In Iwan Wyrypajew Stück diskutieren am Thalia Gaußstraße westliche Wissenschaftler über individuelle Freiheit, Spiritualität und andere weltanschauliche Fragen
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(C) Thalia Theater Hamburg
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Bewertung:
Freie Welt gegen Gottesstaat. Humanistischer Rationalismus gegen religiösen Traditionalismus. Ein unversöhnlicher Kulturkampf beherrscht den Diskurs zwischen islamischer und westlich geprägter Welt. Dass dieses Problem in Zeiten von Terror und Populismus nicht so einfach zu lösen ist, beweist so manche Talkshow-Runde. Der in Deutschland recht bekannte und seit 2016 in Polen lebende und arbeitende russische Dramatiker Iwan Wyrypajew hat sich dieses Diskurses angenommen. Ergebnis ist sein Stück Iran-Konferenz, das der Autor im September auch selbst am Teatr Dramatyczny in Warschau uraufführte. Die Inszenierung war beim Steirischen Herbst in Graz zu Gast. Nun hat der Hamburger Dramaturg Matthias Günther im Thalia Gaußstraße die deutsche Erstaufführung besorgt.
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Wyrypajew ist ein poetisch-philosophischer Weltsinnsucher, das hat er mit mehreren seiner in Deutschland gespielten Stücke wie Betrunkene, Illusionen oder Unerträglich lange Umarmung (2015 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt) bewiesen. Zuweilen arbeitet er auch dokumentarisch, und so mutet sein Stück, wie der Name schon sagt, dann auch wie eine richtige Konferenz an, bei der an der Kopenhagener Universität die „Iran-Frage“ erörtert werden soll. Geisteswissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, Schriftsteller, Journalisten sowie bekannte Persönlichkeiten des dänischen Kulturlebens diskutieren also über die Konkurrenz zweier „diametral entgegengesetzter Weltanschauungen“. Das Aufeinanderprallen von „Allah und Coca Cola“, wie es der Konferenz-Gastgeber und Moderator der Diskussion, Philip Rasmussen, etwas bemüht witzelnd in seiner Begrüßungsrede anmerkt. Thomas Niehaus gibt ihn als beflissenen Wissenschafts-Nerd mit Hornbrille, die später noch für einen weiteren Zwischengag herhalten muss, wenn Rasmussen im Eifer des Diskursgefechts seine Brille mit der des heftig insistierenden Journalisten Magnus Thomsen (Merlin Sandmeyer) vertauscht und feststellen muss, durch sie nicht richtig zu sehen.
Nicht durch die Brille des anderen schauen zu können ist hier also das eigentliche Problem, was Wyrypajews Debattentext ganz treffend verdeutlicht. Und so prallen auf leerer Bühne, auf der nur ein Rednerpult vor einer breiten Spiegelwand steht, nicht nur gegensätzliche Meinungen aufeinander, sondern offenbaren sich im Namen der Wissenschaft und Menschlichkeit in den Reden der TeilnehmerInnen, die in der ersten Reihe vor dem Publikum Platz genommen haben, auch jede Menge Vorurteile, zynischer Determinismus, versteckte Rassismen und sogar identitäre Ansichten. So spricht der Philosoph Gustav Jensen (Julian Greis), der ein Buch mit dem Titel Die Illusion deiner Freiheit geschrieben hat, vom Menschen als Sack aus Genen, beeinflusst von seinem kulturellen Umfeld. Da ist es auch nicht mehr weit zum Begriff der Tradition, den das Publikum vom Kirchvertreter Vater Augustin (Rafael Stachowiak) erklärt bekommt, nach dem jedes Ding seine vorbestimmte Funktion wie auch der Mensch seinen angestammten Platz hat. Sinn des Lebens sei die Verbindung mit Gott.
Nun hat Autor Wyrypajew das nicht ganz so platt und populistisch zu Papier gebracht. Die Sinnsuche, auf die das Stück letztendlich hinausläuft und den islamischen „Schurken“- und Atomstaat Iran nur als Vorwand für die Selbstdekonstruktion des in Weltanschauungsdingen mehrfach gespaltenen Westens nimmt, befördert auch Debattenbeiträge, die sich ausgiebig mit philosophischen Fragen und der Spiritualität des Menschen beschäftigen. Gleich zu Beginn spricht Daniel Chistensen (Jens Harzer), Vertreter einer europäischen Islam-Organisation, ganz eindrücklich vom in festen Strukturen festhängenden Ich-Modell, das nur die eigenen Befindlichkeiten, auch was Krieg, Terrorismus oder Demokratie betrifft, im Auge hat. Eine Struktur des permanenten Aneignens. Man müsse verstehen lernen zu geben. Dass er in der Entscheidungsinstanz, was man zu geben habe, letztlich Allah sieht, deckt sich mit dem Gott-Verständnis seines Wissenschaftskollegen Oliver Larsen (Tim Porath), für den bei jedem persönlichen Verlust immer etwas Höheres und Wichtigeres bleibt.
Als Gegenstimmen der kritischen Vernunft treten hier der schon erwähnte Merlin Sandmeyer und die Journalistin Astrid Petersen (Birte Schnöink) auf. Beide bezichtigen die anderen des Zynismus und der Esoterik. Sie verwerfen einen Gott der Atombomben, Menschrechtsverletzungen und Todesstrafen. So pocht Peterson in ihrer kraftvollen Rede auf die vier Grundrechte des Menschen auf Leben, Wissen, freie Wahl der Weltanschauung sowie des Sexualpartners. Das liberale Helfersyndrom gepaart mit einem verklärenden Blick auf das Glück von Naturvölkern am Amazonas zeigt sich bei der Ministerpräsidentengattin und Vertreterin einer Hilfsorganisation, Emma Schmidt-Poulsen (Alicia Aumüller). Jeder besteht hier auf seiner Meinung und Erfahrung, ohne dass dabei eine wirkliche Diskussion entstünde, noch die eigentlich betroffenen Muslime zu Wort kommen würden. Nur die im Iran verfolgte Poetin Shirin Shirazi (Marina Galic) darf am Ende ein Gedicht über die Freiheit der Gedanken und die Unterwerfung unter die Liebe vortragen. Ein doppeltes Missverständnis, meint sie doch mit ihrer ersten und einzigen Liebe nicht einen Mann, wie alle glaubten, sondern Gott.
Wissen oder glauben, darin ist sich die westliche, bildungsbürgerlich geprägte Welt seit der Aufklärung nicht einig. Ganz schön auf den Punkt bringt das der wie eine Art Lichtgestalt auftretende alte Maestro Pascual Andersen (Peter Maertens), der über die nicht erklärbare „einzig wirkliche Wahrheit“, den Unterschied von Empfindung und Gefühl, die mythische Realität und die Spiritualität des Menschen referiert und so zur völligen Verwirrung des Podiums beiträgt. Auf die Nachfrage von Rasmussen, was denn dann Toleranz, individuelle Freiheit und evolutionäre Entwicklung seien, antwortet der Maestro nur: „Deine private Bequemlichkeit, Philip.“ Das sitzt und lässt einen durchaus nachdenklich zurück. Man ertappt sich hier doch mehrmals selbst, wie leicht man durch Worte beinflussbar ist.
Matthias Günthers sparsame Inszenierung lässt dem Text in der 130minütigen Aufführung dann auch viel Raum. Raum, den jede öffentliche Debatte dringend nötig hätte.
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Stefan Bock - 23. Oktober 2018 ID 10985
IRAN-KONFERENZ (Thalia Gaußstraße, 21.10.2018)
Regie: Matthias Günther
Ausstattung: Bettina Kirmair und Annika Stienecke
Dramaturgie: Hannah Stollmayer
Mit: Alicia Aumüller (Emma Schmidt-Poulsen), Marina Galic (Shirin Shirazi), Julian Greis (Gustav Jensen), Jens Harzer (Daniel Chistensen), Peter Maertens (Pascual Andersen), Thomas Niehaus (Philip Rasmussen), Tim Porath (Oliver Larsen), Merlin Sandmeyer (Magnus Thomsen), Birte Schnöink (Astrid Petersen) und Rafael Stachowiak (Vater Augustin)
Premiere am Thalia Theater Hamburg: 21. Oktober 2018
Weitere Termine: 30.10. / 06., 26.11. / 07.12.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.thalia-theater.de
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