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nachDRUCK # 5

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Tanz

Totale und

Großaufnahme



Sospesi mit Matteo Miccini und Mackenzie Brown | Foto (C) Roman Novitzky/ Stuttgarter Ballett

Bewertung:    



Das Stuttgarter Ballett setzt seine Serie von jeweils drei neuen Choreographien unter dem Titel CREATIONS XIII-XV fort. Die erste, Sospesi von Vittoria Girelli [s. Foto o. re.], ist auch schon der Höhepunkt des Abends und schwer zu überbieten. An vier senkrechten, unten nach vorne abgebogenen weißen Flächen scheinen die Tänzerinnen in dunklen ärmellosen Trikots und die Tänzer mit nackten Oberkörpern und gegeltem Haar vereinzelt in der Luft zu schweben, bis sie sich zu einer Gruppe versammeln und wieder in unterschiedlichen Formationen voneinander trennen. Mit wie Flügel zur Seite ausgestreckten Armen erinnern sie an riesige Vögel. Die Choreographin bezieht sich im Programmheft auf Die Vögel von Aristophanes, aber auch auf Hieronymus Bosch. Die Aktionen in den einzelnen Teilen des intelligent genutzten Bühnenraums fügen sich, parallelisierend und kontrastiv, zu einem ästhetisch überzeugenden Ganzen. Von den drei aktuellen Kreationen knüpft diese am ehesten an das klassische Ballett an, aber sie ist kein bisschen verstaubt, höchstens etwas weniger modisch.

Die Musik von Elgar und Schubert kommt etwas zu laut aus den Boxen, besonders reizvoll ist das sich nach und nach anmeldende, von Davidson Jaconello verfremdete Nachtstück Nr. 20 von Chopin. Am Schluss sinkt ein verbliebenes Paar wie tot zu Boden, das Licht erlischt langsam. Man möchte die Stille in sich nachwirken lassen, aber nichts da, die kreischenden Fans gönnen einem keine Besinnung. Ab an die Tische mit den vorbereiteten Getränken und Butterbrezeln – Ballettpremieren sind in Stuttgart immer auch Geselligkeiten für die Insider –, ehe das Wechselbad der Stilrichtungen und Stimmungen zur zweiten Creation ruft.

*


Where does the time go? mit Christopher Kunzelmann, Daniele Silingardi, Alessandro Giaquinto und Fabio Adorisio | Foto (C) Roman Novitzky/ Stuttgarter Ballett


Where does the time go? Von Samantha Lynch kommt einem kurzen Handlungsballett schon recht nahe. In rostbrauner lockerer Kleidung sitzt das Ensemble um einen langen Tisch, heftig gestikulierend wie in einem leidenschaftlichen Streit. Die einzige sichtbare Lichtquelle ist eine überdimensionale Hängelampe. Das könnte in einer Spelunke spielen oder auch in einer Gefängniskantine. Ein Paar löst sich aus der Gruppe und tanzt einen Pas de deux, der an einen erotisch aufgeladenen intimen Gesellschaftstanz denken lässt. Der Tisch im Mittelgrund wird nach und nach kürzer – eine Metapher für das Verschwinden von (Lebens)Zeit, wie uns die Choreographin im Programmheft verrät. Ob das jemand, ohne den Hinweis, so versteht? Nur aufgrund des Titels, der, wie die anderen Titel, erst spät statt N.N. online angekündigt (und ausgedacht?) wurde.

* *

Nummer drei: Averno (Hölle) von Morgann Runacre-Temple. Averno ist, wie wir wiederum aus dem Programmheft erfahren, „ein Kratersee in Italien, in der Nähe von Neapel, der im alten Rom als Eingang zur Unterwelt angesehen wurde“. So leicht wird es uns Theaterbesuchern nicht mehr gemacht wie in einer Epoche, in der der Titel Schwanensee einen Schwanensee und Der Feuervogel einen auf der Bühne zweifelsfrei sichtbaren Feuervogel ankündigte. Eine Ahnung von Edward Hopper und David Lynch empfängt das Publikum: eine von innen beleuchtete Telefonzelle, ein veritables Auto, dessen grelle Scheinwerfer das Dunkel der Nacht durchschneiden. Auch hier wird eine Geschichte oder eine Folge von Assoziationen erzählt, alptraumhaft und klaustrophob, zur passend fragmentierten Auftragskomposition des Schweden Mikael Karlsson, der ganz offenkundig bei der Musik zu amerikanischen Fernsehserien sehr genau hingehört hat. Die Choreographin ist verliebt ins Detail. Ihm dienen auch, in diametralem Gegensatz zu den „Totalen“ von Vittoria Girelli, die Großaufnahmen in den Videoprojektionen. Castorf ist im Ballett angekommen. Ob das für den Tanz förderlich ist, ob es Zusammenhänge herstellt oder eher zerstört – darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.



Averno mit Edoardo Sartori, Ava Arbuckle, Mackenzie Brown, Irene Yang und Mitchell Millholin | Foto (C) Roman Novitzky/ Stuttgarter Ballett

* * *

Das Premierenpublikum im ausverkauften Schauspielhaus jubelte undifferenziert wie gewohnt. Die Choreographinnen durften sich allesamt strahlend lächelnd verneigen. Das Gute ist der Feind des Besseren. Das hat auch seine Vorteile. Wir brauchen nicht unbedingt Konkurrenz. Nur sollte man sich abgewöhnen, den Applaus als Gradmesser für Qualität zu bewerten. Das tut den Höchstleistungen Unrecht.

Thomas Rothschild - 26. November 2023
ID 14496
CREATIONS XIII - XV (Schauspielhaus Stuttgart, 25.11.2023)

Sospesi
Choreographie und Kostüme: Vittoria Girelli
Musik: Davidson Jaconello (Auftragskomposition), Edward Elgar, Franz Schubert, Frédéric Chopin
Bühnenbild: Francesca Sgariboldi
Licht: Lukas Marian

Where does the time go?
Choreographie und Bühne: Samantha Lynch
Musik: Luke Howard (Auftragskomposition), Ray Charles, Robert J. Byrd, Chuck Rio, Sandy Denny
Kostüme: Bregje Van Balen
Licht: David Sazinger

Averno
Choreographie und Konzeption Video: Morgann Runacre-Temple
Musik: Mikael Karlsson (Auftragskomposition)
Bühnenbild und Kostüme: Sami Fendall
Licht: D.M. Wood
Choreographische Assistenz: Hannah Rudd
Umsetzung Video: Harrison Cooke
Kamera: Daniel Keller und Roman Müller

Stuttgarter Ballett
Premiere war am 25. November 2023.
Weitere Termine: 29., 30.11./ 08.12.2023// 07., 17.01./ 08., 16.02.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.stuttgarter-ballett.de/


Post an Dr. Thomas Rothschild

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