Brecht und
Aischylos
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Die Maßnahme / Die Perser am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Bettina Stöß
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Bewertung:
Der Intendant des Schauspiels Leipzig Enrico Lübbe liebt es groß zu inszenieren - und vorzugsweise mit großen Bürgerchören. In der letzten Spielzeit brachte er mit Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen gleich zwei Werke zum Thema Flucht und Migration an einem Abend heraus. Das erste, nach der griechischen Tragödie des Aischylos ganz klassisch in Szene gesetzt, kontrastierte der Regisseur mit dem aktuellen Text von Elfriede Jelinek, die sich dazu ihrerseits von Aischylos inspirieren ließ. Diesen „dramaturgischen Weg der Doppelbefragung“, wie es auf der Website des Schauspiels Leipzig heißt, setzt der Regisseur nun mit zwei weiteren Texten aus recht unterschiedlichen Epochen der Weltgeschichte fort.
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Seine neue Stück-Kombination Die Maßnahme / Die Perser führt nun wiederum zwei Dichter zusammen, deren Werke vielleicht nicht auf den ersten Blick thematisch verwandt sind. Zum einen ist es wieder der Grieche Aischylos (da bleibt sich Lübbe treu), zum anderen wählt er mit Bertolt Brecht einen Autor, der sich wie kaum ein anderer mit den politischen Fragen seiner Zeit beschäftigt hat und damit natürlich auch Elfriede Jelinek sehr nahe stehen dürfte. Zumindest war die österreichische Dramatikerin auch einige Zeit Mitglied in der Kommunistischen Partei Österreichs, was sie Bertolt Brecht dann sogar voraushat. Brecht begnügte sich mit agitatorischen Lehrstücken wie eben der Maßnahme, für die Hanns Eisler die Musik komponierte. Das Stück hatte 1930 zur Zeit ideologischer Graben- und ganz realer Straßenkämpfe in der Weimarer Republik im alten Gebäude der Berliner Philharmonie seine Uraufführung, die schon damals recht kontrovers besprochen wurde.
Was haben beide Stücke nun, dass sie unbedingt zusammen aufgeführt werden müssen? Abgesehen von den Chören und der Musik Eislers aus der Maßnahme, die dafür sorgt, dass Lübbe neben dem Einsatz eines Bürgerchors auch seine Kooperation mit dem Gewandhaus Leipzig fortführen kann. Rein vom künstlerischen und bühnentechnischen Aufwand her gesehen leuchtet das natürlich nicht ein. Auch hier kann nur ein Blick ins dramaturgische Konzept helfen. Man ist in Leipzig „der Frage nach der Wirkung von politischen Ideen und dem Bewusstsein individuellen Leids“ auf der Spur. Und das „im Spannungsfeld zwischen Humanismus und Ideologie, zwischen der Bedeutung einer Idee und dem Wert des Individuums.“ Ein nach wie vor aktuelles Thema nicht nur auf den Theaterbühnen.
Ein Lehrstück über Ideologie ist Die Maßnahme mit Sicherheit. Es beschreibt die Auslöschung eines Individuums, das aus persönlichen Gründen von den Lehrsätzen der kommunistischen Klassiker und Propagandisten abgewichen ist und damit aus Sicht der anderen den revolutionären Kampf gefährdet hat. Vier Agitatoren, die zu propagandistischer Arbeit von Russland nach China geschickt wurden, verantworten der Tötung eines jungen Genossen vor einem Parteitribunal, das von vornherein schon mit dieser „Maßnahme“ einverstanden ist. Die stalinistischen Schauprozesse lassen grüßen.
Frank Castorf hatte Die Maßnahme 2008 an der Berliner Volksbühne folgerichtig mit Heiner Müllers zeitkritischer Analyse des Brechttextes Mauser kombiniert.
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Aber auch Die Perser sind eine durchaus legitime Gegenüberstellung von politischen Interessen und individuellem Leid. Dabei sollte man allerdings nicht dem Missverständnis erliegen, wie es Durs Grünbein auch in einem Text zu seiner Übersetzung schreibt, Die Perser seien ein „Anti-Kriegsstück“. Zwar geht es hier um die fast völlige Auslöschung des zahlenmäßig weit überlegenen Kriegsheeres der Perser durch die Griechen bei der Schlacht vor Salamis, allerdings wird deren Klagegesang vom Griechen Aischylos auch dafür genutzt, neben dem Schmerz der unterlegenen Perser auch die Hybris ihres Königs Xerxes zu zeigen und damit den Griechen die Überlegenheit ihrer demokratischen Staatsform klar zu machen.
Einerseits Einfühlung in den Feind und andererseits die Begründung eines patriotischen Mythos. Wenn man so will auch eine geschickte Art von Propaganda, für die Aischylos bei den dionysischen Theaterspielen sogar einen Preis erhielt. Es geht also immer auch um die Manipulierbarkeit des Einzelnen in der großen Masse für eine bestimmte politische Idee. Das besitzt mit Sicherheit auch heute noch seine Gültigkeit. Und so kann man sich auch schwer der Wirkung beider Stücke entziehen. Enrico Lübbe weiß das natürlich, lässt allerdings bei seiner Inszenierung aktuelle Bezüge komplett außen vor.
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Die zunächst gezeigte Maßnahme wirkt dabei fast schon wie eine bombastische Rekonstruktion mit modernen Theatermitteln. Brecht’scher Verfremdungseffekt, wohin man schaut. Die vier einheitlich in rote Jacken und blaue Hosen gekleideten Agitatoren (Thomas Braungardt, Anna Keil, Tilo Krügel und Dirk Lange) sitzen zu Beginn schon wie Puppen im Publikum. Masken vor den Gesichtern betonen wie bei Brecht die totale Auslöschung des Individuums. Sie agieren vor einer Wand aus Würfeln, die sich für Türöffnungen, kleine Emporen und einen großen Balkon verschieben lassen. Das kolossale Bühnenbild von Etienne Pluss wird vom Duo fettFilm zusätzlich mit eine Videodopplung der Wand überblendet, in der sich die Würfel wellenartig verschieben, oder auf die Schattenspiele projiziert werden.
Zur recht kraftvoll vom Orchester Leipzig Brass unter der Leitung von Marcus Crome intonierten Musik Eislers singt der Kontroll-Chor vom Rang und klatscht hin und wieder wie bei einem SED-Parteitag. Recht maschinell choreografiert bewegen sich auch die Agitatoren beim Vorspiel ihrer Szenen, in denen sie die Fehltritte des jungen Genossen vorführen. Einzelauftritte wechseln mit Massenszenen, in denen weitere Agitatoren-Avatare aufmarschieren und wie bei einer Kundgebung vom Balkon winken. Das ist natürlich eine recht eindrucksvoll arrangierte, fast schon etwas zu perfekte Theatermaschinerie. Liedtexte wie der Song von Angebot und Nachfrage mit der Textzeile: „Was ist eigentlich ein Mensch?“ oder Brechtzitate wie: „Ändere die Welt, sie braucht es.“ lassen einen dennoch nicht unberührt, stehen aber weiterhin neben der orthodox-sakralen Verteidigung einer unmenschlichen Parteilinientreue, wegen der auch der gefühlsmäßig abweichende Genosse am Ende mit seiner Erschießung einverstanden ist.
Ihrem befehlsgebenden König Xerxes sind auch die Perser bedingungslos in den Eroberungsfeldzug gegen die Griechen gefolgt. Das Wie und die Folgen werden im Stück sehr ausgiebig verhandelt. Das Warum kommt dabei eher zu kurz. Recht kurz macht es auch Enrico Lübbe im zweiten Teil dieses 130minütigen Abends. Lange Namenslitaneien Gefallener muss man nicht über sich ergehen lassen. Auf der nun umgestürzten Wand agieren Hannelore Schubert als klagende Chorführerin der Alten, Wenzel Banneyer mit großer Maske als Xerxes düster orakelnde Mutter Atossa, Michael Pempelforth als Geist ihres Mannes Dareios und Felix Axel Preißler als schlotternder Bote des Übels und schließlich als König Xerxes selbst, der das Ende seines Reiches und die Abwendung der Götter bitterlich beklagt.
Wie in den Schutzflehenden gibt es auch hier wieder einen wohl einstudierter Chor, der der Wucht des Einverständnisses in der Maßnahme die vielstimmige Klage des Verlusts an Menschen gegenüberstellt. Das bleibt vor allem haften - neben dem Schlussbild mit einem Haufen aus Kostümen und Requisiten beider Stücke. Die Reste der Geschichte, über die der gescheiterte König Xerxes ins Dunkel abtritt.
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Die Maßnahme / Die Perser am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Bettina Stöß
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Stefan Bock - 3. April 2017 ID 9956
DIE MASSNAHME / DIE PERSER (Schauspiel Leipzig, 01.04.2017)
Regie: Enrico Lübbe
Musikalische Leitung: Marcus Crome
Orchester: Leipzig Brass (Musiker des Gewandhausorchesters)
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Bianca Deigner
Choreographie: Stefan Haufe
Video: fettFilm (Momme Hinrichs und Torge Møller)
Dramaturgie: Torsten Buß, Clara Probst
Korrepetitor: Francesco Greco
Licht: Ralf Riechert
Ton: Alexander Nemitz
Mit: Wenzel Banneyer, Thomas Braungardt, Anna Keil, Tilo Krügel, Dirk Lange, Michael Pempelforth, Felix Axel Preißler, Hannelore Schubert u.a.
Premiere war am 30. März 2017.
Weitere Termine: 28.04. / 06.05. / 14.06.2017
Eine Koproduktion des Schauspiels Leipzig mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen in Kooperation mit dem Gewandhaus zu Leipzig
Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-leipzig.de
Post an Stefan Bock
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