Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Uraufführung

Frech durch

die Finsternis


TYLL von Daniel Kehlmann


Tyll am Schauspiel Köln | Foto © Tommy Hetzel

Bewertung:    



Wasser spiegelt und schafft etwas Bodenloses. Ein Abgrund eröffnet sich, da man nicht auf den Boden sehen kann. Eine große Wasserfläche bestimmt durchgängig Olaf Altmanns im Dunkel gehaltenes Bühnenbild zur Theateradaptation von Daniel Kehlmanns Roman Tyll (2017) am Schauspiel Köln. Bereits 2015 hatte eine dunkle Wasserfläche als Bühnenbild einer Inszenierung dortselbst für starke Bilder gesorgt - in Robert Borgmanns Adaptation von Knut Hamsuns Roman Segen der Erde. Marek Harloff, eines der prominenteren Ensemblemitglieder, durfte auch damals in einer Hauptrolle durch Wasser, Schlamm und von kurzweiligen Lichtblitzen erhellte Schwärze gleiten. In der Uraufführung von Tyll spielt Harloff mehrere Rollen und muss auch hier stets eigene Schritte auf unsicherem Boden im knöcheltiefen Wasser abwägen und vorsichtig erkunden.

Der 43jährige Erfolgsautor Kehlmann wendet sich in seinem jüngsten Roman dem umherlaufenden Schalk Tyll Ulenspiegel zu, einer möglicherweise realhistorischen Person aus dem 14. Jahrhundert. Als Protagonist wurde Till Eulenspiegel erstmals um 1510 in einer mittelniederdeutschen Schwanksammlung verewigt. Schon der sprechende Namen des Helden beflügelte die Literaten: Seit der Antike steht die Eule für Weisheit und ein Spiegel wird meist die entlarvende Funktion zugeschrieben, schonungslos die Wahrheit wiederzugeben. Dabei verfügt der Hofnarr auch über destruktive Eigenschaften. Mit respektlosem Spott, Täuschungen und Betrügereien lässt Eulenspiegel Könige und Gelehrte, aber auch Vertreter des einfachen Volkes auflaufen. Im frühen 16. Jahrhundert erschien ein Volksbuch mit gesammelten Streichen und listigen Scherzen des Gauklers. Autoren wie Wilhelm Busch, Christa Wolf und Gerhard Hauptmann widmeten sich in eigenen Variationen der Eulenspiegel-Legende. Auch Kehlmann variiert den historischen Stoff und lässt seine Titelfigur in facettenreichen Episoden durch verwüstete Landschaften des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) ziehen.

*

Stefan Bachmanns Bühnenfassung kürzt die Romanvorlage deutlich, behält Kehlmanns nicht chronologische Erzählweise jedoch bei und zeigt sieben unterschiedlich lange Episoden, die durch eine Erzählerin (Ines Marie Westernströer) und Videoprojektionen über Handlungszeit und –ort eingeleitet werden:

Die erste Episode spielt 1648. Im letzten Jahr des Krieges sucht ein Adliger des Wiener Hofs mit verschiedenen Bediensteten nach Tyll Ulenspiegel und wird dabei mit eigener Angst und Kriegselend konfrontiert. Danach wird in einer Episode um 1620 die Kindheit Tylls (Peter Miklusz) beleuchtet, die von Armut, Entbehrungen, Hunger und Gewalt geprägt ist. Nachts alleingelassen im Wald versucht der Müllersjunge Tyll die Welt mit Eselsaugen zu sehen und wird dafür grausam bestraft. Doch es kommt noch dicker. Zwei Jesuiten verurteilen Tylls wissbegierigen Vater (Jörg Ratjen) als Hexer. Tyll flieht anschließend mit der Bäckerstochter Nele (Kristin Steffen). In einer späteren Episode um 1632 sind Tyll und Nele bis nach Holland vorgedrungen und gehören hier als klassische Hofnarren zum Hofstaat vom verstoßenen "Winterkönig" Friedrich V. (Marek Harloff) und seiner Frau Elisabeth Stuart (Melanie Kretschmann). Die vierte Episode schließt direkt an die zweite an. Hier lernen Tyll und Nele den Gaukler Pirmin (Robert Dölle) kennen, der sie in die Arbeit des fahrenden Volkes einweist. Die Folgeepisode spielt um 1643. Athanasius Kirchner (Simon Kirsch), der für die Verurteilung von Tylls Vater verantwortlich ist, sucht mit zahlreichen Gelehrten in Holstein den letzten Drachen des Nordens. Er begegnet jedoch stattdessen einem Wanderzirkus rund um Impresario Tyll Ulenspiegel. In der sechsten Episode ist Tyll um 1644 als Mineur in einem Schacht unter Brünn verschüttet. Die letzte Episode beschäftigt sich mit den langjährigen Friedensverhandlungen um 1648. Die inzwischen verwitwete Elisabeth Stuart trifft in Osnabrück ein letztes Mal auf Tyll, nun ein Hofnarr des Kaisers in Westfalen.

Die Figuren bewegen sich schemenhaft auf der stets im Dunkeln gehaltenen Bühne, bis sich das Bühnenlicht auf sie richtet. Sie sprechen oft episch erzählend in der dritten Person, bevor es zu Dialogen oder Schlagabtäuschen kommt. Jana Findeklee und Joki Tewes entwarfen zeitgenössisch barockartig anmutende, wasserdichte Plastik-Kostüme. Peter Miklusz spielt Tyll überzeugend als Getriebenen. Marek Harloff mimt kleinlaut den verarmten, ratsuchenden und schwachen Exil-König. Robert Dölle setzt Glanzlicher als verschmitzter, ehrgeiziger und listiger Gaukler. Séan McDonagh gibt leicht entblößt einen sprechenden Esel. Auch Kristin Steffen überzeugt facettenreich als mädchenhaft-eifrige Nele und Melanie Kretschmann setzt eine ebenso herrisch-bestimmte wie verletzliche Königin nuanciert in Szene.

* *

Kehlmanns poetische Fantasie über einen gewitzten Überlebenskünstler zu Zeiten der Hexenverfolgungen, der Glaubenskriege, der fanatischen und grausamsten Machtausübung von Kirche und Staat wird am Schauspiel Köln mit eindrücklichen Bildern umgesetzt. Ohne die Vielzahl der Konflikte, Akteure, Strategien und Motive in Kriegszeiten völlig zu begreifen, vermag Tyll es, sich zu verstellen, eine eigene Leichtigkeit zu bewahren und sich in gewisser Hinsicht frei zu bewegen. Insbesondere das theatrale Bewusstsein, das Tyll durch sein Leben als Narr erwirbt, ist in der fein ausbalancierten, etwa vierstündigen Uraufführung des Romans auch eine stark umgesetzte Hommage an die Kraft des Theaters.



Tyll am Schauspiel Köln | Foto © Tommy Hetzel

Ansgar Skoda - 6. Oktober 2018
ID 10960
TYLL (Depot 1, 30.09.2018)
Regie: Stefan Bachmann
Bühne: Olaf Altmann
Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes
Mitarbeit Kostüme: Kerstin Grieshaber
Komposition und musikalische Einrichtung: Matti Gajek
Choreografie / Körperarbeit: Sabina Perry
Licht: Hartmut Litzinger
Dramaturgie: Julian Pörksen
Mit: Robert Dölle, Marek Harloff, Simon Kirsch, Melanie Kretschmann, Nicolas Lehni, Seán McDonagh, Peter Miklusz, Jörg Ratjen, Kristin Steffen, Ines Marie Westernströer, Markus Westphal und Matti Gajek
Uraufführung am Schauspiel Köln: 15. September 2018
Weitere Termine: 11., 14., 20.10. / 13., 17.11.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel.koeln


Post an Ansgar Skoda

skoda-webservice.de

Premierenkritiken

Uraufführungen



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:





THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

RUHRTRIENNALE

TANZ IM AUGUST

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)