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Jörg Ratjen (vorne) und Nicki von Tempelhoff (hinten) in Rückkehr nach Reims am Schauspiel Köln | Foto © Thomas Aurin

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Für die eigene soziale Herkunft kann niemand etwas. Warum lässt sie sich trotzdem oft einfach nicht bejahen und annehmen? Schon von klein auf an galt der vielbelesene und früh intellektuell veranlagte Didier Eribon in seinem Herkunftsmilieu der Arbeiterklasse als Außenseiter. Den sozialen Aufstieg schaffte er nach seinen Angaben gegen viele Widerstände und indem er sich von seinen Eltern und Geschwistern zurückzog.

In Rückkehr nach Reims verknüpfte Eribon in einer hybriden Erzählung autobiographisches Schreiben mit soziologischer Reflexion, um unter anderem dem Habitus der Fremdenfeindlichkeit und Homophobie seines Herkunftsmilieus nachzuspüren. Nach dem Tod seines Vaters setzt er sich abgeklärt kritisch und trotzdem einigermaßen erschrocken damit auseinander, dass Familienangehörige und andere Vertreter der unteren Schichten des Arbeitermilieus Anhänger der Front National geworden sind. In seinem Werk unterbricht er interessante persönliche Bezüge, die er zu seinem Entfremden gegenüber der familiären Herkunft anbringt, indem er auf soziologische oder psychoanalytische Theorien verweist, die zwar den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, dabei jedoch eher Allgemeinplätze zu sein scheinen.

*

Am Schauspiel Köln inszenierte Thomas Jonigk die literarische Vorlage mit Ideenreichtum und starken Bildern. Im Programmheft wird der Autor und prominente Soziologieprofessor Eribon gleich im ersten Satz als Sohn einer „Putzfrau“ und eines „Hilfsarbeiters“ vorgestellt. Nicht nur hier sondern auch bei anderen öffentlichen Anlässen wird diese Tatsache nun in dem Maße vorangestellt, in dem Eribon selbst in der Vergangenheit versuchte sie nach Reims hin zu negieren. Der in der Vorlage problematisierte Rechtspopulismus entwickelt doch auch gerade dadurch seine Kraft, indem er zu dem, was negiert oder ignoriert wird, einen kathastrophisierenden Kontrapunkt setzt und sich in dem so entstandenen polarisierenden Kraftfeld vermag hochzuschaukeln.

Ob die Melange zwischen Professur und Arbeitermilieu in Deutschland derart zünden würde wie mit Eribon in Frankreich, ist nur schwer vorstellbar. Immerhin werden hier sogenannte Putzfrauen schon lange Raumpflegerinnen genannt; Hilfsarbeiter heißen hierzulande oft Produkt- oder Sortimentsmanager.

Es erfrischt, wie beide Elternteile in Jonigks Inszenierung gleich zu Anfang eine eigene Stimme erhalten und ausdrucksstark zu Wort kommen. Es ist ein Erlebnis, wie sich Nicki von Tempelhoff als Vater und Sabine Orléans als Mutter gestenreich in Szene setzen und angeifern. Die Figur des Eribon kehrt als Erwachsener (Jörg Ratjen) in die fremd gewordene Heimat zurück. Er sucht übertrieben zitternd an Mutters Busen Zuflucht, auch um sich an die Vergangenheit zu erinnern. Er hatte nach eigener Aussage drei Jahrzehnte lang fast keinen Kontakt mehr zu seiner Herkunftsfamilie. Die Figur des Eribon spricht von eigenen Erfahrungen. Für Eribon wird sein Herkunftsmilieu erst dann sichtbar und deutbar, wenn er ihm nach langer Zeit wieder begegnet. Sein Ideal der Befreiung von seiner Herkunft stößt bei der Mutter auf Widerstand: „Du redest wie gedruckt.“ Je vehementer man sich losreißt, umso ähnlicher wird man vielleicht dem, wovon man sich losreißen möchte. Die Zeitebenen verschwimmen alsbald. Zwei jüngere Darsteller (Nicolas Lehni, Justus Maier) verkörpern zeitgleich auch den jungen Didier euphorisch und voller Enthusiasmus. Dynamisch umeinander herumtänzelnd zeigen sie, wie erotisch aufgeladen der soziologische Diskurs sein kann.

Der Vater dreht sich just im Grabe um, vielleicht weil sein Sohn mit einem anderen Jüngling flirtet, vielleicht auch weil er selbst in dem Werk seines Sohnes als tyrannisch dargestellt wird, da er auch gewalttätige Auseinandersetzungen suchte. Postwendend und hier auch postum beschimpft er Didier als „undankbares Balg“.

Die trostlos-sterile Bühne von Lisa Däßler ist mit fabrikähnlichen metallenen Anbauten, Treppen und Geländern versehen. Auf dem Boden verteilt liegen weggeworfene Plastikbecher und Papierreste. Eribons literarische Vorlage behandelt das Leben in den sogenannten Banlieus, benachteiligten Randgebieten französischer Großstädte. Hier herrschen oft Arbeitslosigkeit, städtische Verwahrlosung, politische Vernachlässigung, infrastrukturelle Mängel und Gewalt. Diese Vororte wurden zum Synonym gescheiterter Integration.

Auf der Bühne liegen stapelweise Bücher der deutschsprachigen Übersetzung von Rückkehr nach Reims (erschienen 2016 bei Suhrkamp). Sie werden in einer fabrikähnlichen Situation choreographisch ausdrucksstark von fünf Arbeitern (einschließlich Vater und Mutter) etikettiert und überprüft. Eine Ebene über den Arbeitern lässt Jonigk den jungen Autor diesen Prozess mit einem stolzen Freudentanz quittieren. Damit zeigt Jonigk dramaturgisch eindrücklich, dass Eribon dieser Klasse flüchtig wurde und gleichzeitig mit seinem Werk etwas ausdrückt, was für diese Klasse hohe Relevanz haben könnte.

Analog zum Buch steigert sich ein anlassloser Rassismus mit politischen Unsicherheiten in der dargestellten monotonen, sterilen und kalten Fabrik. Das System, in dem wir uns bewegen, wird von den Fabrikarbeitern als strukturell grundlegend ungerecht wahrgenommen. Die politische Klasse leidet unter großem Vertrauensverlust. Die Mechanik der Fabrikarbeit und die Steigerung des Tempos bis zur Raserei erinnern an Charlie Chaplins Figur in Moderne Zeiten.

Doch diese Entfremdung der Arbeiterschaft mündet nicht in eine kommunistische Revolution. Stattdessen werden bald Meinungen der Arbeiter einschließlich von Eribons Eltern langsam in Unterbrechungen gesprochen und dadurch auf alberne Weise in Zeitlupe vorgeführt. Durch eine derartige Verfremdung wird ihren Argumenten jedoch nichts entgegengesetzt, wie auch einst beim Fernsehhistoriker Guido Knopp kritisiert. Es folgt ein langatmiger Monolog des soziologisierenden, penetrant nervösen Hemdes der älteren Eribon-Figur. Dieser behauptet, er habe ein Verdikt der Sexualität, das ihn einst isolierte, gegen ein Verdikt der sozialen Heimat, das ihn genauso ausgrenzte, ausgespielt. Trotzdem leide er weiterhin teilweise unter der doppelten Stigmatisierung. Somit wird bis zum Schluss auch keine Gelegenheit ausgelassen, sich als Opfer zu gerieren. Der anregungsreiche Abend hat insbesondere aufgrund der ausdrucksstarken Ensembleleistungen hohen Unterhaltungswert, ohne jedoch mit den Ansichten, Theorien und (Selbst-)Analysen Eribons vollends zu befrieden.



Rückkehr nach Reims am Schauspiel Köln | Foto © Thomas Aurin

Ansgar Skoda - 21. Januar 2019
ID 11162
RÜCKKEHR NACH REIMS (Depot 2, 18.01.2019)
Regie: Thomas Jonigk
Bühne: Lisa Däßler
Kostüme: Esther Geremus
Musik: Mathis Nitschke
Choreografie: Teresa Rotemberg
Licht: Jan Steinfatt
Dramaturgie: Sarah Lorenz
Mit: Antonia Bockelmann, Campbell Caspary, Laura Friedmann, Nicolas Lehni, Justus Maier, Sabine Orléans, Jörg Ratjen und Nicki von Tempelhoff
Premiere am Schauspiel Köln: 18. Januar 2019
Weitere Termine: 21., 22., 27.01./ 01., 02., 05., 10., 16., 17.02.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln


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