Familienaufstellung
mit Hindernissen
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Der letzte Bürger von Thomas Melle am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Jede Familie hat ihre eigenen Dynamiken, ihre stillschweigenden Gesetzmäßigkeiten, Konflikte und Tabus. Doch was passiert, wenn eine zentrale Person in der Familie diese ganze soziale Konstruktion der Zugehörigkeit in Frage stellt? Welche Konsequenzen hat es, wenn diese Person sogar die nahesten Verwandten über die tiefe eigene Verstricktheit in einem totalitären Staatsapparat im Dunkeln lässt? Ein Vater (Wolfgang Rüter) liegt im Sterben, und seine Kinder und Enkelkinder reisen an, um ihn ein letztes Mal zu sehen. Er hat sich von seinen Kindern entfremdet, was nicht nur an einer wachsenden oder auch nur vorgetäuschten Demenz zu liegen scheint. Welten trennen den starr vor sich hin sinnenden Vater und seine Kinder. Verstirbt mit dem Vater möglicherweise der letzte DDR-Gläubige?
In Thomas Melles am Theater Bonn uraufgeführtem Der letzte Bürger spielt in das private Familiengeschick stets eine politische Ebene hinein. Das Drama behandelt mit dem Niedergang der DDR verlorene Utopien einer vorangegangenen Generation. Ein Vater, der mit seinem Leben abgeschlossen zu haben scheint, wird heimgesucht und mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Neben die vom Vater verklärte politische Vergangenheit kündigt sich eine neue, aber nicht minder brutale Gegenwart in der Politik an. Am Rand der Bühne vorgeführte Videoprojektionen verkünden die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten. Die Enkelkinder kommentieren die Wahl genüsslich, indem sie noch ungläubig staunend die Dynastie eines wahren Horrorclowns ausrufen.
Die jüngere Generation erwartet sich von der Politik nicht mehr allzu viel, da sie ohnehin kaum Hoffnung hat, Einfluss nehmen zu können. Tilman Clarenbach (Daniel Gawlowski) besucht den Großvater nur widerwillig. Er starrt viel lieber fortwährend auf sein Smartphone. Voller Herzblut gibt er sich seinem oberflächlichen Selfie-Wahn hin, in den er gerne auch seinen Großvater als Nebenschauplatz einbaut. Auf der Bühne können alle zetern und sich angiften, Tilman Clarenbach erlebt seine eigenen großen Dramen zur Gänze vertieft im Gerätemodus. Es gibt auf der Bühne sonst jedoch auch nicht allzu viel, was er verpassen könnte, obwohl sich die anderen Figuren oft im großen Gestus sichtlich bewegt in Szene setzen.
Neben angestrengt wirkende Anklagen in verschiedenste Richtungen tritt eine übertriebene Perspektivenaufsplitterung. Eine Figur wird so beispielsweise auch mal von zwei oder mehr Darstellern gespielt. Die Figuren sprechen oft mit starrem Blick zum Publikum hin. Eine Figuren- und Plotentwicklung lässt sich hier nur schwer erahnen. Konflikte werden trotzdem bis zum Exzess aufgeladen. Es wird geschrien und sich auf der Bühne auch mal gekugelt oder geprügelt. Sophie Basse windet sich in der Rolle der Tessa Clarenbach gar hysterisch auf dem Boden, um sich so allem familiären Taumel geschwind zu entziehen.
Wo fängt es an? Diese Frage wird in dem Drama immer wieder gestellt. Vielleicht ist ja alles nur Schall und Rauch? Nicht nur in vorgeführten Videosequenzen, die eine Vergangenheitsebene veranschaulichen sollen, wird jedenfalls – wie einst in den Fassbinder-Filmen der 1970er Jahre – voll geheimnisvoll-enthobener Eleganz sehr viel geraucht.
Während Alice Buddeberg mit Thomas Melles Bilder von uns 2016 eine spannende, sensible und höchst sehenswerte Uraufführung am Theater Bonn inszenierte, wirkt Der letzte Bürger an Konflikten und Spannungen sichtlich überladen. Auch die Mehrfachbesetzung der Figuren mit unterschiedlichen Darstellern trägt zur allgemeinen Verwirrung bei, anstatt den familiären Konflikt zu erhellen oder eine erkenntnisfördernde Metaebene reinzubringen. Das Potenzial des starken Darstellerensembles und die Beobachtungsgabe des gefeierten Autors von Die Welt im Rücken (2016) hätten sicher besser ausgeschöpft werden können.
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Der letzte Bürger von Thomas Melle am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 9. Februar 2018 ID 10509
DER LETZTE BÜRGER (Kammerspiele Bad Godesberg, 31.01.2018)
Regie: Alice Buddeberg
Bühne: Cora Saller
Kostüme: Emilia Schmucker
Musik: Stefan Paul Goetsch
Video: Joscha Sliwinski
Licht: Sirko Lamprecht
Dramaturgie: Johanna Vater
Besetzung:
Leo Clarenbach … Wolfgang Rüter [im Video Sören Wunderlich]
Tessa Clarenbach … Sophie Basse
Holm Clarenbach … Sören Wunderlich [im Video Hajo Tuschy]
Wiebke Schütz, geborene Clarenbach … Sophie Basse [im Video Lena Geyer]
Paul Schütz … Hajo Tuschy
Jasper Clarenbach … Holger Kraft [im Video Daniel Gawlowski]
Tanja Clarenbach … Birte Schrein
Laura Clarenbach … Lena Geyer
Tilman Clarenbach … Daniel Gawlowski
Lupo (Luise Pofalla) … Ursula Grossenbacher / Birte Schrein [im Video: Lena Geyer]]
Martin Winshagen … Holger Kraft
Uraufführung am Theater Bonn: 25. Januar 2018
Weitere Termine: 17., 23.02. / 08.03. / 06.04. / 05.05.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de
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