Perlen vor
die Säue
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Jeder stirbt für sich allein am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Mut zum Widerstand – davon handelt der etwa 600seitige Roman Jeder stirbt für sich allein, den Hans Fallada 1947 kurz vor seinem Tod veröffentlichte. Die Abrechnung mit der Nazi-Diktatur ist einer realen Begebenheit nachempfunden. Sie handelt von einem Ehepaar gesetzteren Alters, Anna und Otto Quangel. Nachdem ihr einziger Sohn im Krieg gefallen ist, verändert sich das Weltbild der Quangels. Anna und Otto verlieren jeden Halt. Sie machen sich die Verhältnisse der vollkommen totalitär beherrschten Gesellschaft bewusst. Leise regt sich in ihnen ein Widerstandsgeist gegen das System. Otto beginnt anonyme Postkarten zu schreiben, in denen er Hitler und die NS-Diktatur anklagt. Anna hilft ihm dabei. Otto legt die Karten heimlich nachts an öffentlichen Plätzen aus. Beide versuchen so im Kleinen zu neuer Würde zu gelangen und gestalten so auch ihre Beziehung zueinander neu.
Sandra Strunz inszeniert die Geschichte um das mutige Ehepaar in der NS-Zeit höchst experimentell, effektbeladen und leider etwas unstimmig. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf tänzerischen Bewegungen. Die Vorführung enthält synchrone Tanzformationen mehrerer Darsteller. Eingeleitet wird das Geschehen vom feierlichen Gesang zweier seitlich platzierter Travestie-Künstler (die Brüder Rainer & Karsten Süßmilch). Sie sind dezent geschminkt und tragen dunkle, mondän glitzernde und bodenlange Kleider. Die beiden Musiker breiten, effektvoll das Drama eröffnend, ihre kunstvoll behangenen Arme wie Flügel aus. Bis zum Schluss bleibt ihre weitestgehend außenstehende Funktion unklar. Sind sie nun Beobachter, stumme Mitläufer, Kommentatoren des Geschehens, oder verkörpern sie den Widerstandsgeist? Travestie war immerhin im Dritten Reich verboten und verfolgt.
Im Zentrum der Drehbühne bewegt sich ein kreisrundes Gebilde aus ineinander versetzt eingefassten Fenstern. Dieses Glasgebilde umgrenzt den Wohnraum der Quangels, in dem sich Sylvana Krappatsch als Anna und Matthias Breitenbach als Otto lebendig winden und austauschen. Sie agieren sozusagen hinter Glas in einem gläsernen Gefängnis zum Reingucken. Es lauert Gefahr. Für die Zuschauer sind sie hier manchmal etwas durch Säulen verdeckt, meistens jedoch gut erkennbar. Es wirkt einigermaßen skurril, wenn Otto in mehreren Szenen seine Frau kopfüber an der Wand aufhängt. Ein anderes Bild verdeutlicht, wie sich die Paardynamik ändert. Hier umarmt Otto seine unter ihm sitzende Anna. Bald gehen Gebärden mit den Händen und Armen beider Figuren ineinander über. Eine schöne Idee für ein Sinnbild des gemeinsamen Schreibens und der gemeinsam entstehenden Kraft.
Alle Darsteller tragen Tattoo-Shirts mit schwarzfarbigen zackigen Motiven (Kostüme: Sabine Kohlstedt). Dies verkörpert eindrucksvoll die quasi auf der Haut eingeschriebenen, finsteren Ideologien. Alois Reinhardt setzt als Obergruppenführer Prall mit einem SS-Mann (Daniel Gawlowski) Dressurakte durch. Beide nutzen eifrig die Mechanismen von Gewalt und Denunziation und die Wirksamkeit der Angst. Selbstherrliche Gesten mit freien Oberkörpern zeugen von ihrem bitteren Kampfgeist und ihrer mitleidloser Durchsetzungsmacht. Die Prahlerei der NS-Männer hat deutliche Längen, wirkt überzogen und oft auch komisch. Die Postkarten werden in Strunz' Inszenierung zu bloßen Papierflugzeugen degradiert, die allesamt plötzlich den übrigen Darstellern zu Füßen fallen. Die Gefahr beim Verteilen dieser Aufrufe zum Widerstand gegen das NS-Regime wird so leider nicht szenisch dargestellt. Dafür nehmen die Verwicklungen anderer Figuren wie etwa von Trudel Baumann (Johanna Falckner), der Schwiegertochter der Quangels, allzu viel Raum ein.
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Fallada legte seinem Roman Gestapoakten zugrunde, die vom realen Protest und Widerstandskampf des Paares Elise Hampel (1903-1943) und Otto Hampel (1897-1943) handeln. Ihrem Widerstand wird in Strunz Inszenierung vor allem in Dialogen miteinander und zuletzt in wortreichen Monologen Ausdruck gegeben. Es wird viel geschrien, und leider gerät das Drama mit dreistündiger Spieldauer deutlich zu lang. Die Vorführung ermüdet bereits in der ersten Hälfte noch vor der Pause. Trotz der interessanten Ideen und rühmlichen Vorlage eine insgesamt viel zu wenig fokussierte Adaption.
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Jeder stirbt für sich allein am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 20. April 2018 ID 10656
JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN (Kammerspiele Bad Godesberg, 13.04.2018)
Regie: Sandra Strunz
Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt
Musik: Karsten Süßmilch und Rainer Süßmilch
Licht: Max Karbe
Dramaturgie: Viola Hasselberg
Besetzung:
Anna Quangel … Sylvana Krappatsch
Otto Quangel … Matthias Breitenbach
Trudel / Eva Kluge … Johanna Falckner
Kommissar Escherich / Kammergerichtsrat Fromm / Dr. Reichardt / Persicke … Wilhelm Eilers
Grigoleit / SS-Mann / Schupo … Daniel Gawlowski
Emil Barkhausen / Karl / Kriminalrat Zott … Holger Kraft
Obergruppenführer Prall / Frau Rosenthal … Alois Reinhardt
Enno Kluge … Rainer Süßmilch
Premiere am Theater Bonn war am 22. März 2018.
Weitere Termine: 21., 26., 29.04./ 23.05./ 10.06.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de/
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