Bildgewaltig
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Die Rättin nach dem gleichnamigen Roman von Günter Grass am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
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Bewertung:
Im Superwahljahr 2021 wird in Deutschland wieder viel von Zukunft geredet. Während in Berlin gerade eine Ampel zusammengeschraubt wird, deren Leuchten einen neuen Weg weisen soll, fordert auf der Bühne am Schauspiel Leipzig eine Gruppe von Märchenfiguren lauthals eine Märchenregierung unter der Führung der Grimmbrüder. Gespielt wird Die Rättin, der apokalyptische Roman von Günter Grass aus dem Jahr 1986. Eine Zeit, als der deutsche Wald noch am Sterben war (was er nach wie vor ist) und sich trotz beginnender Glasnost in der Sowjetunion noch zwei feindliche Systemblöcke waffenstrotzend gegenüberstanden. Wenige Monate nach dem Erscheinen des Romans vermittelte die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl einen Vorgeschmack darauf, was sich in Grass‘ Roman als atomare Endzeit des Menschengeschlechts manifestiert. Nach dem Einheitstaumel der drei Jahre später beginnenden Wende in Ost-Deutschland und den sich langsam vollziehenden Zusammenbruch des Ostblocks schien diese Gefahr zumindest vorübergehend gebannt, bis der nicht mehr zu leugnende Klimawandeln zum alles beherrschenden gesellschaftspolitischen Thema wurde.
Der aus der damaligen Zeit heraus geborene Roman des späteren Literaturnobelpreisträgers ist nicht nur deshalb zeitlos interessant, weil er das Thema der drohenden Umwelt- und atomaren Katastrophe behandelt. Es geht darin vor allem um den Menschen als treibende Kraft, die Welt weiterzuentwickeln, wie auch gleichzeitig maßgeblich an ihrer Zerstörung zu wirken. Ein nicht näher benannter Erzähler, es könnte auch der Autor Grass selbst sein, umkreist in einer Raumkapsel die zerstörte Erde und träumt sich eine weibliche Ratte, jene titelgebende Rättin, die ihm vom Ende der Menschheit und der Übernahme der Welt durch das Rattengeschlecht berichtet. Vielleicht träumt sich die Rättin aber auch den Menschen mit dem sie seit alters her in einer Art Symbiose lebt.
Dazu treten verschiedene Figuren aus Romanen von Günter Grass wie der Butt oder der Blechtrommler Oskar Matzerath auf. Eine Gruppe von Frauen ist mit einem Schiff auf der Ostsee unterwegs, um die Umweltverschmutzung anhand der Population der Quallen zu untersuchen. In Wirklichkeit aber sucht die Schiffsführerin Damroka die sagenumwobene Stadt Vineta, um dort eine weibliche Utopie zu begründen. Dazu gesellen sich jene anfangs erwähnten Märchenfiguren wie Dornröschen und der wachküssende Prinz, Rübezahl, Rotkäppchen und der Wolf sowie Hänsel und Gretel, die eigentlich die in den sterbenden deutschen Wald entflohenen Kanzlerkinder sind. Mit überbordender Phantasie reiht hier Grass einen Erzählstrang an den anderen, was ihm nicht nur Lob, sondern auch den Tadel des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki einbrachte.
In der Bühnenfassung von Claudia Bauer und Dramaturg Matthias Döpke kommt der deutsche Literaturpapst sogar einmal kurz zu Wort, ansonsten entwickelt die Regisseurin mal wieder ein für ihre Inszenierungen typisches bildstarkes Theater aus Raum, Kostüm, Text und Sound. Die Bühne von Andreas Auerbach ist zunächst düster und leer bis auf eine hineingeschobene Himmelstreppe auf der Mensch/Erzähler Tilo Krügel zunächst nackt nach den Sternen greift, bis er in Unterwäsche auf einen Hochstand mit quadratischer Raumkapsel klettert und auf einem Fitness-Laufband immer wieder atemlos Text repetiert. Unten tritt der Chor der Ratten in farbigen Puffärmelkostümen von Vanessa Rust aus dem Bühnendunkel und erzählt die Geschichte von Noahs Arche und den Ratten, die obwohl sie nicht an Bord durften, die Sintflut unter der Erde überlebten. Ein ständiges sich Versichern, noch da zu sein, Ideen und Pläne für die Zukunft zu haben, lässt den Erzähler nicht ruhen, sich gegen die Anwürfe der Rättin zu verteidigen, die ihm sein Ende bescheinigt. „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, ein gescheitertes Projekt, an dessen Ende die Herrschaft der Ratten steht.
Neben den RattendarstellerInnen Julia Berke, Patrick Isermeyer, Amal Keller, Teresa Schergaut und Hubert Wild, die auch die Crew der Meereskundlerinnen verkörpern, tritt Roman Kanonik als gealterter Oskar Matzerath in Kurzhosen und Blechtrommel auf. Er ist nun Filmproduzent und entwickelt mit dem Erzähler ein Stummfilmprojekt über den deutschen Wald, der sogleich als dicke Stämme vom Schnürboden schwebt. Mittels Livekamera gedreht und auf die Raumkapsel projiziert entsteht dieser Film hinter der Bühne mit den die Märchenfiguren darstellenden Leipziger Schauspielstudierenden, die auch einen bezaubernden Auftritt als tänzelnder Medusenchor haben.
Für den Begleitsound sorgt Musiker und Schauspieler Hubert Wild auf einer Elektro-Orgel. Vom vielstimmigen Requiem Aeternam über ein apokalyptischen „Ultemosch“-Gewitter bis zur Countertenorarie in den Reifröcken der kaschubischen Großmutter Anna Koljaicsek reicht der Soundtrack dieser bildgewaltigen Reise kreuz und quer durch den Grass-Roman, dessen zuweilen etwas altmodisch anmutender Text durch ein paar aktuelle Schlagworte wie "soziale Medien" oder "Klimakrise" ergänzt wurden. Auch wenn Claudia Bauer einige der zu weit verzweigten Erzählstränge des Autors gekappt hat, kann es sein, dass man bei Unkenntnis des Romans hin und wieder den roten Faden verliert, wenn dann auch noch genmanipulierte Rattenmenschen erscheinen. Die Idee einer anderen Utopie, und sei es die einer Revolution aus der Kraft der Märchen, bleibt aber erkennbar.
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Die Rättin am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
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Stefan Bock - 10. Oktober 2021 ID 13202
DIE RÄTTIN (Schauspiel Leipzig, 08.10.2021)
Regie: Claudia Bauer
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Vanessa Rust
Musik: Hubert Wild
Dramaturgie: Matthias Döpke
Bühnenmeister: Patrick Ernst
Licht: Veit-Rüdiger Griess
Mit: Julia Berke, Philipp Adrian Djokic, Matthis Heinrich, Patrick Isermeyer, Roman Kanonik, Amal Keller, Tilo Krügel, Leonard Meschter, Ellen Neuser, Ronja Oehler, Julia Preuß, Ronja Rath, Teresa Schergaut, Laura Storz, Paula Vogel, Hubert Wild und Leonard Wilhelm
Premiere war am 8. Oktober 2021.
Weitere Termine: 10., 21., 30.10.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-leipzig.de/
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