Düsteres
Psychogramm
einer gespaltenen
Persönlichkeit
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Peer Gynt am Hans Otto Theater Potsdam | Foto (C) HL Böhme
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Bewertung:
Das 1867 von Henrik Ibsen geschriebene dramatisches Gedicht Peer Gynt ist als großes Ichdrama die kongeniale Übersetzung des Faustmotivs in die Gegenwart des modernen Menschen. Nicht umsonst wird es weithin auch als „Faust des Nordens“ bezeichnet. Peer Gynt treibt als einziger Lebenszweck die permanente Sucht nach Selbstfindung und -bestätigung an. Dabei bewegt ihn weniger die Suche nach dem, was die Welt im Inneren zusammenhält, sondern der unbedingte Wille zum Erfolg. Der Außenseiter Peer muss besser sein als alle anderen, die in ihm nur den Verlierer und Träumer sehen. Er ist sich dabei sein eigener Mephisto, eine höchst ambivalente Gestalt, die mit sich selbst ringt.
Ich-sein oder Nicht sein - was Ibsen zunächst in nordische Mythen von Geistern und Trollen verpackt, später mit frühkapitalistischen Motiven des Geld- und Sklavenhandels sowie philosophischen Metaphern von sich häutenden Zwiebeln und Knopfgießern anreichert - ist für Regisseur Alexander Nerlich das Psychogramm einer manischen, tief gespaltenen Persönlichkeit. Und daher begegnet sich der Peer Gynt am Potsdamer Hans Otto Theater auch immer wieder selbst auf der von Wolfgang Menardi als schwarze Bretterschräge gestalteten Bühne, die seitlich mit ebenso schwarzen Plastikplanen abgehängt ist und in deren Mitte immer wieder ein dunkles Loch droht, das mal mit einfachen, schwarzen Brettern oder später mit goldenen Vorhängen umsäumt wird.
Schon in einer surrealen Eingangsszene stehen sich Bernd Geiling als gealterter Peer aus dem 5. Akt und Alexander Finkenwirth als sein junges Alter-Ego und unheimlicher fremder Passagier in grünen Friesennerzen auf hoher See gegenüber. Der Fremde will Peer Gynt nicht die Seele dafür aber dessen Kadaver abhandeln. „Vor allem suche ich den Sitz der Träume.“ Später wird Finkenwirth als junger Peer mit dem unsichtbaren Krummen, dargestellt von Bernd Geiling, erneut mit sich selbst ringen. Der Weg führt außen rum, immer an sich selbst vorbei. Diesen jungen Peer spielt Alexander Finkenwirth als ungestümen Träumer, der sich in seine Geschichten verstrickt und die Hochzeitgesellschaft der schönen Ingrid (Denia Nironen) aufmischt. Von Mutter Aase (Rita Feldmeier) wird er zwar als Lügner beschimpft, sie nimmt ihn aber auch immer wieder gegen die anderen in Schutz. Aus der Enge der spießigen Bretterbudengesellschaft mit Luftballons und Schlauchboothüpfburg, in die er erst unbedingt hinein will, bricht Peer schnell wieder mit der gestohlen Braut aus.
Im ersten Teil des Abends bleibt Regisseur Nerlich ungewohnt lange bei der heimischen Vorgeschichte des Titelhelden und seiner Mutter Aase, bis Peer sie schließlich in seinen Armen mit schönen Märchen in den Himmel wiegt. Er trifft ein schwarz bemaltes Troll-Ballett, wird zum wilden Tanz gebeten und flieht wieder. Mit der Akkordeon spielenden Solvejg (Franziska Melzer) geht Peer in die Wälder und baut sich eine Hütte aus schwarzen Schlauchbooten. Letztendlich verlässt er aber seine Liebe, um in die Welt zu ziehen. Sei dir selbst genug, ist nicht genug für Peer. Das ist äußerst intensiv gespieltes Theater mit einem ausdrucksstarken Alexander Finkenwirth, der bis zur Pause stetig präsent bleibt. Mal ist er feinfühlig Liebender, dann wieder Ego-Rampensau. Die frisch gereimte, mitunter kalauernde Übersetzung von Angelika Gundlach bietet hier und da auch einige passende Anspielungen zum Theater.
Nach der Pause übernimmt Bernd Geiling den Part des nun weit umher und durch Sklavenhandel zu Geld gekommenen Peer Gynt. Ein Lebenszyniker, der mit solariumsgebräunten Bussiness-Chargen (Michael Schrodt, Eddie Irle und Philipp Mauritz in noch vielen weiteren Rollen) an einer Tafel mit schwarzer Plane und Hirschkadaver hockt, und über sein Leben sinniert. Er spielt weiter den „geilen Hahn“, wird von der orientalischen Schönheit Anitra (Denia Nironen) am Gängelband geführt und landet schließlich im Irrenhaus, wo man ihm sein Ich streitig macht. Das ist die wohl stärkste Szene des zweiten Teils, der sonst fast diametral zum intensiven ersten wirkt. Aus dem Loch steigen drei weitere Peers und verwickeln Bernd Geiling in ein wildes Tänzchen des gespaltenen Individuums.
Ein wahrlich faustischer Moment. Den passenden Sound dazu gibt’s von Malte Preuß, der zwischen düsterem Pop, Ambient und Klassik schwankt. Auf schwankenden Planken und Planen bewegt sich auch Peer auf seinem Weg nach Hause, wo er seiner Beerdigung beiwohnt, sein Leben wie eine Zwiebel häutet und unter den Brettern der Welt nur Sand findet. Fast wie im Schnelldurchlauf zieht sein Leben, von dem er glaubte, es ende nie („Man stirbt nicht mittendrin im 5. Akt.“), an ihm vorüber. Doch schon unter der schwarzen Tafel hockt wieder sein jüngeres Alter-Ego, das ihn nicht in Ruhe lässt und schließlich später, wenn er verarmt wieder daheim angekommen ist, als Knopfgießer (Alexander Finkenwirth) einfach als misslungen umgießen will. Erst in den Armen Solvejgs, die ihn in den letzten Traum wiegt, findet der vom eigenen Ich Verfolgte so etwas wie innere Ruhe und ein durchaus bemerkenswerter, gut drei Stunden lang sämtliche Höhen und Tiefen seiner Hauptperson auslotender Abend sein stilles Ende.
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Peer Gynt am Hans Otto Theater Potsdam | Foto (C) HL Böhme
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Stefan Bock - 3. Mai 2016 ID 9289
PEER GYNT (Hans Otto Theater Potsdam, 29.04.2016)
Regie: Alexander Nerlich
Bühne und Kostüme: Wolfgang Menardi
Musik und Sounddesign: Malte Preuß
Choreografische Mitarbeit: Alice Gartenschläger
Dramaturgie: Helge Hübner
Mit: Alexander Finkenwirth, Bernd Geiling, Rita Feldmeier, Franziska Melzer, Denia Nironen, Michael Schrodt, Eddie Irle und Philipp Mauritz
Premiere war am 23. April 2016
Weitere Termine: 7., 18., 29. 5. / 3. 6. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.hansottotheater.de/
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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