Zum Stellenwert
des Künstlers
und der Kunst
in Krisenzeiten
|
Grafik: Dirk Trageser
|
Bewertung:
Till Eulenspiegel ist der Mann für derbe Späße. Ein schlauer aber auch boshafter Narr, der sich ungesehen des Standes über die Menschen seiner Zeit lustig macht. Seine Zeit war die des ausgehenden Mittelalters, gezeichnet durch eine schwere Depression in der Landwirtschaft und folgenreiche politische Umwälzungen im römisch-deutschen Reich. Eine echte Krisenzeit also.
Geboren vermutlich um 1300 in Kneitlingen am Elm, neigte Eulenspiegel schon in der Kindheit zu Schabernack und hatte auch ansonsten ein recht umtriebiges Wesen, das ihn viel auf Reisen in allerlei Länder führte. Sein ereignisreiches Leben und Sterben wurde in einem um 1515 herausgekommenen mittelniederdeutschen Volksbuch in 95 Kapiteln niedergeschrieben. Ein 96. wurde nachträglich zensiert, was für die allgemeine Derbheit der Geschichten spricht. Über den wahren Autor streitet die Literarturwissenschaft. Man könnte den Eulenspiegel vielleicht auch als Simplicissimus der frühen Bauerkriege bezeichnen. Nur versucht er im Gegensatz zum sich selbst reflektierenden Schelm, der bei Grimmelshausen auf- und absteigend durch den Dreißigjährigen Krieg irrlichtert, sich nach Möglichkeiten aus Politik und allerlei blutigem Händel herauszuhalten.
Auch Bertolt Brecht hat sich in der Mutter Courage bei beiden Narrengeschichten bedient. Sein Vorhaben, ein Eulenspiegel-Drama zu schreiben, blieb wie so vieles bei ihm nur Idee. Nicht so der Schriftsteller, Mitherausgeber der Satirezeitschrift Ulenspiegel und Widerstandskämpfer gegen die Nazis Günther Weisenborn. Seine Ballade vom Eulenspiegel, vom Federle und von der dicken Pompanne ist einer der Texte, die der neuen Freilufttheaterproduktion des aufBruch Gefängnistheaters zugrunde liegen. Natürlich zitiert das Stück Till Eulenspiegel in der Inszenierung von Peter Atanassow auch Brechts Courage sowie Texte zum Eulenspiegel aus Thomas Braschs Prosawerk Kargo, Der Sprung und auch aus dem Roman Till Eulenspiegel von Christa und Gerhard Wolf, deren Buch im Gegensatz zu Brecht/Weisenborn in der DDR 1975 noch zu DEFA-Film-Ehren kam.
Fühlt sich der/die mündige Gendersternchen-Bürger/in nach gut einem Jahr Corona-Maßnahmen seiner Freiheitsrechte beraubt, kann er/sie/es hier endlich mal wieder ordentlich anarchisches Flair atmen. Um Krise, Seuche, Freiheit geht es auch auf der immer noch herrlich verwilderten Gustav-Böß-Freilichtbühne in der Jungfernheide, die aufBruch schon im letzten Jahr für seine Version von Shakespeares Sommernachtstraum nutzte. Weisenborns Bühnenballade arbeitet viel mit Chören. So auch seit Jahren das aufBruch Gefängnistheater. Der Pandemie geschuldet tritt auch diesmal ein leicht dezimiertes Ensemble aus Freigängern, Ex-Inhaftierten, SchauspielerInnen und Berliner BürgerInnen auf, das aber gleich nach einer kurzen Einführung zur Figur des Till Eulenspiegel (was auch „deutscher Arschlecker“ bedeutet) aus vollem Halse Bruce Lows Vagabundenlied intoniert. Das Singen ist ja gottlob nun sogar nicht mehr nur im Freien wieder erlaubt.
Teile des Ensembles spielen eine Gauklertruppe, die in einem Lager vor der Stadt Shakespeares Romeo und Julia proben. Dafür hat Bühnenbildner Holger Syrbe grüne Zeltplanen, die Kochstelle der Köchin Popanne (Sabine Böhm) und ein Plumpsklo in das Wäldchen des halbrunden Amphitheaters gestellt. Im Hintergrund zeugt ein Galgen von unruhigen Zeiten mit Pest und Krieg, in deren Sog auch die Gaukler geraten, als abwechselnd Soldaten und aufständische Bauer mit Fahnen und Parolen ins Zeltlager kommen. Auch Till Eulenspiegel (Hans-Jürgen Simon) und seine junge Begleiterin Nele (Jonna van der Leeden) stoßen zur Truppe, deren Anführer und Regisseur (Frank Zimmermann) Till als Hauptattraktion engagiert. Nun werden seine derben Streiche nachgespielt, bei denen u.a. die Werkstatt eines Schmieds und auch das Plumpsklo eine Rolle spielen. Immer wieder reflektieren die SchauspielerInnen ihr Leben, geht es um die Freiheit und die Kunst. Ziehen sie mit den Soldaten in den Krieg, oder helfen sie den aufständischen Bauern in die Burg zu gelangen. „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“, leiht sich da Till Eulenspiegel sein Motto bei Brecht.
Während die Truppe, selbst hungrig und unbehaust seit tausend Jahren, Till und Nele aufnehmen, haben sie selbst Vorurteile gegenüber einem schwarzen Darsteller (Josef), den sie immer wieder verjagen wollen. Die Inszenierung zeigt aber auch klug damalige und auch heutige Probleme der Stellung des Künstlers als Narr, der der Gesellschaft den Spiegel vorhält. „Kunst ist Waffe“ ist auch so ein bekanntes Schlagwort. Die Bühne als Welt, wo alles oder nichts auf dem Spiel steht. „Warum spielen wir die großen Dramen?“ ist da die große Frage. Man will das wirkliche Leben. „Sein oder Nichtsein“, sagen sie es mit Hamlet. Aber „No Business like Showbusiness“, heißt es ebenso. Das Volk will unterhalten werden. "O mein Papa, war eine wunderbare Clown", singt das Ensemble, das auch Herrschaftsmodelle und Möglichkeiten der Revolte hinterfragt. Recht kämpferisch endet der abwechslungsreiche Abend mit dem Text Hahnenkopf von Thomas Brasch über den Bauernkrieg und die Vernichtung der Aufständischen, der mit Punkt und Komma wieder im Chor skandiert wird.
|
Till Eulenspiegel im Freilufttheater in der Jungfernheide | Foto (C) Thomas Aurin
|
Stefan Bock - 10. Juni 2021 ID 12964
TILL EULENSPIEGEL (Freilufttheater in der Jungfernheide, 08.06.2021)
nach Motiven von Thomas Brasch, Günther Weisenborn und dem Volksbuch
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Melanie Kanior
Dramaturgie: Hans-Dieter Schütt
Besetzung;
Till Eulenspiegel ... Hans-Jürgen Simon
Pompanne ... Sabine Böhm
Nele ... Jonna van der Leeden
Junge ... Josef
Gaukler ... Frank Zimmermann, Gerard, Jamal, Maja Borm, Mathis Koellmann, Matthias Blocher und Mohamad Koulaghassi
Bauern/Landsknechte ... Patrick Berg und Philipp
Pressevorführung war am 8. Juni 2021.
Premiere: 9. Juni 2021.
Weitere Termine: 11.-13., 16.-20., 23.-27.06.2021
Eine Freilufttheaterproduktion von aufBruch KUNST GEFÄNGNIS STADT in Kooperation mit dem Kulturbiergarten Jungfernheide
Weitere Infos siehe auch: https://gefaengnistheater.de/
Post an Stefan Bock
Freie Szene
Live-Streams
Neue Stücke
Premieren
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|