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Orestie am Schauspiel Stuttgart | Foto © Matthias Horn
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Burkard C. Kominski eröffnet nach zwölfjähriger Schauspieldirektion am Nationaltheater Mannheim seine Schauspielintendanz in Stuttgart kraftvoll mit der Orestie frei nach Aischylos. Der 32jährige britische Regisseur Robert Icke inszeniert ein Remake seiner 2015er Uraufführung im Almeida Theatre in London und zeigt somit erstmals eine Arbeit in Deutschland. Das Ensemble überzeugt durch intensives, temporeiches und detailgenaues Spiel an diesem aufwendigen Theaterabend, der die 2.500 Jahre alte griechische Atridensage mit seiner drastischen und grausamen Tragik in die Jetztzeit holt. Die Funktion des antiken Chors, der immer wieder die Frage nach der Ursache der Tragödie stellt, wird durch Journalisten und eine psychologische Gutachterin ersetzt. Das Drama beginnt in der Familie, in der Gewissheiten jäh zerbrechen.
Bühnen- und Kostümbildnerin Hildegard Bechtler hat einen weiten, halbrunden, monumentalen Wohn- und Arbeitsraum aus Ziegeln auf die Bühne gestellt. Machtvolle Säulen umgrenzen die Stätte, eine ganze Familie hat am langen Esstisch Platz. Es gibt zwei hintereinander gelagerte Glasfronten mit großen Schiebetüren. Hinter der zweiten Glaswand steht erhöht eine Badewanne.
Ickes neue Bearbeitung, von Ulrike Syha gelungen ins Deutsche übersetzt, behält die dreiteilige Struktur der antiken Tragödie bei. Während jedoch Aischylos sein Drama mit dem Sieg über Troja einleitet, beginnt Icke mit der Vorgeschichte. Klytaimnestra (Sylvana Krappatsch) und Agamemnon (Matthias Leja) agieren zunächst als Eltern von Elektra, Orest und der kleinen Iphigenie. Für Agamemnon ist die Familie der Ort, an den er nach anstrengenden Regierungsgeschäften wieder Kraft tanken, Liebe nehmen und geben kann. Er, seine Frau, sein Sohn, sowie die beiden Töchter erscheinen als richtige Vorzeigefamilie. Jedoch birgt ihre Familiendynastie bereits einen Raubvogel im Wappen, wie bei in das Spiel integrierten Video-Interviews deutlich wird; ein Unglück droht…
Ist es ein Fluch der Götter, ein erfolgversprechender Orakelspruch, religiöser Wahn oder tatsächlich ein irgendwie funktionierender Zusammenhang? Auf jeden Fall soll Agamemnon seine geliebte Tochter Iphigenie töten, um dadurch günstige Winde und somit Erfolg für seinen Krieg mit Troja zu erreichen. Erst wehrt er sich gegenüber seinen Beratern und Vertrauten gegen dieses grausame Ansinnen, dann kämpft seine Frau mit Nachdruck für die gemeinsame Familie. Letztlich wird die Tochter (brav und staunend dargestellt von der Kinderdarstellerin Salome Sophie Roller im schlichten gelben Kleid) auf dem Schoß des Vaters unter medizinischer und juristischer Betreuung vergiftet. Bei dieser leisen Szene von kaum aushaltbarer, erschütternder Grausamkeit verließ eine Premierenzuschauerin den Saal, die Türen laut zuknallend. Die Kälte der Blutrache nimmt seinen Lauf.
Gerahmt wird die Spielhandlung durch Gespräche des Orest mit einer Art Psychotherapeutin (Marietta Meguid), die gemeinsam die grausame Familiengeschichte Revue passieren lassen. Die Frau, die Orest in die Erinnerung und scheinbar heilsame Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit begleitet, entpuppt sich später jedoch im dritten Akt, der vor Gericht spielt, als Anklägerin. Hier wird also über die Schuld und Verantwortlichkeit des einzigen überlebenden Abkömmling der Familie (Orest) verhandelt. Denn Elektra ist in Ickes Neuadaptation schlussendlich nur noch eine imaginäre Schwester. Dadurch trifft Orest die volle Schuld an der Ermordung seiner Mutter. Erstaunlich plakativ gibt es zweimal kurze Einlassungen zur Geschlechtergerechtigkeit: „Ist das Leben einer Frau weniger wert?“
Peer Oscar Musinowski verkörpert einen taumelnden, verwirrten, entsetzten und nur bedingt strafmündigen Orest. Therese Dörr gibt eine vom Schicksal gebeutelte, schwermütige Kassandra und gegen Ende eine fragwürdige Richterin Athene hinter einer Glasscheibe. Paula Skorupa spielt mit hoheitsvoller Ruhe die Filmerin, Bedienstete und Pausenansagerin. Insbesondere Sylvana Krappatsch jedoch verleiht als Mutter und strategische Denkerin der Vorführung mit facettenreichem Spiel Spannung und lebendige Dynamik.
Im Grunde überzeugen alle Akteure mit ihren Figuren. Es gibt einige erschütternde und gefühlvolle Momente – etwa eine berührende Versöhnungsszene zwischen Orest und seiner Mutter, die er dann aber doch kurze Zeit später ermordet. Wiederholt lässt Icke in seiner Orestie die Toten wiederauferstehen, wenn Iphigenie auch später noch über die Bühne geistert. Aigisth wird als Wiedergänger Agamemnons mit dem gleichen Darsteller besetzt. Sehr anrührend ist eine Szene, in der Elektra (Anne Marie Lux) mit ihrem eigentlich bereits toten Vater spricht und ihn umarmt. Ein beglückender Moment, der jäh zu Ende ist, wenn ihr wieder klar wird, dass er ermordet wurde - als sei sie nun aus einem schönen Traum in die grausame Realität zurückgekehrt.
Die Uhr läuft unerbittlich während der gesamten, knapp vierstündigen Vorführung: auch in den beiden Pausen tickt die noch verbleibende Zeit wie ein Countdown. In der Sekunde des Todes einer jeweiligen Figur wird diese Moment detailliert als Ereignis über eine Übertitelleiste oberhalb der Bühne eingeblendet, und die Uhr wird kurz angehalten. So werden die Zuschauer zwar mit einem Augenzwinkern – nie ganz aus dem Fluss der Ereignisse entlassen. Am Ende wohnen sie als Teilnehmende einem Gerichtsprozess bei (anders als in der jüngsten Orestie am Theater Bonn, in der der dritte Akt gestrichen wurde) und werden schlussendlich um eine Beteiligung bei der Abstimmung über Orest gebeten.
Leider schwächelt die insgesamt recht temporeiche und unterhaltsame Vorführung zum letzten Akt hin. Der Gerichtsprozess wird hier zäh und wenig erhellend in die Länge gezogen. Insgesamt ist Orestie jedoch ein gelungener Theaterabend von enormer Intensität und Dichte. Komplexe, zeitlos gültige Bedeutungsebenen der Familie – für den Einzelnen als auch die Gesellschaft – werden dem Publikum pointiert und lebendig dargeboten.
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Orestie am Schauspiel Stuttgart | Foto © Matthias Horn
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Ansgar Skoda - 21. November 2018 ID 11055
ORESTIE (Schauspielhaus, 17.11.2018)
Inszenierung: Robert Icke
Bühne und Kostüme: Hildegard Bechtler
Co-Regie: Anthony Almeida
Video: Tim Reid
Licht: Natasha Chivers und Tim Deiling
Ton: Tom Gibbons und Andrew Josephs
Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger
Besetzung:
Orest … Peer Oscar Musinowski
Elektra … Anne-Marie Lux
Klytämnestra … Sylvana Krappatsch
Agamamnon / Ägisth … Matthias Leja
Kassandra / Athene … Therese Dörr
Menelaos … Michael Stiller
Talthybios … Felix Strobel
Ärztin … Marietta Meguid
Kilissa / Furie … Elke Twiesselmann
Kalchas … Paula Skorupa
Junger Orest … Ruben Kirchhauser / Tim Grunwald
Iphigenie … Aniko Sophie Huber / Salome Sophie Roller
Premiere am Schauspiel Stuttgart: 17. November 2018
Weitere Termine: 25.11. / 01., 08., 22.12.2018 // 19.01.2019
Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-stuttgart.de
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