Von einem,
der auszog,
das Scheitern
zu lernen
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Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke am Metropoltheater München | Foto (C) Jean-Marc Turmes
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Bewertung:
Wieder einmal hat das Metropoltheater München gezeigt, wie es mit bescheidenen Mitteln wunderbare Abende auf die Bühne zu zaubern vermag. Es ist eben nicht umsonst 2015 zum besten Off-Theater im deutschsprachigen Raum gekürt worden.Und welches Händchen man für gute Stoffe hat! Dabei ist Joachim Meyerhoffs Autobiographie Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke eigentlich ein Roman. Aber auch eine theatralische Steilvorlage. Wenn man es denn so schafft wie Gil Mehmert, der diese mitreißende Bühnenfassung erstellt und mit dezent gesetzter Rhythmus-Hilfe des Schlagzeugers Stefan Noelle inszeniert hat.
Das Buch bekam ich eines schönen Nachmittags von meiner Nachbarin geliehen, las die erste Seite und konnte nicht mehr aufhören. Was für ein zärtlicher, liebevoller Blick auf eine vergangene Welt, was für wunderbare, witzig erzählte Anekdoten. Die zünden zum Glück nicht nur an der Oberfläche. Denn darunter – und das macht das anhaltende Vergnügen aus - liegt noch etwas: jugendliche Orientierungslosigkeit, Trauer, Verlorenheit.
Da ist ein junger Mann aus seinem norddeutschen Nest gefallen, ein Bruder ist eben tödlich verunglückt, die Eltern haben sich getrennt. Nun ist er in München gelandet wegen einer Stelle als Zivi in einem Krankenhaus, besteht aber quasi en passant die Aufnahmeprüfung in die berühmte Falckenbergschule.
Das Stück beginnt damit, wie er den einzigen Textauszug vorspricht, den er vorbereitet hat: den Monolog des Danton vor seiner Hinrichtung. Mit verzweifelt langen Pausen, weil ihm der Wortlaut vor Aufregung nicht mehr einfällt, weil er Wörter wie „Artigkeiten“ weder mag noch versteht, und weil er im Sprechen manchen Satz doch plötzlich begreift. Das Strukturprinzip dieser gelungenen Romanadaption: Joachim (geradezu ideal verkörpert von James Newton) fällt immer wieder „aus der Rolle“. Er spielt und kommentiert sich gleichzeitig bzw. knapp versetzt. So entstehen höchst unterhaltsame Ebenen- und Perspektivwechsel, die die Handlung vorantreiben und die Episoden zusammenhalten.
Erzählt werden drei Jahre einer Schaupielausbildung. Sie nehmen diesen später so erfolgreichen Joachim Meyerhoff (er wurde mehrfach zum Schauspieler des Jahres gewählt) auseinander, ohne ihn wieder ganz zusammenzusetzen. Schuld daran sind die abenteuerlich verschrobenen Protagonisten, an denen er sich abarbeitet. Die Schauspiellehrerin Grechtchen Kinski etwa, die permanent mit ihrer dekorativen Lockenpracht und modischen Haiku-Weisheiten um sich wirft. Wenn sie nur nicht verlangen würde, Effi Briest aus der Sicht eines Nilpferdes zu spielen, mit den Brustwarzen zu lächeln oder ins kochende Wasser geworfene Spaghetti darzustellen! Joachim schafft mit Ach und Krach den Abschluss, bekommt aber als einziger kein Anschlussengagement.
Was ihn über diese frühen Jahre des Scheiterns rettet, ist die rührende Sorge seiner schrulligen Großeltern. Er lebt mit ihnen in deren herrschaftlicher Nymphenburger Villa, weil er sich die Müchner Mieten nicht leisten kann. Sie, Inge, eine ehemalige Schauspielerin aus der Generation Pathos („sie sagte das Wort Got-t mit zwei t, als hätte sie ein heiliges Echo in der Kehle“) und er, Herrman, ein schwerhöriger Philosophieprofessor. Man kann sich gar nicht sattsehen daran, wie die beiden und ihr Enkel gegen „diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ ankämpfen. Joachim hadert mit seinem Loch im Leben – Verlust und Versagen. Die Großeltern steuern aufs Ende ihres Daseins zu. Sie füllen es mit stimmungsfördernden Ritualen: Gurgeln mit Enzian, frühstücken mit Sekt, Mittagessen mit Weißwein, dann Tee mit Rum, ein 6-Uhr Whisky, zum Abendessen Rotwein und abschließend ein Cointreau: gerade im Kontrast zu der destruktiven Schauspielschule eine Liebeserklärung an eine Welt der Geborgenheit, der Beständigkeit. Wie Joachims Lehrzeit wird sie zu Ende gehen müssen: „Zeit ist es, dass es Zeit wird.“
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Ein langer, aber wegen des rasanten Timings niemals langweiliger Abend. Großer Beifall für das ganze Ensemble. Zu verdanken auch dem wunderbar harmonischen Zusammenwirken von Vanessa Eckart, Lean Fargel, Sophie Rogall und Nicolas Wolf. Vor allem aber Lucca Züchner und Thorsten Krohn. Sie spielen mit vollem Körpereinsatz die Großeltern und kleinere Rollen wie Schauspiellehrer/-in, Falckenberg-Direktor, Aikido-Lehrer. Weiß Got-t tragende Rollen, die sogar ohne Worte auskommen.
Fabelhaft!
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Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke am Metropoltheater München | Foto (C) Jean-Marc Turmes
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Petra Herrmann - 7. Februar 2019 ID 11196
ACH, DIESE LÜCKE, DIESE ENTSETZLICHE LÜCKE (Metropoltheater München, 06.02.2019)
Regie: Gil Mehmert
Bühne und Kostüme: Christl Wein
Licht: Hans-Peter Boden
Regieassistenz: Till Kleine-Möller
Bühnenbau: Alexander Ketterer
Musik: Stefan Noelle
Mit: Vanessa Eckart, Lean Fargel, Thorsten Krohn, James Newton, Sophie Rogall, Nicolas Wolf und Lucca Züchner
Premiere war am 31. Januar 2019.
Weitere Termine: 07.-09., 11., 14., 16.-19., 24., 25., 27., 28.02. / 05., 06., 09.03.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.metropoltheater.com/
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