Benjamin von Stuckrad-Barre´s Suchtbekenntnisse - ein weiteres Mal
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(C) Thalia Theater Hamburg
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Bewertung:
Vor genau einem Monat von Oliver Reese am Berliner Ensemble erstmals aufgeführt, ist Panikherz - die 2016 veröffentlichte Autobiografie von Benjamin von Stuckrad-Barre - nun in einer weiteren Bearbeitung von Christopher Rüping am Thalia Theater Hamburg zu sehen. Ähnlich wie Reese in Berlin stellt Rüping einen kollektiven Benjamin auf die Bühne. Bernd Grawert, Julian Greis, Franziska Hartmann, Pascal Houdus, Peter Maertens, Oda Thormeyer und Sebastian Zimmler teilen sich die Rolle des jungen wie auch des Mitte zwanzig- bis vierzigjährigen Journalisten und Schriftstellers, der mehrere Jahre seines Lebens im Drogenrausch verbrachte und auch an Bulimie litt.
Christopher Rüping taucht aber wesentlich tiefer in die Abgründe dieses „Vollgaslifestyles“ ein. Wie im Buch geht es hier los mit der Ankunft im legendären Hotel Chateau Marmont in Los Angeles, wo Stuckrad-Barre mit Udo Lindenberg, seinem Idol aus Jugendjahren, eincheckt und für ein ganzen Jahr bleiben wird, um runter zu kommen und über sein bisheriges Leben nachzudenken. Panikherz ist dort entstanden. Immer wieder blickt der Autor von hier zurück auf seinen Werdegang, reflektiert seine Medienkarriere und das Abdriften in die Sucht. Auf zunächst leerer Bühne treten Peter Maertens und Sebastian Zimmler im Trockeneisnebel an die Rampe. Zimmler ganz in weiß gibt hier den Hauptpart als aus L.A. zurückschauender Stuckrad-Barre, Maertens wirkt wie eine Art Alter Ego. Ein Überlebender und in die Jahre gekommene Star. Sie sind aber auch ein aneinander gebundenes Zwillingspaar. "Verweile doch! Du bist so schön!" hängt als große Leuchtreklame über der Bühne. Rüping sieht Stuckrad-Barres Leben auch als eine große Wette. Faust und Mephisto in einer Person. Die immer währende Walpurgisnacht eines Duos infernale.
Die Jugend des Pastorensohns, beginnend im Elternhaus in Rotenburg an der Wümme, wird dann vom restlichen Ensemble in Kapuzenpullis und Jogginghosen performt. Pubertäres Gehabe wechselt mit der Verehrung für sein Idol Udo Lindenberg, dessen Musik für Stuckrad Barre zur Initialzündung seines Lebenstraums wird. "Im Licht stehen." Kurz abgehandelt werden auch die ersten Stationen als Musikkritiker beim Nigthlife-Stadtmagazin in Göttingen, als Redakteur des Rolling Stone und der taz in Hamburg. Ein Traum wird war: Jeder Abend ein Spektakel. Rüping inszeniert diesen Beginn atmosphärisch dicht, nimmt Tempo auf, aber auch immer wieder raus, um in ruhigen Momenten den Fokus auf das Innenleben des Autor zu lenken. Das geschieht vorn am Mikrofon. Mikros hängen auch vom Schnürboden. Die Begleitmusik mixt Live-Musiker Christoph Hart. Ein Soundmix aus Technoklängen und Samplings bekannter Songs von Nirvana, Oasis, Blur, Elvis Costello, den Bates, einer Punkband, die heute kaum noch jemand kennt, und natürlich Udo Lindenberg, dessen Musik auch mal lauthals eingefordert wird und der als Double immer stumm anwesend ist.
Eine nicht ganz von Sentimentalität freie Reminiszenz an die Musik der 1980er und 90er Jahre, in denen alles begann, aber auch die Zeit des kalten Neoliberalismus nach der Wende eingeläutet wurde. Stuckrad-Barre liest Brett Easton Ellis und Jög Fauser, Idole, denen er nicht nur im Aussehen nacheifert. Nach dem kometenhaften Aufstieg folgt der Absturz in die Kokain- und Magersucht. Hin und wieder kommt Stuckrad-Barres Erzengelstimme vom Band, und einmal wird sein Besuch bei der WDR-Talksendung "Zimmer frei" in den Bühnennebel projiziert. Da ist der Autor 27 Jahre alt und Götz Alsmann kündigt ihn mit den vielsagenden Worten an: "Was soll aus dem Jungen noch werden? Entweder Weltstar oder Drogensüchtiger." Warum nicht beides? Schnelle Kostüm- und Stimmungswechsel durchziehen den Abend. Das Ensemble stüzt sich in glitzernden Abendroben in die für Rüping typischen Infantilitäten und feiert eine italienische Nacht im Berliner Drogenrausch. Nach der Party folgt der Kater, Kotz-Arien, Klo-Meditationen, diverse Aufenthalte in Suchtkliniken.
Die Rettung kommt von Udo. Das asiatische Double nimmt die vor dem durchdringenden Udo-Blick schützende Brille ab. Stuckrad-Barre kehrt in den Schoß der Familie zurück wie ein verlorener Sohn. Ein wenig pathetisch steht dann nach der Pause Sebastian Zimmler in seinem weißen Anzug an der Rampe und wendet sich direkt ans Publikum, macht Konversation, etwas, was dem monologisierenden Buch in seiner konsequenten Ichbezogenheit fehlt. Er holt Zuschauerinnen in eine Sitzecke mit Plastikpalme auf die Bühne und monologisiert seinen Text zu zweit. In den Arm möchte man ihn hier nehmen. Ein Bild, das für die Liebes- und Anerkennungsbedürftigkeit des Soloalbum-Manns Stuckrad-Barre steht. In L.A. endet eine lange Nacht im Rausch. Was bleibt, ist ein latentes Suchtverlangen nach Action und Ruhm in Kopf und Körper, das nur durch Schlaftabletten ruhig gestellt werden kann.
Rüpings Inszenierung bleibt in den drei Stunden des Abends nah am Text des Autors. Die Dimension einer allgemeingültigen Analyse von Gesellschaft und Pop-Business, die zwischen den Zeilen von Stuckrad-Barres Suchtbekenntnissen steht, vermag aber auch Rüping nicht zu lesen. Stimmungsmäßig erfasst er den Roman allerdings wesentlich besser als Oliver Reese am BE, gerade weil er sich mehr Zeit dafür nimmt. Schauspielfutter für Selbstdarsteller ist Panikherz allemal. Alle bekommen hier ihren kleinen Soloauftritt. Und letztendlich überzeugt auch im Thalia Theater ein spielfreudiges Ensemble, das vom Publikum zurecht dafür gefeiert wird.
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Panikherz am Thalia Theater Hamburg | (C) Krafft Angerer
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Stefan Bock - 18. März 2018 ID 10593
PANIKHERZ (Thalia Theater Hamburg, 17.03.2018)
Regie: Christopher Rüping
Musik: Christoph Hart
Bühne: Jonathan Mertz
Live-Musik: Christoph Hart
Kostüme: Anna-Maria Schories
Video: Su Steinmassl
Dramaturgie: Matthias Günther
Mit: Bernd Grawert, Julian Greis, Franziska Hartmann, Pascal Houdus, Peter Maertens, Oda Thormeyer, Sebastian Zimmler und
Udo Lindenberg-Double (alternierend) sowie Wenyen You / Chen Ding
Premiere war am 17. März 2018.
Weitere Termine: 18., 21., 23.03. / 07., 08., 18.04. / 06.05. / 08.07.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.thalia-theater.de
Post an Stefan Bock
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