"Wie die
Deutschen
so verrohen
konnten"
60 Jahre DER STELLVERTRETER von Rolf Hochhuth
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Georg Preusse als Der Stellvertreter in dem gleichnamigen Stück von Rolf Hochhuth am Schlosspark Theater Berlin | (C) DERDEHMEL/Urbschat
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Bewertung:
Dieter Hallervorden bewahrte vor 10 Jahren das über die Stadtgrenzen hinaus berühmte und selbstredend traditionsbelad'ne Schlosspark Theater Berlin (wo Martin Held, Bernhard Minetti, Curt Bois, Michael Degen einstmals regelmäßig spielten) durch den engagierten Zuschuss einer nicht ganz unbedeutenden Summe seines Privatvermögens und (was höchstwahrscheinlich noch bedeutungsvoller war) durch seine ab dem Zeitpunkt inkludierte Führung der Geschäfte resp. Intendanz vor dem Ruin. Seither ging es, "rein wirtschaftlich" gesehen, auf und ab - die Ticket- oder andre Einnahmen nebst Lotto- oder andrer Zuwendungen deckten kaum die Ausgaben; es drohte und es droht - wie meistens bei Privattheatern - immer irgendwie das Aus; und immer irgendwie fand sich dann doch ein Weg, der es vor dem Zusammenbruch bewahrte. Jetzt fallen angeblich alle Lotto-Mittel weg, und es droht diesbezüglich eine neue Katastrophe. Der Senat muss sich was einfall'n lassen! Die Theater sind, wenn man sie schon nicht/nicht mehr subventionieren will, auf zielführend-erhaltende und sie vor dem stillschweigenden Verschwinden schützende und also clevere (INTELLIGENTE!) Lösungen durch Stadtverantwortliche angewiesen. Berlin punktete und punktet stets mit seiner obsessiv sich zeigenden Kulturvielfalt. Und die Theaterlandschaft, also die gesamte Breite aller produzierenden und spielenden Theater, ist nun mal ein untoppbares Gut!!
Ja, sowieso: Der aktuelle Spielplan ist sehr ausgewogen und auf das Vorzüglichste gemischt. Es gibt diverse Sprechtheater-Klassiker wie beispielsweise Lessings Nathan, Volpone von Jonson und Die Kleinbürgerhochzeit von Brecht (mit dem einstmaligen BE-Star Carmen-Maja Antoni!). Daneben findet sich gepflegter und perfekt gemachter Boulevard, auch Musicals und Liederabende werden gegeben usf.
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Und mittendrin in dieser neuen Umbruchzeit - nicht nur für das Theater sondern auch im Allgemeinen, wenn man sich z.B. diese rechtstönende Stimmungsmache, die das Land derzeit etwas verhässlicht, ins Bewusstsein ruft - hat Hallervorden jetzt Rolf Hochhuth´s Stück Der Stellvertreter, das vor 60 Jahren im Berliner Theater am Kurfürstendamm uraufgeführt war, angesetzt.
Hochhuth hatte die zwiespältige Haltung von Papst Pius XII. (1876-1958) zur Judenverfolgung und -vernichtung im Dritten Reich thematisiert. Es ging und geht also um Vatikan & Holocaust, v.a. aber auch um eine ganz bestimmte (nicht bloß deutsche) Geisteshaltung, die es erst ermöglichte, dass es zu solchen Barbareien kam. Das Stück schlug damals ein wie eine Bombe, lange Zeit ergingen sich Betroffene und Nichtbetroffene in der sog. "Stellvertreter-Debatte", und es kam sogar zu diplomatischen Verwicklungen... Gerade jetzt und heute [s.o.] scheint es wieder angebracht zu sein, sich dem mit einem ganz bestimmten (nicht bloß deutschen) Zeitgeist auseinandergesetzt habenden Text erneut zu stellen, einen Spiegeltest an sich wagen.
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Regisseur Philip Tiedemann (der Hochhuth´s Stellvertreter seiner Zeit auch am BE verantwortete) erstellte eine Strichfassung des in realo kaum, auch nicht an Riesenbühnen, stemmbaren Gesamttextes im Umfang von 360 Buchseiten mit 45 Figuren, die von 25 Schauspielernden zu besetzen wären; Hochhuth wird mit dieser Variante sicher einverstanden gewesen sein - sonst wäre es wohl nicht zu dieser Aufführung gekommen.
Die Ausstattung Stephan von Wedel´s entwarf in sich verschachtelbare Trenn- und Rahmenelemente, die zu schnellen Szenenwechseln und veränderbaren Optiken auf der ggf. in Bewegung seienden Drehbühne führten.
Ich hatte Hochhuth´s Stellvertreter nie zuvor gesehen und auch nie zuvor gelesen. Daher war für mich das jetzt in live hörbar gewes'ne Text-Erlebnis, trotz der reduzierten Auswahl, eine Offenbarung. Diese Art Theater, die man heutzutage (leider) nicht mehr schreibt bzw. nicht mehr rezeptorisch anzunehmen willens ist, birgt eindeutige also unverklausulierte Wahrheiten, Wahrhaftigkeiten in der Aussage. Es trifft bei manchen Stellen wie ein Keulenschlag. Es schärft die Wahrnehmungsbereitschaft, es berührt, es klärt meinen Verstand und - rüttelt unbarmherzig auf! Was kann Theater mehr?
Joachim Bliese, Winfried Peter Goos, Tilmar Kuhn, Oliver Nitsche, Mario Ramos und Martin Seifert [in alphabetischer Reihenfolge] verkörperten die klerikalen Spieler/Gegenspieler. Georg Preusse (aus den 1980ern als legendäre Mary aus dem legendären Travestie-Gespann Mary & Gordy in Erinnerung) meisterte seinen Part als Papst erstaunlich gut.
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Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth am Schlosspark Theater Berlin | (C) DERDEHMEL/Urbschat
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Zählt Hochhuth´s Der Stellvertreter eigentlich zum allgemein- oder geschichtsbildenden Schulstoff? Und falls ja (und auch falls nicht) - ab 1. 10. gibt es eine weitere Aufführungsserie dieser hochempfehlenswerten Inszenierung am Schlosspark Theater Berlin! Auch für Jugendliche dringend zu empfehlen!!
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Andre Sokolowski - 11. September 2018 ID 10903
DER STELLVERTRETER (Schlosspark Theater Berlin, 10.09.2018)
Regie: Philip Tiedemann
Bühne & Kostüm: Stephan von Wedel
Musik: Hendrik Kairies
Regieassistenz: Viktoria Feldhaus
Besetzung:
Pater Riccardo Fontana / Leutnant von Rutta ... Tilmar Kuhn
Helga / Carlotta ... Krista Birkner
Der Apostolische Nuntius / Eichmann / ein Ordensgeneral / Witzel ... Mario Ramos
Kurt Gerstein / Oberst Serge ... Oliver Nitsche
Kardinal / Professor Hirt ... Martin Seifert
Graf Fontana / Baron Rutta ... Joachim Bliese
Jacobson / Salzer / ein Schreiber ... Winfried Peter Goos
Papst Pius XII. ... Georg Preusse
sowie die Stimme von Coco Schumann
Premiere war am 8. September 2018.
Weitere Termine: 01.-07.10. / 19.-24.11. / 04.-06., 08.12.2018 // 07.-14.01.2019
Weitere Infos siehe auch: http://www.schlossparktheater.de
http://www.andre-sokolowski.de
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