Im tosenden
Strom der
Live-Filmbilder-
fluten
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Im Stein am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Ilja Duron
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Bewertung:
„Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!“ beginnt die meisterhafte Erzählung Undine geht von Ingeborg Bachmann, gekürzt abgedruckt im Programmheft zu Im Stein. „O Mensch! Gib acht!“ warnt dasselbe auch im Einband poetisch mit Nietzsches Trunkenen Lied. Hilflos ausgeliefert sind die Zuschauer in der Tat über dreieinhalb Stunden verwirrenden Nachtgedanken vielzähliger, gesellschaftlicher Randexistenzen. Denn der 550seitige, mehrfach ausgezeichnete Roman Im Stein (2013) des Leipziger Autors Clemens Meyer vermischt Realitätsebenen fortwährend in aufeinander folgenden inneren Monologen.
In seiner ambitionierten, zweiten Regiearbeit für das Stuttgarter Staatstheater nimmt Sebastian Hartmann den Romantitel nun wörtlich, wenn er unmittelbar vor den Augen des Publikums nur wenige Szenen spielen lässt. Denn er siedelt das Geschehen quasi eingesperrt „im Stein“ an - einem rotierenden, selten einsehbaren Kubus, der sich auf einer Drehbühne bewegt. Mittels Kamera wird die darin spielende Handlung live auf die Außenwände des Kubus übertragen. Der kreisende Bau zeigt zu Anfang jedoch noch Szenen vielgerühmter Gemälde von Goya, Caravaggio oder Hieronymus Bosch, bevor in Live-Geschehen überblendet wird. Der Anspielungsreichtum der gewagten Inszenierung eröffnet sich bereits hier.
Ein dreiköpfiges Handkamerateam filmt das Tun innerhalb des Würfels fortan mit schnellen Schnitten, Schwenks, Großaufnahmen, Wischeffekten, Loops, Überbelichtungen, Überlagerungen, Verdopplungen und raschen Perspektivwechseln, so dass einem spätestens nach der Pause schwindelig wird. Bilder, Zeiten und Räume fließen hier schon längst ineinander. Ein ohrenbetäubender Lärmteppich bemüht neben Schreien und Maschinengewehr-Gehämmer, neben Händel und Wagner auch unter anderem Sinéad O’Connors Pop-Klassiker „Nothing compares to you“.
Nur in Ansätzen scheinen Rollen festgelegt, da die Darsteller oft mehrere verkörpern. Die Geschichte verortet sich im Eros-Center und verschränkt im sogenannten ältesten Gewerbe der Welt verschiedene Schicksale. Manolo Bertling trägt als Engel schwarze Flügel am Rücken und wirkt wie die unheilvolle Doppelgänger-Vision aus dem 2015 oscarprämierten Filmdrama Birdman. Er zitiert die Sage von Orpheus, der einst in die Unterwelt reiste, um seine Geliebte Eurydike zu retten. Angedeutet werden Machenschaften ominöser Zuhälter, Freier und Polizisten. Holger Stockhaus fahndet so erst slapstickhaft-ulkig als Ermittler nach Moorleichen, bevor er in einer anderen Rolle den obszönen Radiomoderator Ecki gibt, der in seiner zynischen Privatradio-Show neueste Hurentests und -trends ins Mikrofon plaudert. Sein Studiogast ist dabei der Alte vom Berg (Horst Kotterba), ein bademanteltragender Bordellbesitzer. Im labyrinthischen Raum gibt es neben zahlreichen Karikaturen und brutalen Tätern auch bemitleidenswerte Opfer. So sucht ein Vater verzweifelt nach seiner verschollenen Tochter. Sandra Gerling spielt die minderjährige Zwangsprostituierte, die ihre Situation mit Comic-Geschichten zu vergessen versucht. Doch erst sehr spät kommen auch Prostituierte selbst zu Wort, wenn sie unverblümt über ihren Job als Lustobjekte sprechen. Birgit Unterweger führt so minutenlang als namenlose Prostituierte ihre Service-Dienstleistungen und Sexualpraktiken aus. Erst in dieser Szene zeigt sich zu guter letzt das versammelte Ensemble, vorne an der Rampe.
Momente wie diese, die Gefühlsechtheit bei den Sexualdienstleistungen in Frage stellen, erzeugen Spannung. Leider gibt es nur wenige berührende und packende Szenen, etwa wenn Sandra Gerling lautstark eine Mannschaft von Disney-Comicfiguren als ihre Freunde begreift oder mit gebrochener Stimme den Beatles-Song „The Long and Winding Road“ singt. Auch Abak Safaei-Rad hat starke Auftritte, u.a. als exotische Bordell-Schönheit Salomos Hohelied rezitierend. In der Flut an Verweisen gehen Meyers Anspielungen auf den real existierenden Sachsensumpf leider ein bisschen unter - einem bis heute nicht ganz geklärten Skandal um Zwangsprostitution Minderjähriger, in den Polizei, Justiz und Politik unheilvoll verstrickt waren. Hintergrundinfos gibt hier jedoch das insgesamt recht lesenswerte Programmheft.
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Im Stein am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Ilja Duron
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Ansgar Skoda - 1. Mai 2015 ID 8609
IM STEIN (Schauspiel Stuttgart, 23.04.2015)
Regie/ Bühne: Sebastian Hartmann
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht/ Video: Voxi Bärenklau
Schnitt: Merten Lindorf
Dramaturgie: Katrin Spira
Mit: Manolo Bertling, Sandra Gerling, Manuel Hader, Horst Kotterba, Janina Kreß, Christian Kuchenbuch, Manja Kuhl, Abak Safaei-Rad, Holger Stockhaus und Birgit Unterweger
Live-Kamera: Jochen Gehrung, Julian Marbach und Matthias Maciej Rolbiecki
Ton-Statisterie: Sebastian Kiefer, Arife Konrad und Björn Lorenz
Uraufführung war am 18. April 2015
Weitere Termine: 3., 10., 21. 5. / 11. 6. 2015
Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-stuttgart.de
Post an Ansgar Skoda
http://www.ansgar-skoda.de
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