Melancholie und
Verlorenheit
|
Ellen Hellwig (vorn) in Winterreise / Winterreise-Inszenierung am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
|
Bewertung:
Die langen, flächigen Theatertexte von Elfriede Jelinek bieten RegisseurInnen immer wieder ein reiches Betätigungsfeld. Den Regieideen sind durch die Autorin keine Grenzen gesetzt, vorausgesetzt man hat welche - also Ideen. Die Grenzen muss man sich natürlich auch selbst setzten, sprich den Text ENTSPRECHEND einkürzen. Ein Paradebeispiel eines solchen Textungetüms ist das 2011 von Johan Simons in den Münchner Kammerspielen uraufgeführte Stück Winterreise. Es ist vermutlich Jelineks persönlichstes Stück. Ein Resümee der damals 65jährigen Literaturnobelpreisträgerin. Auch ein sehr philosophischer Text über die Einsamkeit, das Sein und die vergehende Zeit, orientiert an dem gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert zu den lyrischen Texten von Wilhelm Müller.
Zeit zurückzuschauen im Corona-Lockdown hatte wohl auch der Leipziger Intendant Enrico Lübbe. Er setzt mit der Inszenierung Winterreise/Winterreise seine theatralen Doppelbefragungen von Stücktexten fort. Wobei das im Fall der Winterreise fast schon zu nahe liegt. Andere RegisseurInnen des viel gespielten Stücks konnten dieser Versuchung jedenfalls bisher meist widerstehen. Einen besonderen Mehrwert verspricht diese Art der melancholischen Verdoppelung jedenfalls nicht. Zumindest kann man sich aber auf Schuberts Musik freuen. Das Schauspiel Leipzig ist bekannt für hervorragendes Musiktheater, und auch Regisseur Lübbe hat bereits einige Jelinekstücke inszeniert.
Den Schwerpunkt legt Lübbe dann auch entsprechend der musikalischen Begleitung auf die Einsamkeit des lyrischen Ichs, das bei Müller wie auch bei Jelinek fragend umherirrt und nirgends ein Heim findet. Bühnenbildner Etienne Pluss hat dem Regisseur dafür eine Seilbahn-Station auf einem Berg mit Betonportal gebaut. Manchmal setzten sich die Rollen auch quietschend in Bewegung, nur dass keine Gondel aus dem Tal heraufkommt. Oben sitzt eine Gruppe verlorener Wanderer, die Halt in Schuberts Liedern suchen und hin und wieder Jelineks Texte sprechen. Ein verschrobenes Völkchen, ganz wie in vielen Inszenierungen von Christoph Marthaler. Als Coup hat Lübbe für die musikalische Leitung sogar ein altes Marthaler-Urgestein, den Musiker Jürg Kienberger gewinnen können, u.a. bekannt aus dem Volksbühnen-Klassiker Murx den Europäer! mit dem Kulthit "Danke".
Schuberts Leiermann-Lied, das Elfriede Jelinek zur Reflexion des eigenen vergeblichen Schreibens („immer die gleiche Leier“) inspirierte, steht ganz am Anfang bei noch geschlossenem Gazevorhang, auf den Bilder von Wanderern im Schneegebirge projiziert werden. Tilo Krügel als Umherirrender gibt dann die Passagen, in denen Jelinek u.a. Heideggers Seins-Theorien verhandelt. Geworfen sind hier irgendwie alle, auch gebeutelt von Winden, denen sich die kleine, aus der Zeit gefallene Seilschaft entgegenstemmt. Dazu wird chorisch Das Wirtshaus („Auf einem Totenacker…“) oder Die Wetterfahne gesungen. Wenn aus dem Tale der Hüttenhit "Hurra die Gams" wummert, wird oben mit einem zarten "Am Brunnen vor dem Tore" dagegen gehalten. Die Melancholie der Texte und Lieder lässt Lübbe mit Slapstickeinlagen, Telefonklingeln und einem kauderwelschenden Kofferträger (Miloslav Prusak) als Running Gag brechen. Aber auch das verstärkt nur die marthalernde Wirkung.
Einen großen Auftritt hat zumindest noch Julia Berke mit einem Text über die Schwierigkeit beim Orgelstudium und den Zusammenhang von Musik, Zeit und Raum. Ihr im Stakkato wiederholtes Fazit lautet: „Rhythmisch bleiben!“ Anderes klingt dann doch schon etwas beliebig aus dem Zusammenhang gerissen. Jule Roßberg spricht über die Verfügbarkeit in den Online-Netzwerken, und Denis Petković philosophiert über die Technik, die Zeit und das Sein. Dazu gibt es Die Nebensonnen, wobei alle VR-Brillen tragen, oder das Wegweiser-Lied, obschon dieser Inszenierung so langsam Richtung und Ziel verlorengegangen scheinen. Final läuft es auf den Monolog von Ellen Hellwig, der 74jährigen Grande Dame des Schauspiel Leipzig zu. Ein halbstündiges Sinnieren eines alten Mannes, dessen Verstand verschwindet und mit dem Jelinek ihren dementen Vater meint. Ein letztes Aufbäumen gegen das Vergessen und Verdrängen aus der Zeit. Kienberger begleitet sie dabei zart auf der Glasharfe. Solche bemerkenswerten Einzelleistungen gab es auch in anderen Inszenierungen von Jelineks Winterreise. Der starke Schlusspunkt eines ansonsten recht unentschiedenen Abends.
|
Winterreise / Winterreise am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
|
Stefan Bock - 29. September 2020 ID 12499
WINTERREISE / WINTERREISE (Schauspiel Leipzig, 27.09.2020)
Regie: Enrico Lübbe
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Bianca Deigner
Musikalische Leitung: Jürg Kienberger
Korrepetition und Bühnenmusik: Franziska Kuba und Philip Frischkorn
Dramaturgie: Torsten Buß
Licht: Ralf Riechert
Mit: Julius Forster, Ellen Hellwig, Franziska Hiller, Jürg Kienberger, Tilo Krügel, Denis Petković, Jule Roßberg, Miloslav Prusak und Julia Berke
Premiere war am 25. September 2020.
Weitere Termine: 03., 24., 25.10.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-leipzig.de/
Post an Stefan Bock
Freie Szene
Live-Stream
Neue Stücke
Premieren
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|