Die Macht des
Crescendos
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Bolero von Maurice Béjart mit Friedemann Vogel | © Stuttgarter Ballett
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Bewertung:
Diesen berechenbaren Applaus wollte sich der Intendant des Stuttgarter Balletts Tamas Detrich nicht entgehen lassen. Noch ehe ein Tanzbein gehoben und ein Arm angewinkelt wurde, betrat er die Bühne, um den 249 zugelassenen Glücklichen im unter normalen Umständen 1.400 Zuschauer fassenden Opernhaus mitzuteilen, dass in der ersten Stunde nach Beginn des Kartenvorverkaufs 1.900 Begierige angerufen hätten, die dabei sein wollten bei der noch in dieser Spielzeit angesetzten Premiere des Ballettabends mit dem Titel RESPONSE I. Mit sich brachte Detrich den für das Ballettsponsoring Zuständigen eines bekannten in Stuttgart ansässigen Autoherstellers. Flüchtig knieend und mit triefender Rhetorik dankte er dem großzügigen Spender und beschämte so all jene, die aus Gemeinheit oder weil sie ihr ganzes Einkommen verfressen, kein Auto der bewussten Marke kaufen und sich somit ihres Beitrags zum Sponsoring entziehen.
Dann endlich wurde getanzt. Drei Uraufführungen standen auf dem Programm: Petals von Louis Stiens, Empty Hands von Fabio Adorisio und Everybody Needs Some/Body von Roman Novitzky. Die Solistinnen und Solisten mussten auf Entfernung auf einander mit Parallelen und mit Gegensätzen, auch in den Kostümen, reagieren oder, in Petals, mit Stühlen, in Everybody Needs Some/Body mit Schneiderpuppen als Partner Vorlieb nehmen. In letzterem gab es, gewagt, gewagt, sogar ein echtes Pas de deux. Solistisch blieb die Violine von Elena Graf in einer eigenwilligen Bearbeitung von Vivaldis Vier Jahreszeiten. Musiziert wurde von Solisten aus dem Orchestergraben oder vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Wolfgang Heinz mit dem Rücken zu den Tänzern auf der erhöhten Hinterbühne.
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Everybody Needs Some/Body von Roman Novitzky mit Diana Ionescu und Martino Semenzato | © Stuttgarter Ballett
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Ergänzt wurde der mit dem Vorspiel auf dem Theater gut zweistündige pausenlose Abend – Motto: Something old, something new, something classic, something blue – durch einen gezielten Griff ins Repertoire. Anna Osadcenko tanzte das Solo des klassischen Balletts par excellence, den Sterbenden Schwan [s. Foto u.] von Camille Saint-Saëns, mit dem 1997 uraufgeführten Solo, in dem sich drei Tänzer in Virtuosität und Schnelligkeit überbieten, wurde dem 88jährigen Choreographen Hans von Manen Reverenz erwiesen, und den Abschluss bildete, mit ausgedünntem Ensemble, Béjarts Bolero, der seit 1984 in Stuttgart Jubel garantiert. In den vergangenen Jahren bot er die Paraderolle für Friedemann Vogel [s. Foto o.re.]. Auch diesmal flogen ihm die Herzen und, metaphorisch gesprochen, auch andere Körperteile zu. Vergessen ist bei dieser Version für ein reines Männerensemble die routinemäßige Quotenforderung, dispensiert die Empörung über eine Choreographie, die sich, trotz nicht sehr logischer Ablenkung durch Béjarts Rollenbezeichnungen, kaum anders sehen lässt denn als patriarchaler Balztanz mit priapistischem Potential. Die Macht des Crescendos wischt alle Bedenken bezüglich sexistischer Anmache beiseite. Selbst die besseren Damen und wohl auch einige Herren im Publikum scheinen das auf ganz altmodische Weise „geil“ zu finden. Zwischendurch wurde zu Beethoven unter dem Titel #WeStayHome eine nicht unwitzige Montage von Übungen der vereinzelten Compagnie-Mitglieder in der häuslichen Quarantäne auf eine Leinwand projiziert.
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Der sterbende Schwan von Michel Fokine mit Anna Osadcenko | © Stuttgarter Ballett
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Die Botschaft des Abends war eindeutig: #WeAreBack. Wer wollte da mäkeln? Zumal wenn er zu den privilegierten 249 gehört, die nach der Vorstellung in den von größeren Polizeieinheiten gegen Randale gesicherten warmen Schlossgarten schritten. Der Rest durfte auf dem Neckar-Überschwemmungsgebiet des Cannstatter Wasens eintrittsfrei eine Live-Übertragung genießen. Immerhin.
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Thomas Rothschild - 26. Juli 2020 ID 12371
RESPONSE I (Stuttgarter Ballett, Opernhaus | 25.07.2020)
Petals
Choreographie: Louis Stiens
Musik von Domenico Scarlatti und François Couperin
Empty Hands
Choreographie: Fabio Adorisio
Musik von Bryce Dessner
Everybody Needs Some/Body
Choreographie: Roman Novitzky
Musik von Max Richter
Kostüme: Aliki Tsakalou
sowie weitere Stücke des Repertoires (Der sterbende Schwan, Bolero)
Premiere war am 25. Juli 2020.
Weitere Termine: 17., 19., 25.10.2020 / 03., 06., 08.-10.01.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.stuttgarter-ballett.de/
Post an Dr. Thomas Rothschild
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