Der kleine
Diktator
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Der Untertan an der Vaganten Bühne Berlin | Foto © Manuel Graubner
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Bewertung:
Bedingungslose Gefolgschaft und unterwürfige Hörigkeit können weitreichende Folgen haben. Dies veranschaulicht Heinrich Manns unterhaltsamer und zeitkritischer Gesellschaftsroman Der Untertan (1918). Mann publizierte seine visionäre Prognose des Untertanengeistes am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Das Kaiserreich, Duckmäusertum und ein großer Anpassungsgeist waren damals noch sehr präsent. Regisseur Lars Georg Vogel bearbeitete das Werk eindrucksvoll für die Bühne und zeigt prägnante Momentaufnahmen aus dem Roman.
Es gibt nicht nur bewegende Theatermomente, nein, man darf sich auch als Publikum viel bewegen. Nachdem alle Zuschauer Kopfhörer erhalten haben, richten die Darsteller zu Beginn im Theaterfoyer vereinzelt Worte an Zuschauer. So verrät mir der Kaiser – mit beeindruckender Schleppe in den Farben der Deutschlandfahne – im Zwiegespräch seine über hundert Zunamen und Titel, die er mir auf einer Visitenkarte mitgibt. Dann wird plötzlich eine Revolution ausgerufen, und die sieben Darsteller eilen flugs gemeinsam mit den Zuschauern zu einem Hof hinter dem Theater.
Aus hoch gelegenem Fenster richtet der Kaiser (ausdrucksstark: Samira Julia Calder) pathetische Worte an das Volk. Der Titelheld der Geschichte, Diederich Heßlich (sehr wandelbar: Joachim Villegas), zeugt dem Kaiser mit ebenso großspurigen Tönen seinen Tribut. Ein rebellischer Arbeiter, der die hohlen Phrasen des Kaisers kritisiert, wird derweil auf offener Straße erschossen. Trotz geschockter Reaktionen der Frau des Arbeiters und einiger anderer Bürger geht die Expedition sogleich im feierlichen Duktus weiter.
Darsteller und Zuschauer ziehen gemeinsam zum Theater des Westens, dessen machtvolle Außenfassade bereits mit seiner repräsentativen Mischung aus Renaissance-, Jugendstil- und Empire-Elementen beeindruckt. Im erleuchteten Foyer sprechen Heßling und der Kaiser nun über die erhabene „deutsche Kunst“ und den Wohlklang der Opern Wagners. Die Zuschauer können sich an den Kristall-Lüstern im Saal ergötzen, bevor es zu der eingespielten Musik des Badenweiler Marsches über die seitliche Kaisertreppe wieder hinein in die Vagantenbühne geht. Hier beginnt nun im Theatersaal die eigentliche Bühnenhandlung.
Nun gebärt sich Diederich Heßling - jetzt ohne Brille und in kurzer Hose – erstaunlich authentisch als schwächliches Kind. Sein Vater, ein kleiner Papierfabrikant, straft ihn auch körperlich für kleine Vergehen. Dies stärkt jedoch Diederichs Liebe zum Vater und seine unterwürfige Gehorsamkeit nur. Diederich darf bald das fiktive Städtchen Netzig verlassen. Er wird vom Vater zum Studieren nach Berlin geschickt. Hier macht er zusammen mit den Kommilitonen die Kneipen unsicher, trinkt Bier und isst Bratwurst. Er entdeckt seine Liebe zum Kaiser. Als Doktor kehrt er zum väterlichen Betrieb zurück. Alsbald verbreitet er in Netzig mit missionarischem Eifer seinen Glauben an bedingungslose Deutschtümelei verbunden mit Kaisertreue. Mit großer Leidenschaft schätzt er die Ordnung und unterwirft sich zwanghaft der Macht des Stärkeren gemäß der Devise: Nach oben buckeln, nach unten treten.
Grausam verstößt er bald die sanfte, unschuldige und romantisch veranlagte Jugendliebe Agnes Göppel (Senita Huskić) und heiratet aus pragmatischen Gründen die begüterte, dominante und praktisch veranlagte Guste Daimchen (Samira Julia Calder). Neben der Obrigkeitshörigkeit ist Diederich von Angst und Gier getrieben, die er selbst als tugendhafte Disziplin, Strebsamkeit und Männlichkeit wahrnimmt. Beim Militär und als Stadtverordneter tut sich Friederich mit seiner tadellosen Unterwürfigkeit hervor.
Aufgrund seines steigenden lokalpolitischen Einflusses und beruflicher Erfolge verfestigt sich bald die rechtskonservative Haltung Diederichs, die sowohl Sozialdemokraten als auch Juden oder Menschen in Armut ablehnt. Auch seine Untergebenen in der Fabrik bestraft Diederich alsbald mitleidlos und grausam. Er verlangt ihnen schier unmenschliche Leistungen ab. Auf der Bühne zählen die Darsteller der Fabrikarbeiter so ebenso eifrig wie überfordert die einzelnen Papierfetzen einer Toilettenrolle oder einzelne Blätter eines immensen Stapels an Papier.
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Die Vorführung beeindruckt mit karikaturistischen Szenen, wenn Heßling etwa während der Verhandlungen um ein Grundstück mit seiner Obrigkeitstreue weniger unterwerfungswillige Gesprächspartner in Verlegenheit bringt oder auch zum Ende hin eine fanatische Rede hält, die bereits dem Tonfall Hitlers ähnelt. Für Bewegung ist auch zu Beginn des zweiten Teils nach der Pause gesorgt, der auf einem Podest im Theaterfoyer beginnt. Ein höchst gelungener und szenisch ausgefeilter Theaterparcours der besonderen Art.
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Der Untertan an der Vaganten Bühne Berlin | Foto © Manuel Graubner
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Ansgar Skoda - 10. Mai 2019 ID 11405
DER UNTERTAN (Vaganten Bühne, 03.05.2019)
Regie & Ausstattung: Lars Georg Vogel
Regieassistenz: Alexander Schatte und Christopher Scheichen-Ost
Produktionsdramaturgie: Valeska Graffé
Technische Leitung: Benjamin Laber
Mit: Samira Julia Calder, Isabella Heller, Senita Huskic, Andreas Klopp, Ulf Peter Schmitt, Tobias Steinhardt und Joachim Villegas
Premiere war am 7. September 2017.
Weitere Infos siehe auch: https://www.vaganten.de
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