad Godesberger Kammerspiele agieren erregte Gemüter. Es wird gespuckt, geschwitzt und geschrien. Die übertriebene Gestik und Mimik spiegeln dabei eine überhitzte, aktuelle Debatte wider - nämlich jene um Salafismus, Terrorismus und muslimische Flüchtlinge in Deutschland. Gleich zu Beginn entäußert sich ein aufgebrachter Glenn Goltz in der neunten Reihe des Bonner Premierenpublikums. Er ruft Zahlen von getöteten Terroropfern der letzten Jahre aus, wie zuletzt bei den Pariser Attentaten der IS. Auch die Anzeigen von Vergewaltigungsopfern in der Silvesternacht am Kölner Hautbahnhof gegen arabische Männergruppen bleiben nicht unerwähnt. Goltz schließt mit den Worten, dass er nun wirklich Angst habe. Denn auch im Bonner Theater könne eine Bombe hochgehen. Doch seine Flucht geht nach vorne. Auf der Bühne wartet schon ein imaginäres Klassenzimmer mit fremdländisch aussehenden Schülern auf den überdrehten Lehrer. Regisseur Lösch besetzt in seiner Neuadaptation von Lessings Drama zwölf junge Muslime aus Bonn und Umgebung als Chor in einer Parallelhandlung zum eigentlichen Drama: sie sollen Lessings Nathan der Weise lesen. Den „Migrantenkindern“ möge ihre Lektüre westliche Werte des Aufklärungsklassikers vermitteln.



Nathan am Theater Bonn | © Thilo Beu


Der eurozentrisch geprägte Blick des Lehrers und scheinbar zu vermittelnde Maximen deutscher Leitkultur provozieren die Schüler. Sie konfrontieren den überforderten Lehrer mit ihrer eigenen Lebensrealität und werfen ihm schließlich gar die gerade verteilten Reclam-Heftchen an den Kopf. Wie bei einer Explosion zerreißt jetzt die Bühne effektvoll in der Mitte. Das Baumaterial bröckelt und die wichtigsten Figuren aus Lessings Drama Nathan der Weise rollen platziert vor gelben Hintergrund wie in einem aufgeschlagenen Reclam-Heft herein (Bühne und Kostüme: Cary Gayler). Dem Lehrer zur Hilfe kommend, werden die oft gekürzten Szenen im schnellen Tempo vorgeführt. Die aus dem Feuer gerettete Recha (Julia Keiling) dankt ihrem Retter, dem Tempelherren (Jan Jaroszek) überschwänglich und überrascht ihn mit erotischen Avancen. Bernd Braun spricht die Ring-Parabel als weiser Jude Nathan bedeutungsvoll. Er ringt jedoch dabei auch um Atem, als ihm der aufgebrachte Sultan Saladin (Daniel Breitfelder) einen Säbel drohend an den Hals legt. In der Vision Nathans scheint die Konkurrenz der Religionen aufgehoben. Judentum, Christentum und Islam mögen sich seinem Wunsch zufolge in einem Miteinander ergänzen statt gegeneinander zu kämpfen. Kommentare der Muslime unterbrechen, hinterfragen und erweitern die vorgespielten Szenen regelmäßig um eigene Gedanken aus der Jetztzeit. Chorisch konfrontieren die Muslime so stets das vorgespielte Geschehen mit ihrer Lebenswirklichkeit. Behandelt werden eigene Diskriminierungserfahrungen, Salafistenwerbung, islamischer Antisemitismus, das islamische Frauenbild und die Ablehnung von Homosexualität im Islam. Klischeevoll weht auch einmal die Fahne des IS, und es wird in die Menge geschossen und eine Kopf-ab-Hinrichtung zelebriert. Doch auch trotz Arab-Pop und Bauchtanz kippt das Geschehen nie zu sehr in Flachheit über, denn die Muslime berichten authentisch vor dem Hintergrund der Nathan-Geschichte über ihre Ängste und die Beweggründe und Einschränkungen ihrer eigenen Religiosität. Sie sprechen über den Zwiespalt hier geboren und im Islam verwurzelt zu sein.



Nathan am Theater Bonn | © Thilo Beu


Teilweise gehen Hintergründe im Lessing-Drama unter den neuen Akzentsetzungen ein bisschen verloren, so dass etwa das Motiv Saladins für die Befragung Nathans nicht ganz deutlich wird und auch Birte Schrein mit ihrem ausdrucksstarken Spiel zweier unterschiedlicher Charaktere eher für Verwirrung sorgt anstatt die komplexen Beweggründe ihrer Charaktere Sittah und Daja für ihre folgenreichen Handlungen nachvollziehbar werden zu lassen.

Der Konflikt der Weltreligionen wird in Löschs Inszenierung nicht gelöst. Der Lehrer schiebt die ihm in einer zu intoleranten Religion verhafteten Schüler schließlich ab und hinter die Bühne. Er verliest gegen Ende teilweise verständliche, zunehmend jedoch rassistisch werdende Antworten von Bonner Bürgern auf die Frage, ob der Islam denn nun eigentlich zu Bonn dazugehöre. Während er die Antworten zerreißt und auf den Boden wirft, vollführen die übrigen Darsteller unter vielfarbigen Burkas im Hintergrund eine Tanzchoreographie. Irgendwann wird der Lehrer von ihnen umkreist und schließlich selbst verschluckt. Auch er verschwindet unter einer Burka und wird im Tanz ununterscheidbar. Ein finaler Sieg für den Islam? Unter den vielen bunten Burkas bieten die Darsteller mit grazilen und formschönen Bewegungen eine gut aufeinander abgestimmte Choreographie und eine bewegende finale Einlage. Das letzte Wort sprechen danach dann doch die jungen Muslime in einer Ansprache an das Publikum. Sie fragen, wer sie denn nun eigentlich sind und sein wollen – deutsch oder muslimisch oder beides? Die Adaptation lässt verschiedene Stimmen zur aktuellen Diskussion um den Islam, den Terrorismus und Religiosität gewagt und mutig zu Wort kommen und schafft es so effektvoll, dem Drama um religiöse Toleranz ungeahnte neue Akzente abzugewinnen.




Nathan am Theater Bonn | © Thilo Beu

Ansgar Skoda - 18. Februar 2016
ID 9148
NATHAN (Kammerspiele Bad Godesberg, 13.02.2016)
Inszenierung: Volker Lösch
Bühne und Kostüme: Cary Gayler
Kostüm-Mitarbeit: Teresa Grosser
Licht: Max Karbe
Dramaturgie: Stefan Bläske, Nadja Groß und Elisa Hempel
Chorleitung: Tim Wittkop
Besetzung:
Der Lehrer … Glenn Goltz
Die Schüler … Semiha Akyayla, Nima Bazrafkan, Nour-Eddine Harrach, Aykut Ali Ismail Ötün, Sinem Kakalic, Nina Karimy, Marcel Jaschar Markazi Noubar, Jasmin Mourad, Arash Nayebbandi, Mihrab Tunc, Sümeyra Yilmaz und Damon Zolfaghari
Nathan … Bernd Braun
Tempelherr … Jan Jaroszek
Recha … Julia Keiling
Patriarch / Saladin … Daniel Breitfelder
Sittah / Daja … Birte Schrein
Klosterbruder / Derwisch … Manuel Zschunke
Premiere am Theater Bonn war am 13. Februar 2016
Weitere Termine: 19., 24. + 28. 2./ 3., 5., 10. + 17. 3. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de/


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de



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