„God-
verdomme!“
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(C) Thalia Theater Hamburg
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Bewertung:
Kann man die US-amerikanischen Route 66, auf der in den 1930er Jahren Hundertausende durch die Große Depression und Dürrekatastrophen landlos gewordene Farmer aus dem zentralen Süden in Richtung Westen aufbrachen, mit der Balkanroute, über die heute täglich Tausende von Flüchtlingen nach Westeuropa strömen, vergleichen? Luc Perceval, der Hausregisseur des Thalia Theaters Hamburg legt das in seiner Inszenierung einer Bühnenfassung des 1939 erschienen Romans Früchte des Zorns von John Steinbeck zumindest nahe. Und so ganz von der Hand zu weisen ist dieser Vergleich auch nicht. Natürlich hat die heutige Fluchtbewegung ganz ähnlich geartete Ursachen und ist mitnichten nur eine vom Himmel gefallene Naturkatastrophe, die über die Menschheit hereinbricht wie die biblische Offenbarung des Johannes, auf die der Titel des Romans auch anspielt.
Steinbeck hat den großen Track ins Gelobte Land Kalifornien, wo die Orangenbäume blühen, anhand der Farmerfamilie Joad aus Oklahoma beschrieben, die ökologischen und ökonomischen Ursachen wie Waldrodung, Anbau von Monokulturen und überhöhten Pachtzins aber klar benannt. Im Roman gibt es neben der Kernfamilie eigentlich nur drei Hauptfiguren, die infolge der Ereignisse auf der Reise mit einem alten Lastkraftwagen eine Wandlung erfahren. Das sind der Wanderprediger Jim Casy, der seinen Glauben an Gott, nicht aber an die Menschheit verloren hat, der zornige Joad-Sohn Tom, der gerade aus dem Gefängnis entlassene wurde, wo er wegen Totschlags einsaß, und Mutter Joad, die sich im Laufe des Fahrt als das eigentliche Familienoberhaupt erweist. Antrieb ist allen neben der Hoffnung auf ein besseres Leben vor allem auch ein gewisser Zorn auf die herrschenden Verhältnisse.
Diesen Zorn hat Perceval fast vollkommen weginszeniert, Steinbecks Story damit entpolitisiert und somit jeglicher gesellschaftlicher Zusammenhänge beraubt. Warum diese Familie flieht, erschließt sich ohne die Kenntnis des Romans kaum. Lediglich zu Beginn erzählt Jim Casy (Bert Luppes) von den Sandstürmen und der Verödung der „Dust Bowl“, die die Farmer ihrer Existenz berauben und sie schließlich heimatlos geworden zum Aufbruch nach Westen zwingen. Der Sandsturm oder auch mal endloser Regen werden per Video an die Bühnenrückwand projiziert. Die Familie wirkt zunächst wie ein von einer antiken Tragödie am Boden zerstörter Haufen unter einer Plane, die neben einem kahlen Bäumchen und einem kleinen Pianoflügel zum zentralen Requisit der Inszenierung wird. Mit dieser Plane lassen sich LKW, Zelte und sogar die Großeltern darstellen, denen nach ihrem Tod pathetische Begräbnistableaus und Predigten gewidmet werden.
Neben Dialogszenen, die lose der Handlung des Romans folgen, werden einzelne Passagen und längere Naturbeschreibungen, wie etwa die große Regenflut im kalifornischen Auffanglager für die Arbeitsmigranten, wechselnd von Bert Luppes und Kristof Van Boven als Tom Joad erzählt. Er treibt die Familie immer wieder zum Weiterfahren an, mimt dabei mit dem Fuß stampfend den Anlasser, und alle trampeln dazu auf dem Bühnenboden den Takt der Kolbengeräusche. Ähnliches hatte 2010 auch Armin Petras in seiner Inszenierung am Maxim Gorki Theater Berlin gemacht. Und so erinnert noch einiges von Percevals Regieeinfällen fatal an diese von der Kritik auch nicht gerade mit Lob überhäufte Aufführung, die allerdings näher am Original blieb und vor allem das Gemeinsame recht spielerisch in den Vordergrund rückte.
Gemeinsam ist dem aus Mitgliedern des Thalia Theaters und des belgischen Stadttheaters NT Gent (an dem auch der Münchner Ex-Intendant Johan Simons arbeitet) bestehenden, internationalen Schauspielensemble, dass alle über einen sogenannten Migrationshintergrund verfügen. Und so wechselt die Sprache auch immer wieder von Deutsch in Flämisch, Englisch, Kroatisch oder Russisch. Allerdings kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass das nur vage der Situation der aktuell Flüchtenden entspricht, aber Percevals Idee von einem Theater für das multikulturelle Europa sehr nahekommt. Wie man liest, will der Regisseur seine Pläne ab 2018 am Flämischen Nationaltheater in Brüssel verwirklichen, wird dafür allerdings sein Engagement in Hamburg vorzeitig beenden.
Recht pathetisch geraten Perceval die immer wiederkehrenden Beteuerungen des Reverends, dass er keinen Segen mehr geben könne und den Migranten kaum Trost oder Mut zuzusprechen vermag. Das muss schließlich Mutter Joad (Marina Galic) übernehmen, die neben dem am Megafon fluchenden Bert Luppens noch am präsentesten ist, während von Kristof Van Bovens Tom kaum Impulse kommen und der sich seiner Sünden schämende Onkel John bei Rafael Stachowiak fast zur Witzfigur gerät. Der Gegenwind der „besorgten Bürger“ Kaliforniens schlägt ihnen nur einmal ins Gesicht, indem sie selbst deren Hasstiraden sprechen. Ansonsten ist viel vom Beten, Stehlen und Sterben die Rede. Leise rieseln dazu recht kunstvoll vertrocknete Blätter vom Bühnenhimmel.
Langsam, elegisch zieht der Track der Verlorenen über die Bühne. Die Träume der langsam zerfallenden Familie werden gleich einem großen Lamento Mori in Songs wie "Somewhere over the Rainbow" oder "Summertime and the livin is easy" besungen. Dieses künstliche Weichspülen grenzt fast schon an Leidenskitsch, was sich leider auch bitter rächt. Percevals Versuch, Wirtschaftsmigration damals und heute miteinander zu vergleichen, geht hier nicht eins zu eins auf. Das Treiben auf der Bühne bleibt einem irgendwie fremd. Und so heischen am Ende auch die Figuren, während sich langsam der Eiserne Vorhang senkt, etwas ratlos schauend nach Mitgefühl.
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Früchte des Zorns am Thalia Theater Hamburg | (C) Armin Smailovic
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Stefan Bock - 9. Februar 2016 ID 9124
FRÜCHTE DES ZORNS (Thalia Theater, 05.02.2016)
Regie: Luk Perceval
Bühne: Annette Kurz
Kostüme: Annelies Vanlaere
Video: Philip Bußmann
Dramaturgie: Steven Heene und Julia Lochte
Besetzung:
Kristof Van Boven (Tom Joad)
Marina Galic (Mutter Joad)
Bert Luppes (Jim Casy)
Nick Monu (Vater Joad)
Maria Shulga (Rose)
Rafael Stachowiak (Onkel John)
Premiere war am 23. Januar 2016
Weitere Termine: 13., 23., 25. 2. / 21. 3. / 1., 3., 27. 4. / 29. 5. / 17., 25., 26. 6. 2016
Koproduktion mit dem NT Gent
Weitere Infos siehe auch: http://www.thalia-theater.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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