Grenzverwischungen zwischen Spiel und Wirklichkeit
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Jakob D'Aprile als Paul und Lou Zöllkau als Elisabeth in Kinder der Nacht am Schauspiel Köln | Foto © Tommy Hetzel
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Bewertung:
Ein Aufbrausen der Gefühle und Sehnsüchte, Tabubrüche, Ausgelassenheit, Melancholie und Todessehnsucht - in der Adoleszenz ist vieles noch möglich. Die Zukunft liegt offen vor einem. Jean Cocteau erzählt in seinem Roman Les Enfants Terribles (1929) von einem heranwachsenden Geschwisterpaar, das sich selbst genug zu sein scheint. Hiermit schuf er einen kontroversen Literaturklassiker, in dem Jugendliche Grenzen bewusst überschreiten. Sie handeln unsozial, unmoralisch und rücksichtslos. Der französische Schriftsteller, Regisseur und Maler prägte seinerzeit den Ausspruch, dass jede künstlerische Arbeit Poesie sei. Auch die beiden jungen Erwachsenen, von denen Cocteau erzählt, drängen darauf, sich in irgendeiner Form zu verwirklichen.
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Melanie Kretschmann brachte mit Kinder der Nacht am Schauspiel Köln den Roman als Kammerspiel zur Uraufführung. Die Szenerie wechselt hier mindestens so häufig zwischen Düsternis und Komik, wie das Bühnenbild variiert.
Tänzer des jugendlichen Tanzensembles nutrospektif eröffnen mit wirbelnden, dunklen Capes den Abend. Ihre Choreographie wandelt sich alsbald zu einer Schulhofszene, bei der es zu einer Schneeballschlacht kommt. Der 15jährige Paul wird von einem harten Schneeball getroffen und fällt darnieder. Geworfen hatte ihn ausgerechnet Dargelos, jener Schüler, in den sich Paul verliebt hatte. Gérard, Pauls bester Freund, bringt den zu Boden Gefallenen in dessen Pariser Wohnung. Hier versorgt Pauls 17jährige Schwester Elisabeth bereits die ans Bett gefesselte, geistesabwesende Mutter. Die scheinbar völlig überforderte Alleinerziehende vernachlässigt ihre Kinder. Sie bleibt die meiste Zeit stumme und teilnahmslose Beobachterin. Die Geschwister widmen sich fortan gemeinsamen Spielen, Zanken und Schmusen. Immer mehr wird dem wiederholt auftauchenden Gérard bewusst, dass er die zerstörerisch-symbiotische Liebe der Geschwister als fünftes Rad am Wagen stören könnte. Als Elisabeth selbst eine Freundin, Agathe, mitbringt, gerät das fragile Zusammenspiel der Anziehung und Abstoßung zwischen den Geschwistern ins Wanken. Denn Agathe sieht Pauls Schwarm Dargelos zum Verwechseln ähnlich. Die inzestuöse Beziehung droht zu bröckeln, was der gekränkten und eifersüchtigen Elisabeth jedoch gar nicht Recht ist. Wutentbrannt schmiedet sie Rachepläne.
Das mit beweglichen Wänden und allerlei Wohn-Accessoires ausgestattete Bühnenbild legt die meiste Zeit den Fokus auf zwei schmale Metallbetten. Das eine gehört Paul. Hier sucht ihn Elisabeth regelmäßig auf, auch um den Kranken zärtlich zu entkleiden. Im anderen Bett liegt die völlig weggetretene Mutter aufgebahrt. Oberhalb der Schlafstätten sind zahlreiche Bilder und Fotos im wilden Durcheinander angebracht. Diese zeugen von Kreativität; ähnlich dem ständigen sich An, -Aus und Umziehen der Geschwister. Eine Musikbox komplettiert das recht lieblos anmutende Ambiente. Sie sorgt für stimmungsvolle Musik während der Vorstellungs-Umbaupausen. Im Inneren dieser Jukebox deponieren die Geschwister erst imaginäre und später auch reale Gifte. Zunehmend wird das Spiel zwischen Realität und Imagination riskant, nicht erst als Elisabeth mit Dia-Bildern ihre Vorstellungen eines Hauspalastes an die Wand projiziert.
Lou Zöllkau wettert als Elisabeth ätzend flapsig. Sie weiß sich gegenüber den anderen Figuren berechnend und perfide durchzusetzen und genießt ihre unbändige Lust beim Foppen oder Entblößen des kleinen Bruders. Jakob D’Aprile mimt diesen ein bisschen infantil und blass mit meist freiem Oberkörper als beeinflussbaren, jungen Schönling. Er umgarnt die Schwester und kostet die Abhängigkeit von ihr aus, ist manchmal jedoch auch von ihr genervt. Recht einfältig und ein bisschen farblos gestalten Loris Kubeng als Gérard und Martha von Melchow als Agathe ihre Figuren der Anhängerschaft des Geschwisterpaares. Schlussendlich sticht Birgit Walter in der Rolle der vollends entrückten Mutter durch mindestens zu Anfang beeindruckende Schockstarre hervor. Man hält sie in ihrer völligen Reglosigkeit auf ihrem Bett anfangs noch für eine lebensgroße Puppe. Doch bald darf sie sich regen und in einem völlig haarsträubenden, wahnhaften Monolog ein verqueres Bild ihrer Kinder zeichnen.
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Leider vermag jedoch auch Walters ausdrucksstarke Performance über die recht unentschlossene Collage von Kinder der Nacht schwerlich hinwegzutäuschen. Die Verwahrlosung der Kinder, bei der trotzdem der Spüldienst, der Zustand der Wohnung und der WLAN-Code Thema werden, wirkt einigermaßen banal und belanglos. Die zahlreichen Slapstick-und Musik-Einlagen erscheinen etwas zu gewollt und deplatziert, um das Stück wirklich voranzutreiben. Als Zuschauer fällt zumal bald die Unterscheidung zwischen der Realität und der tagträumender Imagination der Figuren im Stück schwer. Anrührend, anregend oder zu Denken gebend ist hier leider nur wenig.
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Kinder der Nacht am Schauspiel Köln | Foto © Tommy Hetzel
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Ansgar Skoda - 6. Februar 2019 ID 11192
KINDER DER NACHT (Offenbachplatz, 02.02.2019)
Regie: Melanie Kretschmann
Bühne: Thomas Garvie
Kostüme: Nina Kroschinske
Projektionen / Film: Marina Diez Schiefer
Choreografie / TänzerInnen: nutrospektif
Licht: Michael Frank
Dramaturgie: Michaela Kretschmann
Besetzung:
Elisabeth … Lou Zöllkau
Paul … Jakob D'Aprile
Mutter … Birgit Walter
Gérard … Loris Kubeng
Dargelos/Agathe … Martha von Mechow
Youngsters ... Mathilda Eis, Robin Bachmann, Ella Theresia Brauksiepe, Tabea Bernsmann, Johannes Mickler, Lorena Denedri Willms und Flora Leu Wermser
Junges Ensemble (mit Johann Bae, Kevin Claudio Ponge Kassoma, Anna Tafel)
Premiere am Schauspiel Köln: 26. Januar 2019
Weitere Termine: 08., 09., 30.03.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln
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