Auf der
Drehbühne
der Gewalt
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Das Erdbeben in Chili am Residenztheater München | Foto (C) Sandra Then
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Bewertung:
Keine Frage, die Novelle Das Erdbeben von Chili von Kleist ist DAS (klassische) Stück der Corona-Stunde. Deshalb steht es wohl nicht nur in München am Residenztheater, sondern auch in Nürnberg am Staatstheater neu auf dem Spielplan. In der bayerischen Landeshauptstadt hat sich Ulrich Rasche damit einem Stoff und einer Sprache gewidmet, die für sein „Überwältigungstheater“ wie geschaffen erscheint. Kleists komplizierte Geschichte, die als knapper Bericht scheinbar einfach daherkommt, entwickelt sich im Gehen auf einer Drehbühne, Schritt für Schritt, Wort für Wort, langsam und unaufhaltsam, sich steigernd bis zum bitteren Ende.
Eine Naturkatastrophe bricht über die Menschen herein, das Erdbeben. Wie gehen sie damit um? Zunächst hilft man einander. Das Unglück hat alle gleich gemacht. Es scheinen sich neue, bessere Zeiten anzukündigen. Aber dann muss gleich wieder ein Schuldiger gesucht, ein Opfer gebracht werden. Das ist vor allem das Liebespaar Jeronimo und Josephe. Ihre nicht standesgemäße Beziehung, die Josephe zur ledigen Mutter macht, trägt die Verantwortung. Gott straft den Sittenverfall. Und alles bleibt beim Alten: „Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir erleben davon nichts, als bloß den Umsturz der alten“, schrieb Kleist, der Napoleons Kriegszüge erlebte, in einem Brief.
Rasche, bekannt für die riesigen Maschinen, die er auf die Bühne stellt, hat sich diesmal (Corona zwang zur Sparsamkeit) mit einer einfachen Drehscheibe begnügt. Neun Schauspieler*innen in Schwarz schreiten auf ihr im Kreis zu eigens komponierter Musik (Nico van Wersch). Geführt von einer ausgeklügelten Choreographie mit wechselnden Erzählerrollen deklamieren sie jeden einzelnen Satz laut und langsam wie zum Mitschreiben, so wie man es von dem Regisseur kennt. Kleists raffiniert verschachtelte Sprache - über weite Strecken so distanziert, als sei der Erzähler ein bloßer Chronist - verträgt das nicht nur, sie erblüht zur Verständlichkeit. Gerade im Kontrast zum martialischen Duktus des permanenten Marschrhythmus (großartig: der E-Bass von Heiko Jung, E-Piano und E-Orgel von Lilijan Waworka, Percussion von Fabian Löbhard, Fabian Strauss): die Gewalt der Natur und des Mobs ist latent immer da. Das Weltgericht setzt nicht aus - auch wenn die Tragödie einen idyllischen Moment lang innehält, alle Menschen Brüder zu werden scheinen und das Liebespaar sich gerettet und wieder in die Gesellschaft aufgenommen glaubt. Wunderbar beleuchtet (Licht: Gerrit Jurda) von drei großen Leuchtquadraten, die sich auf die leere Bühne senken, zunächst in hoffnungsvollem Zartrosa, dann in einem warmen Goldton – bevor die verheerende Deutung der Kirche die Szene in gnadenloses Kardinals-Violett taucht.
Am Ende steht Mord und Totschlag. Nicht nur das Liebespaar wird zum Opfer der Massenhysterie. Da gibt Kleist die indirekte Rede auf und lässt seine Haupt-Figuren selbst zu Wort kommen, chancenlos, doch verzweifelt kämpfend. Hier zeigt die Inszenierung die positiven Möglichkeiten des Individuums. Am Ende, als Kleist sich wieder in die Chronistenrolle zurückzieht, steht die Drehscheibe still, die Musik verstummt, das menschliche Gefühl bricht sich Bahn. Nicola Mastroberardino darf als Don Fernando die letzten Kleist-Sätze ganz leise sprechen.
Ein großer Abend voller Kraft, aber nicht ohne Differenzierungen, bewunderswert in Szene gesetzt von allen Mitwirkenden. Die um des aktuellen Bezugs eingefügten Texte von Papst Franziskus oder Zukunftsforscher Matthias Horx hätte es vielleicht gar nicht gebraucht. Doch sie fügten sich gut in das Gesamtgeschehen. Rasche at his best.
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Barbara Horvath, Linda Blümchen, Noah Saavedra, Nicola Mastroberardino, Mareike Beykirch und Pia Händler (v.l.n.r.) in Das Erdbeben in Chili am Residenztheater München | Foto (C) Sandra Then
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Petra Herrmann - 28. September 2020 ID 12494
DAS ERDBEBEN IN CHILI (Residenztheater, 27.09.2020)
Inszenierung und Bühne: Ulrich Rasche
Komposition und Musikalische Leitung: Nico van Wersch
Kostüme: Romy Springsguth
Video: Florian Seufert
Chorleitung: Jürgen Lehmann
Licht: Gerrit Jurda
Dramaturgie: Constanze Kargl
Mitarbeit Regie: Dennis Krauß
Mit: Mareike Beykirch, Linda Blümchen, Pia Händler, Barbara Horvath, Thomas Lettow, Nicola Mastroberardino, Antonia Münchow, Johannes Nussbaum und Noah Saavedra sowie den MusikerInnen Heiko Jung (E-Bass), Lilijan Waworka (E-Piano und E-Orgel) und Fabian Löbhard / Fabian Strauss (Percussion)
Premiere am Bayerischen Staatsschauspiel: 25. September 2020
Weitere Termine: 04., 17., 18.10.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de/
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