Gespenstische
Parabel
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Robert Höller als Mogul Max in Draußen rollt die Welt vorbei in der Werkstatt am Theater Bonn | Foto (C) Thilo Beu
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Bewertung:
In der Anonymität unserer Großstädte sterben immer wieder Menschen alleine in ihren Wohnungen und werden erst Jahre später entdeckt. Diese Isolation und Vereinsamung menschlichen Lebens war der Ausgangspunkt für Draußen rollt die Welt vorbei. Das tragikomische Drama vom jungen Schweizer Lukas Linder wird nun von Mina Salehpour temporeich mit hintergründigem Witz und einem gut aufgelegten Ensemble am Theater Bonn uraufgeführt. Skurrile Charaktere agieren pointiert mit oft punktgenauen Mono- oder Dialogen, ohne dass die Bedeutung ihrer Figuren für die obskure Handlung klar erkennbar herausgearbeitet wird: Ein Pizza-Karton spricht eingangs mit Nelly (ausdrucksstark: Laura Sundermann), einer vereinsamten und auf der Couch gestrandeten Existenz. Der Pizzakarton bittet Nelly mit der Stimme ihres Zwillingsbruders Franz, diesen zu besuchen. Überrascht von der plötzlichen Initiative eines Kartons verlässt Nelly dann tatsächlich ihr abgewetztes Sofa und gelangt zur mehrebigen Wohnanlage, in der Franz lebt. Hier bleibt dann das eingangs mit Pizzastücken erprobte Maß an Absurditäten erhalten. Alle Bewohner des Hauses reden unaufhörlich von Franz und suchen seine Nähe. Doch Nelly findet ihn nicht. Allmählich kommt sie der Wahrheit auf die Spur.
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Bernd Braun als Herr Schreck, Ursula Grossenbacher als Adele Napf-Günsterloh und Robert Höller als Mogul Max (von links nach rechts) in Draußen rollt die Welt vorbei in der Werkstatt am Theater Bonn | Foto (C) Thilo Beu
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Theaterbesucher sollten eine gewisse Frustrationstoleranz gegenüber erst konstruiert, dann jedoch durchaus originell anmutenden Wendungen mitbringen. Nichts erscheint sicher, und die einzelnen Akteure übertreffen sich geradezu in ihrer köstlichen Absurdität und Gefangenheit in ihrer skurrilen Welt. Draußen rollt die Welt vorbei handelt vom Umgang der Charaktere mit dem Tod, der Sehnsucht nach Nähe und dem Wunsch nach Ordnung. Alle ihre Bestrebungen verlieren sich aber in einem hoffnungslosen Kreisen um Franz, dem Kristallisationspunkt der eigenen Fiktionen.
Auch Nelly hat ihr Bild von Franz aus Kindertagen. Dies ist durchaus nicht positiv, somit ist sie umso mehr überrascht über das ehrfürchtige Huldigen von Franz, das in dem seltsamen, von Speckkäfern heimgesuchten Mietshaus veranstaltet wird. Ein Bewohner, Herr Schreck (Bernd Braun), ist sehr einsam und möchte einfach einen Menschen haben, mit dem er mal ein paar Worte wechselt, einen Kaffee trinkt oder einen kleinen Spaziergang macht, was dann in der Erinnerung eine große Sache wird. Die Dichterin Adele Napf-Günsterloh (Ursula Grossenbacher) findet mit all ihrer mondänen Kapriziosität in Franz einen bewundernden und glühenden Verfechter ihrer Ideen. Weitere Figuren, die sich mit Franz intensiv beschäftigen, sind He (Julia Keiling), die artifiziell-lebensfern und gehemmt-puppenhaft wirkende Tochter der Dichterin, und der Hausverwalter Mogul Max, der ständig auf die Beachtung unsinnigster Regeln drängt und sich um das Image der exklusiven Wohnanlage bemüht (temporeich: Robert Höller). Auch ein Kammerjäger (Alois Reinhardt) kommt hinzu, dessen Beruf bereits Spuren in seiner Sicht auf das Leben hinterlassen hat. Alle diese Figuren richten nun all ihre Wünsche, ihre Bemühungen und ihr Verhalten nach Franz aus, anstatt sich nur um die eigenen Marotten zu drehen, wie noch zu Franz' Lebzeiten.
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Bernd Braun als Herr Schreck, Julia Keiling als He und Robert Höller als Mogul Max (von links nach rechts) in Draußen rollt die Welt vorbei in der Werkstatt am Theater Bonn | Foto (C) Thilo Beu
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Die jeweiligen Akteure verhalten sich aus ihrer Persönlichkeit heraus exakt umgekehrt wie zuvor und kommen somit sehr intensiv in einen vermeintlichen Kontakt mit Franz. Die Inszenierung extrapoliert dies nun ins Fantastische. Hatten die Mitbewohner des Hauses zu Franz' Lebzeiten überhaupt keinen Kontakt mit ihm, so bemächtigen sie sich nach seinem Tod seines Lebens.
Es liegt dem Drama so ein durchaus theoretischer oder mathematischer Gedanke zugrunde. In der Inszenierung sieht der Betrachter nämlich, wie das menschliche Verhalten, welches Ausdruck solcher Einsamkeit ist beziehungsweise dazu führte, dass jemand zwei Jahre tot in der Wohnung liegt, mit Minus-Eins multipliziert ist. Autor Linder und Regisseurin Salehpour haben eine literarische Parabel geschaffen, die strukturell in ihrer Gründlichkeit und exakten Stringenz durchaus dem mathematischen Begriff der Parabel entspricht: Eine Parabel entsteht beim Schnitt eines geraden Kreiskegels mit einer Ebene, die parallel zu einer Mantellinie verläuft und kann daher als Ellipse angesehen werden, bei der einer der beiden Brennpunkte im Unendlichen liegt. Für das Theaterstück muss hier nur das Wort „Schnitt“ durch „Leben“, „Kreiskegel“ durch „Akteur“, „Ebene“ mit „Sterben des Franz“ ausgetauscht werden. Die Begriffe Parabel und Unendliches kann man jedoch sogar belassen. Tragikomisch, skurril und sehenswert.
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Premierenapplaus in der Bonner Werkstatt von „Draußen rollt die Welt vorbei“ mit Ausstatterin Maria Anderski, Autor Lukas Linder und Regisseurin Mina Salehpour | Foto (C) Ansgar Skoda
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Ansgar Skoda - 15. April 2016 ID 9255
DRAUSSEN ROLLT DIE WELT VORBEI (Werkstatt, 14.04.2016)
Regie: Mina Salehpour
Bühne und Kostüm: Maria Anderski
Licht: Lothar Krüger
Dramaturgie: Jens Groß
Besetzung:
Adele Napf-Günsterloh … Ursula Grossenbacher
He, ihre Tochter … Julia Keiling
Nelly … Laura Sundermann
Herr Schreck … Bernd Braun
Herr Kleinmann … Alois Reinhardt
Mogul Max … Robert Höller
Uraufführung am Theater Bonn war am 14. April 2016
Weitere Termine: 20., 23. + 28. 4./ 10. + 31. 5. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de
Post an Ansgar Skoda
http://www.ansgar-skoda.de
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