Metropole vs. Provinz in den
Stücken Einfach das Ende
der Welt und Widerstand
Ein Vergleich zweier aktueller Livestream-Produktionen
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Während es beim Livestream des Theaterstücks Einfach das Ende der Welt, das am 13. Mai zur Eröffnung des digitalen Berliner Theatertreffens gezeigt wurde, ruckelte und zuckelte, lief tags darauf der Livestream der Theaterfilm-Premiere Widerstand am Schauspiel Leipzig (Regie: Enrico Lübbe) ohne nennenswerte technisch Probleme. Da hatte die sogenannte mal wieder unbeachtete Theaterprovinz klar die Nase vorn und auch künstlerisch und inhaltlich wesentlich mehr zu bieten, als die von der tt-Auswahljury für bemerkenswert erachtete Züricher Inszenierung des Regie-Shootingstar Christopher Rüping.
Ganz fair ist das natürlich nicht, musste das Züricher Ensemble doch tatsächlich live ran, während die Leipziger einen vorproduzierten Film abspielten. Geschuldet ist beides (also Livestream und Theaterfilm) den bestehenden Infektionsverordnungen zur Eindämmung des Coronavirus, die nach wie vor keine Zuschauerpräsenz in den Theatern zulassen, auch wenn hie und da erste Lockerungen verkündet werden. So kann u.a. in Zürich bald schon wieder vor Publikum gespielt werden.
Gemeinsam ist beiden Theaterstücken, dass sie von einer Rückkehr aus der Stadt zur ländlichen bzw. kleinstädtischen Familie erzählen. In Einfach das Ende der Welt von Jean-Luc Lagarce (in Frankreich viel gespielter Dramatiker, in Deutschland eher durch die Verfilmung des Stücks von Regisseur Xavier Dolan bekannt) zieht es den sterbenskranken schwulen Schriftsteller Louis zum Abschiednehmen zur in der Provinz gebliebenen Familie. Zur Entstehungszeit des Stücks Anfang der 1990er Jahre war AIDS noch großes Thema. Lagarce war selbst HIV-positiv und starb 1995. Es geht hier aber eher um eine Art Generalabrechnung der Familie mit dem Abtrünnigen. Ein emotionales Scherbengericht, an dessen Ende sich die übergroße Distanz umso stärker manifestiert.
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Widerstand von Lukas Rietzschel am (C) Schauspiel Leipzig
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In Widerstand, vom im ostsächsischen Görlitz lebenden Autor Lukas Rietzschel für das Schauspiel Leipzig geschrieben, ist die junge Medizinstudentin Isabell noch recht lebendig, kehrt aber aus Leipzig in die im Sterben befindliche heimatliche Provinz zurück, um dem Vater Frank bei der Pflege der kranken Mutter zu helfen. Rietzschel hatte bereits in seinem Roman Mit der Faust in die Welt schlagen aus der sächsischen Provinz berichtet. Die zugegeben etwas zu holzschnittartig geratene Geschichte zweier Brüder wurde mehrfach (u.a. in Halle und Dresden) für die Bühne adaptiert.
In seinem ersten Theaterstück wird der Blick des Autors zwar nicht wirklich differenzierten, lässt aber immer noch sehr aktuelle Themen wie bewaffnete Radikalisierung, braune Flecken in der Polizei und wachsende Perspektivlosigkeit in ländlichen Gegenden wieder in den Fokus rücken. Mit dem Problem der Shrinking Cities (also schrumpfenden Kleinstädte) hatte sich bereits 2010 ein Projekt junger AutorInnen am Maxim Gorki Theater beschäftigt. Besonders im Großraum Leipzig dürfte es nicht sehr viel anders aussehen. Boomtown-Ost Leipzig und alte Kulturstadt Zürich gegen den Rest der Welt. Zwei recht unterschiedliche Stadt-Land-Betrachtungen also in unmittelbarem Vergleich.
Beide Inszenierungen verorten ihre Handlungen aber so konkret nicht, was zumindest eine gewisse Allgemeingültigkeit solcher Rückkehrerzählungen erkennbar machen will. Der wirkliche Unterschied liegt aber in der emotionalen Gefasstheit der verschiedenen Familienmitglieder. Die Kleinfamilie ost bestehend aus Vater Frank (Tilo Krügel) Mutter Manuela (nur in den Gesprächen anwesende stumme Leerstelle) und Tochter Isabell (Volksbühnenimport Teresa Schergaut) hat sich eher wenig zu sagen, während im Zürcher Pendant fast pausenlos aneinander vorbei geredet wird, wobei man sich in ständigen Vorwürfen ergeht und seine jeweilige Lebensführung nicht entsprechend geschätzt fühlt.
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Regisseur Rüping stellt zunächst nur seinen Hauptprotagonisten (Benjamin Lillie, als Schauspielstudent und Ensemblemitglied auch schon am damaligen Centraltheater Leipzig unter Intendant Sebastian Hartmann engagiert) in den Mittelpunkt. Lillie bestreitet den ersten Teil vor der Pause sozusagen im Alleingang vor der selbstbedienten Livekamera. Ein improvisiert wirkendes Solo des potentiellen Heimkehrers mit anschließendem minutenlangen Kameraschwenk über das Bühnenbild, das die ehemalige heimatliche Wohnung darstellt und in Erinnerungsstücken der Kindheit untermalt von Popmusikklängen und Schlagzeugrhythmen des Musikers Matze Prölloch schwelgt.
Nachdem sich nach der Pause der Bühnenraum geöffnet hat, agieren die DarstellerInnen der Familie (im weiteren Ulrike Krumbiegel als Mutter, Wiebke Mollenhauer als Schwester, Nils Kahnwald als Bruder und Maja Beckmann als Schwägerin) aufgesetzt ungelenk, was den Eindruck der Distanz vermitteln soll. Das improvisiert wirkende Spiel, was immer mehr zum Markenzeichen des bereits zum dritten Mal zum Theatertreffen eingeladenen Christopher Rüping geworden ist, distanziert auch das Publikum am Bildschirm. Unvermittelte Gefühlsausbrüche geraten zum reinen Emo-Terror. Nur in leiseren Momentaufnahmen und Dialogen gewinnt die Inszenierung etwas an Intensität. Sehr schön hier ein Kussszene durch Plastikfolie mit Benjamin Lillie und Musiker Matze Prölloch.
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Einfach das Ende der Welt am Schauspielhaus Zürich | (C) Diana Pfammatter
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Enrico Lübbe, Leipziger Intendant und Regisseur von Widerstand, erzeugt die Distanz vor allem durch Verfremdung. Ein zwar recht altes Theatermittel, aber trotzdem immer noch wirkungsvoll. Die SchauspielerInnen wirken in starker Maske, mit Perücken und zum Teil ausgepolsterten Kostümen (Teresa Vergho) fast puppenhaft. Auch die sparsame Drehbühne von Hugo Gretler, auf der lediglich Tisch, Stühle oder Pappkartons zum Einsatz kommen, vermeidet jeden Anflug von zu viel Realismus. Dennoch lässt man sich gerne von Rietzschels Text in das Geschehen hineinziehen. Auch hier leiden alle an der zwischenmenschlichen Kälte, an einer gewissen Unzufriedenheit, die sich am falschen Job, an einem Gefühl mangelnder Zukunftsperspektive und Einsamkeit festmachen lässt.
Vater Frank, Versicherungsvertreter wieder Willen, fährt als einsamer Wolf nachts durch leere Gewerbegebiete und sucht bei der Physiotherapeutin Peggy (Annett Sawallisch) fehlende körperliche Nähe. Mit dem Nachbarn und Polizisten Steffen (Dirk Lange) sitzt Frank fast täglich in der Garage beim Bier und philosophiert vom titelgebenden Widerstand gegen die Verhältnisse, die aus allem nur den Wert schöpfen wollen. Erst nach und nach wird klar, was er darunter wirklich versteht. Frank hat dem Innenminister bereits eine Plastikwaffe geschickt und sich über Steffen eine Armbrust besorgt. Neben kurzen Dialogen taucht der Text immer wieder tiefer in die Gedankenwelten der Tochter, die sich irgendwie weiter für die Daheimgebliebenen verantwortlich fühlt, und des Vaters ein. Viele von Franks Andeutungen, auch der Unmut über die Sinnlosigkeit rechter Einzel- und Schulattentäter, oder Gedanken, die Frank nachts am Computer in Internetforen tippt, zeugen von viel Frust auf den Staat. In seine recht diffusen Pläne zieht er auch den immer klammen Amazonboten und ehemaligen Schulfreund seiner Tochter Sebastian (Denis Grafe) hinein.
In Leipzig spielt die Musik eine gestaltende Rolle. Peer Baierlein arbeitet wie bereits in 89/90 mit musikalische Textcollagen, Wiederholungen und Überblendungen von Textpassagen. Die Rhythmik bricht die Starre des Gesagten auf. Filmisch ist das Kammerspiel mit Hand- und Standkamera gedreht. Auch hier kommen Überblendungen und Schnitte zum Einsatz, werden digitale Möglichkeiten ästhetisch genutzt, was ein wesentlich dichteres Bild ergibt als die für den digitalen Einsatz notgedrungen durch spezielle Livekameraperspektiven aufgepeppte Zürcher Bühneninszenierung, die dadurch nicht wirklich gewinnt. Auch inhaltlich ist der Leipziger Theaterfilm näher an der Gegenwart und heutigen Problemen als selbstgefilmte Versuche, vor Livekamera Emotionen zu erzeugen.
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Stefan Bock - 16. Mai 2021 ID 12914
EINFACH DAS ENDE DER WELT (Schauspielhaus Zürich, 13.05.2021)
nach Jean-Luc Lagarce
Regie: Christopher Rüping
Bühne: Jonathan Mertz
Kostüme: Lene Schwind
Musik: Matze Pröllochs
Licht: Frank Bittermann
Dramaturgie: Katinka Deecke und Malte Ubenauf
Mit: Maja Beckmann, Nils Kahnwald, Ulrike Krumbiegel, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer und Matze Prölloch
Premiere am Schauspielhaus Zürich war am 3. Dezember 2020.
Eingeladen zum Berliner THEATERTREFFEN
Live-Stream auf digital.berlinerfestspiele.de v. 13.05.2021
Bewertung:
WIDERSTAND (Schauspiel Leipzig, 14.05.2021)
von Lukas Rietzschel
Regie: Enrico Lübbe
Dramaturgie: Torsten Buß
Bühne: Hugo Gretler
Kostüme: Teresa Vergho
Musik: Peer Baierlein
Kamera und Schnitt: Kai Schadeberg und Fabian Polinski
Licht: Thomas Kalz
Mit: Tilo Krügel (als Frank), Teresa Schergaut (als Isabell), Dirk Lange (als Steffen), Annett Sawallisch (als Peggy) und Denis Grafe (als Sebastian)
Onlinepremiere des Theaterfilms war am 14. Mai 2021.
Live-Stream auf dringeblieben.de v. 14.05.2021
Bewertung:
Post an Stefan Bock
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