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Das Helmi adaptiert den sechsbändigen autobiografischen Romanzyklus des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård für das Ballhaus Ost



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Das Helmi macht Knausgårds 5000 Seiten!“ tönt der Teaser des Ballhaus Ost. Und auch noch an einem Abend. Oje! Wie lange soll das denn dauern, fragt man sich da. Nun, fast drei Stunden sind es dann immerhin geworden, inklusive einer etwas konfusen Pause. Liebenswert konfus ist auch das Konzept der Berliner Schaumstoffpuppentheatermacher und ihrer MitstreiterInnen. Das ist aber irgendwie auch ganz normal und mittlerweile zum Kult avanciert. Für ihren fröhlichen Dilettantismus und schrägen Humor liebt man das Helmi. Auf All Men Must Die, der Adaption der US-amerikanischen Fernsehserie Game of Thrones in mehreren Teilen folgt nun der ganze Knausgård in einem. Genauer gesagt die sechs autobiografisch angelegten Bände des norwegischen Schriftstellers.

Diesen Romanzyklus nannte Karl Ove Knausgård im norwegischen Original dann auch noch Min Kamp (Mein Kampf). Sterben, Lieben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen heißen die von 2009 bis 2013 geschriebenen sechs Bände in deutscher Übersetzung. Sie thematisieren das Sterben von Knausgårds Vater und seine schwierige Beziehung zu ihm, seine Kindheits- und Jugenderinnerungen, erste Liebeserfahrungen, Aufbruchs- und Studienzeit und schließlich Flucht und Abnabelung von der norwegischen Heimat, die Gründung einer eigenen Familie, Kinder, Ehekrise etc. Man kann das schon als einen ewigen inneren und äußeren Kampf mit dem eigenen Ich bezeichnen. Der Abend im Ballhaus Ost bewegt sich hier eher schlaglichtartig durch den mit seitenlangen Gedankengängen und kulturwissenschaftlichen Essays gespickten Erzählfluss des Autors und hat eigentlich mehr den nach Ruhm strebenden jungen Schriftsteller und seine Kindheits- und Familiengeschichte im Fokus.

Es beginnt mit einer kurzen Lesung aus dem ersten Teil Sterben. Die Schauspielerin Janet Rothe liest aus Knausgårds Überlegungen zum Umgang der norwegischen Gesellschaft mit ihren Toten. Das Abdecken der Leichen, Verbringen in fensterlose Räume, Sperren in Särge und Begraben in der Erde. Man schafft die Verstorbenen schnell aus dem Blickfeld der Lebenden. Die Verbannung des Tods aus dem Leben ist ja durchaus ein allgemeines Problem. „Der Lehrer, der auf dem Schulhof einen Hirnschlag erleidet, muss nicht zwingend auf der Stelle weggeschafft werden, es passiert nichts Schlimmes, wenn er liegen bleibt, bis der Hausmeister die Zeit findet, sich um ihn zu kümmern, selbst wenn dies erst am Nachmittag oder Abend der Fall sein sollte. Wenn sich ein Vogel auf ihn setzt und pickt, was macht das schon?“ Diese kleinen philosophischen Leseausflüge wird es immer wieder zwischendurch geben. Und wie es sich beim Helmi gehört aus bunten Schaumstoffbüchern.

Spielerisch wird natürlich auch einiges geboten. Die nächste Szene beschäftigt sich mit der Ankunft von Karl Ove und seinem älteren Bruder Yngwie im verwahrlosten Haus der Großmutter, in dem der Vater bis zu seinem Tod lebte. Er war Alkoholiker. Das wird hinter einem Gazevorhang auf einer Schräge, wo sonst die Zuschauertribüne steht, gespielt. Die Darsteller tragen Schaumstoffmasken und bewegen sich recht linkisch über das abschüssige Terrain. Das ganze Ensemble steckt in naturfarbenen Strumpfhosen. Die Besetzung ist ganz bewusst auch gegen den Genderstrich gebürstet. Die Männer spielen weibliche Rollen und umgekehrt die Frauen männliche. Cora Frost kommt sogar mit angeklebtem Bart und Lederjacke als kumpelhafter Rockertyp Geir daher.

Karl Ove wird in der Kindheit viel gehänselt, etwa beim Schwimmunterricht wegen seiner Frauenbadekappe. Großes Gekicher und Arschbombe. Die kreisrunde Matte auf der Bühne dient als Schwimmbecken. Später spielen die Männer auch junge Schülerinnen, denen der 18jährige Aushilfslehrer Karl Ove hoch im Norden von seinen ehemaligen Lieben erzählt, aus denen nichts geworden ist. Er will berühmt werden, geht zum Literaturstudium nach Bergen, sucht die große Liebe und findet sie in Linda, seiner späteren Frau. Knausgård verwendet konsequent die echten Namen von Freunden und Verwandten, will die absolute Authentizität, was ihm auch Ärger einbringt. Vor allem mit seinem Onkel Gunnar, den Emir Tebatebai als wildgeworden Troll mit furchterregender Maske spielt. Er wirft Karl Ove vor, nicht die Wahrheit über den Vater geschrieben zu haben. Seine Auffassung von Fiktion und Wahrhaftigkeit erklärt Knausgård im letzten Teil des Zyklus ausführlich.

Die Passagen über Mein Kampf, das autobiografische Machwerk Hitlers, der hier auch mal kurz vorbeischaut, erspart uns die Inszenierung. Nur Paul Celans Gedicht Todesfuge rezitiert Karl Ove bei einem herrlich spröden Rendezvous beim Tee mit seiner Angebeteten, die im auf der Schaumstoffmatratze offenbart, jetzt mit seinem Bruder zusammen zu sein. Der Text wird vom Rand eingelesen, und als würde man ihnen soufflieren, sprechen Brian Morrow und Burkart Ellinghaus die Worte verzögert nach. Das ist ein schöner Effekt, wie Knausgård den Figuren aus der Erinnerung seine Realität in den Mund legt. Schön auch die musikalische Live-Begleitung, die wechselnd vom gerade nicht spielenden Teil des Ensembles mit Gitarren, Schlagzeug und Akkordeon kommt mit den Songs Schau schau von Selig oder „Wenn du dann am Boden bist, weißt du wo du hingehörst…“ aus Alles Gute von Faber. Schließlich gibt es noch die ultimative Familienaufstellung und einen lustigen Therapiekreis dazu. So zappelt, tanzt und spielt sich das Helmi mal saukomisch, mal nachdenklich durch die große Kampf-, Krampf-, Schmerz- und Offenbarungsliteratur von Karl Ove Knausgård. Ein Leben auf der Suche nach Einzigartigkeit zwischen Kreativität, Kunst, Genie und Wahnsinn.



Knausgård von und mit Das Helmi | Foto (C) Holger Rudolph

Stefan Bock - 24. November 2018
ID 11062
KNAUSGÅRD (Ballhaus Ost, 23.11.2018)
Technik: Burkart Ellinghaus
Tanztraining: Ayam Am
Dramaturgie: Marcel Bugiel
Dramaturgische Mitarbeit: Josephine Witt
Produktionsleitung: ehrliche arbeit - freies Kulturbüro
Mit: Jakob Dobers, Burkart Ellinghaus, Cora Frost, Felix Loycke, Florian Loycke, Piotr Mordel, Brian Morrow, Janet Rothe, Omnia Samaha, Dasniya Sommer und Emir Tebatebai
Premiere war am 22. November 2018.
Weitere Termine: 24., 25.11.2018
Eine Produktion von Das Helmi in Kooperation mit dem Ballhaus Ost


Weitere Infos siehe auch: https://www.ballhausost.de


Post an Stefan Bock

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