Spektakel
BIRKENBIEGEN von Oliver Bukowski
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Seit 1946 gibt es nun schon das Theater in Senftenberg. Nach dem Zweiten Weltkrieg durch sowjetischen Kommandantenbefehl erst in einer alten Schulturnhalle eingerichtet, dann in einen eigenen Neubau umgezogen. Vom Theater der Bergarbeiter zur Neuen Bühne Senftenberg. Diese 70-järige Geschichte von Hoch und Tiefs, von Kunst für die Region will gefeiert werden. Die Neue Bühne Senftenberg tut das sieben Wochen lang mit dem Theaterfest WIR SIND 70! Und wie in jedem Jahr besteht dieses Spektakel aus einem Hauptstück für alle, einem Stück eigener Wahl aus einem Angebot von drei weiteren Inszenierungen sowie einem abschließenden Musikteil, der in diesem Jahr ein zünftiger Jubiläumsball ist. Also wie immer Theater ganz im Dienste des Publikums. "Denn schwer ist die Kunst, vergänglich ist ihr Preis" und muss der Mime, (wie es Intendant Manuel Soubeyrand im Grußwort der Neuen Bühne mit Schiller sagt, "seiner Mitwelt mächtig sich versichern, / Und im Gefühl der Würdigsten und Besten / Ein lebend Denkmal sich erbaun."
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Bornholmer Straße in der Neuen Bühne Senftenberg | Foto (C) Steffen Rasche
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Um einen Befehl geht es auch im ersten Stück bzw. um einen, der nicht kommt, was letztendlich durch Eigenentscheidung ein Grenzregime und ein ganzes politisches System ins Wanken und schließlich zum Einsturz bringen lässt. Nach dem Drehbuch zum Film Bornholmer Straße von Rainer und Heide Schwochow haben Rainer Schwochow und der Autor, Regisseur und Schauspieler Jörg Steinberg eine Bühnenfassung für das Neue Theater Senftenberg geschrieben. Ein betongrauer Wachturm steht auf der Bühne, daneben ein rot-weißer Schlagbaum. Zur Einführung bekommt das Publikum einen Polylux-Vortrag zur DDR-Grenzsicherung inklusive sinnvoller Erklärungen zu sinnlosen Abkürzungen aus dem Grenzjargon wie GÜST (Grenzübergangsstelle) PKE (Passkontrolleinheit) oder OLZ (Operative Leitzentrale).
Vorschriften sind hier alles, und so wird auch der illegale Grenzübertritt eines Hundes (leibhaftig auf der Bühne) penibel protokolliert. Die Herren in Uniformen der Grenztruppen und des Zolls machen ihren Dienst oder sitzen in der Kantine, die die Drehbühne hinter dem Wachturm freigibt. Hier ereilt sie auch der berühmte Schabowski-Spruch auf der Pressekonferenz am 9. November 1989, der den Stein und anschließenden Fall der Mauer ins Rollen bringt. Kommen anfangs nur einzelne Berliner zum Grenzübergang an der Bornholmer Brücke, die man noch barsch wegschicken kann, werden es bald mehr, und die Stimmung vor wie hinter dem Schlagbaum eskaliert zusehends. Animositäten zwischen Parteisekretär, Sicherheitsoffizier und diensthabendem Leiter der GÜST machen die Lage der Offiziere, die auf Order von oben warten und sichtlich mit den Ereignissen überfordert sind, nicht einfacher.
Parteihörige und Hardliner, die zur Waffe greifen wollen ("Das haben wir doch hier alles aufgebaut.") gegen Zweifler und Besonnene wie den Oberstleutnant Harald Schäfer (Friedrich Rößinger), der sich eine telefonische Abfuhr nach der anderen beim Oberst der Leitzentrale (Heinz Klevenow) abholt. Dieser sitzt trinkend am Rand der Bühne vor einem Krenz-Portrait an der Wand wie der bürokratische und mit seinem Schreibtisch verwachsene Kentaur aus Heiner Müllers Wolokolamsker Chaussee. Die Befehlskette ist abgerissen, das Vertrauen in die Führung erschüttert. Letztendlich ist die Maueröffnung hier lediglich eine Verzweiflungstat eines von seinen Befehlshabern alleingelassenen Mannes, der sich von ganz menschlichen Skrupeln geleitetet der übermächtigen Stimme des Volkes und somit dem Lauf der Geschichte ergibt.
Das Stück spielt den Film so gut es geht nach mit witzigen Nebenhandlungen zwischen den Offizieren innerhalb des Kantinentrakts und dramatischen Szenen vor dem Schlagbaum. Das Volk ruft aus dem Zuschauerraum "Wir wollen raus!", und die bewaffneten Organe hinterm Schlagbaum schieben sich die Verantwortungen gegenseitig zu. Das zumindest kann die recht einfach gestrickte Inszenierung von Sonja Hilberger nachvollziehbar vermitteln. Wirklich ergreifend wird es nur, wenn unter den vor der Grenze Wartenden eine Mutter (Catharina Struwe), die zu ihrer Tochter nach West-Berlin will, den Uniformträgern ihr Herz und ihren Frust über die Zustände ausschüttet.
Bewertung:
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Birkenbiegen in der Neuen Bühne Senftenberg | Foto (C) Steffen Rasche
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Von der gesamtdeutschen Geschichtsstunde zur regionalen geht es im zweiten Teil des Abends, wo man neben der von Esther Undisz zusammengestellten Textcollage Der Senftenberger Weg und dem Flüchtlingsdrama Phantom (Ein Spiel) von Lutz Hübner noch ein Auftragswerk für die Neue Bühne des aus der Lausitz stammenden Dramatikers Oliver Bukowski sehen kann. Birkenbiegen handelt von einer Senftenberger Familie mit der verwitweten Mutter Ruth (Sybille Böversen) und ihren beiden Töchtern Sabine (Eva Geiler) und Vera (Nicole Haase). Die eine ist nach der Wende mit ihrem Mann in den Westen gegangen und hat Karriere als IT-Spezialistin gemacht, die andere ist daheim (oder ostdeutsch: zuhause) auf der Scholle geblieben und durchlief mit ihrem Mann nach der Entlassung über eine Vielzahl von Jobs und Geschäftsideen alle Tiefen der neuen kapitalistischen Grundordnung. Nun soll ein gemeinsames Generationenprojekt auf eigenem Seegrundstück neuen Auftrieb für die Zukunft geben. Dazu kehrt das Westpaar mit Tochter Ruby (Katrin Flüs) aus dem Schwabenländle in den Osten zurück.
Oliver Bukowski, 1994 mit dem derben Mundart-Schwank Londn-L.Ä.-Lübbenau bekannt geworden, hat eine, wieder im regionalen Dialekt gehaltene und für ihn typische schwarze Komödie geschrieben, in der es bei sich zuspitzender Dramatik nicht nur verbal zur Sache geht. Dementsprechend lebendig inszeniert auch Regisseurin Samia Chancrin auf der länglichen Bühne des Studios. Ein kleiner Podest, der wie eine Tagebaulore auf Rädern über die Bühne geschoben werden kann, trägt Umzugskisten, wird zur Autofahrt in den Osten oder einer Floßfahrt auf dem See umgerüstet. Immer mit Handyfilmbegleitung der 17jährigen Tochter, die die Rückkehr in den Osten wie in einem Abenteuerfilm dokumentieren will.
Sabine und ihr Mann Volker (Daniel Borkwardt) sind im Westen nicht wirklich angekommen. Diffuse Ängste stören die "Life-Work-Ballance", also entschließt man sich für ein Reset und wirft den angehäuften Wohlstands-Müll wie einen "guten Schiss am Morgen" in den Container. Aber im Osten stößt man neben der zurückgebliebenen Familie auch auf die unverarbeitete Vergangenheit. Da prallt nun westliche "Powerpoint-Mentalität" auf die des "Еbay-Powersellers" Ost. Auch bei Vera und ihrem Mann Peter (herrlich original: Gastschauspieler Michael Kind), der nach jedem Bier eine neue Idee rülpst, wie die taffe Großmutter Ruth sagt, läuft die Beziehung nicht mehr besonders gut. Vera hat Haus und Grund für Hypotheken an die Bank verpfändet, und das gemeinsame Seeufer-Projekt scheitert am Schild "Вetreten verboten"
Man schwankt zwischen Nostalgie und Bewegung, erstarrt aber im eigenen Unvermögen, sich den Problemen zu stellen. Sogar Sabines Kindheitserinnerung - die sich biegenden aber nicht brechenden Birken - hat Paul abgeholzt. Ganz anders da Tochter Ruby, für die hinter Verboten erst die Zukunft anfängt. Gemeinsam mit Karl (Sebastian Volk), dem schwulen Sohn der Ostfamilie, erkundet sie die neue Umgebung und geht die aktuellen Probleme wie provinzielle Dumpfheit und prügelnde Nazis ganz offensiv an. Im Soundmix aus Original-Stimmen einer Pegida-Demo rollt sie provokant mit einer Deutschlandfahne als Burka über die Bühne. Das geht natürlich nicht gut. Erst im Krankenhaus findet die heillos nach mehreren Besäufnissen zerstrittene Familie wieder zusammen.
Was ist Heimat, und wo ist man zuhause? Das sind die Fragen, die Oliver Bukowski in diesem Stück stellt. Mit der Großmutter Ruth schafft er eine Figur, die unbeirrt mit ungeschönten Sprüchen den Finger in die offenen Wunden der anderen legt. Haltung ist ihr Credo und das ihres verstorbenen Mannes, dem sie schon mal im Zwiegespräch am Grab „noch ne Kanne“ aus dem Flachmann gönnt. Ruth nimmt hier im wahrsten Sinne des Wortes kein Blatt vor den Mund. Die Hoffnung sind die Kinder, die am Ende eine Utopie eines geschütztes Lebens im Natur-Biotop einer Insel in der neuen Seenlandschaft suchen. Zurecht sehr viel Beifall und Bravo-Rufe für das Ensemble und die gelungene Inszenierung.
Bewertung:
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Stefan Bock - 2. Oktober 2016 ID 9595
WIR SIND 70! (Neue Bühne Senftenberg, 01.10.2016)
Das Fest.
Bornholmer Straße
Regie: Sonja Hilberger
Bühne: Ulrike Reinhard
Kostüm: Jenny Schall
Dramaturgie: Maren Simoneit
Besetzung:
Harald Schäfer, Oberstleutnant ... Friedrich Rößiger
Ulrich Rotermund, Oberleutnant ... Tom Bartels
Peter Arndt, Major ... Robert Eder
Burkhard Schönhammer, Hauptmann ... Daniel Borgwardt
Michael Krüger, Zollrat ... Wolfgang Tegel
Ilona Krüger, Zollsekretär ... Sybille Böversen
Heinz Wachholz, Oberleutnant, Lageroffizier ... Jan Schönberg
Monika, DDR-Bürgerin ... Catharina Struwe
Jens Rambold, Feldwebel ... Sebastian Volk
Hartmut Kummer, Oberst ... Heinz Klevenow
Achim Zartmann, Oberleutnant ... Simon Elias
Ines, DDR-Bürgerin ... Eva Geiler
Manfred, DDR-Bürger ... Ingo Zeising
Ursula, DDR-Bürgerin ... Nadine Ehrenreich
Greta, Haralds Frau ... Marianne Helene Jordan
Birkenbiegen (UA)
Regie: Samia Chancrin
Bühne: Ulrike Reinhard
Kostüm: Jenny Schall
Dramaturgie: Igor Holland-Moritz
Besetzung:
Sabine Michel ... Eva Geiler
Volker Michel, ihr Mann ... Daniel Borgwardt
Ruby Michel, ihre Tochter ... Katrin Flüs
Ruth Michel, ihre Mutter ... Sybille Böversen
Vera Böttcher, ihre Schwester ... Nicole Haase
Karl Böttcher, Veras Sohn ... Sebastian Volk
Peter Böttcher, Veras Mann ... Michael Kind
Premieren waren am 24. September 2016.
Weitere Termine: 7., 8., 14., 15., 22., 29., 30. 10. / 4., 5., 12. 11. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-senftenberg.de/
Post an Stefan Bock
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