Kinder- und Jugendliteratur:
Jugend schreibt
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Eine Kurzgeschichte:
Die rote Spur
Ich sitze auf dem Sofa und sehe Kain mir gegenüber in ihren Armen liegen. Zusammengekrümmt. Er schluchzt und schreit wie im Todeskampf. Man könnte sagen, ich bin der Besucher eines Theaterstückes, welches mir gerade geboten wird. Eine Tragödie. Der erste Akt hat gerade begonnen. Mir, der Zuschauerin, bleibt der Hintergrund für seinen Gefühlsausbruch noch vollständig verborgen.
Seine Schreie wirbeln in meinem Kopf, verwirren mich, reißen mit in den Graben der Depression. Eine seltsame Faszination packt mich. Es ist als würde sie mich am Arm ergreifen und mich vor ihm auf den Boden werfen. Ich bin unsagbar erleichtert seine Schmerzen endlich berühren zu können, sie haben eine Form angenommen. Nun sehe ich das vor mir was ich monatelang in ihm gesucht hatte. Verletzlichkeit. Menschlichkeit. Er redete sonst immer wie eine Maschine. Seine Worte lagen auf einem Fliesband auf dem sie
schnell vorüberzogen und nichts über seine Seele verrieten. Es scheint mir jetzt, als streife er die lästige Hornhaut ab, die mich die ganze Zeit an der Oberfläche hat verhungern lassen. Meinen Blick kann ich nicht abwenden, den Raum nicht verlassen. Ich, das einsame Publikum, bleibe - niedergedrückt von der Faszination.
Die Drogen wirken. Transparent fühle ich mich.
Realitätsverlust.
Die beiden Menschen verschmelzen miteinander zu einem heulenden Knoten. Fetzen von Worten, Sätze rückwärts gesprochen oder von Geschrei ganz verschlungen.
Sie sind unwirklich, Projektionen auf einer Leinwand. Ich sitze auf einem Kinosessel und lausche stumm der Vorstellung. Die Akteure gefangen in Selbstzerrissenheit berühren mich. Ich werde sie. Sie werden nicht ich. Ignoranz, Ablehnung, Ekel. Ich existiere nicht. Habe ich mich schon endgültig aufgelöst?
Ich will nicht allein sein, ich will nicht allein sein, ich will nicht allein sein. Er brüllt meine Gedanken frei heraus, brüllt sie immer wieder und sie schmerzen. Seine Tränen werden meine. Hör auf damit! Ich bin es nicht wert seine zu weinen, Verletztheit zu teilen. Weit entfernt höre ich Stimmen, dumpf, sie sagen Alkohol, ja, ja, das kenn ich gut, habe es oft gesehen, war niemals so.
Du schreist so laut. Ich will dich trösten. Ich will, dass du für mich kreischt. Ich will, dass du mich siehst. Ich bin nichts. Ich bin hässlich. Ich bin unerträglich. Ich bin nicht begehrenswert. Meine Unwissenheit tötet mich.
Meinen Körper spüre ich nicht mehr. Meine Gefühle weise ich wie eine Last von mir. Ich ertrage die Leere nicht, die sich unweigerlich in mir ausbreitet und festsetzt. Doch Gedanken verursachen blutende Wunden. Meine Haut umschließt ein Vakuum. Trügerische Ruhe. Seine Schreie erstarren in mir und haben keinen Nachklang mehr. Ich vermisse die Geborgenheit seiner Schmerzen. Ich hatte Sinn erfahren für einen kurzen Augenblick. Ich konnte seine Depression fühlen und mich dort einnisten. Er hinterlässt Spuren,
ist Inspiration, Poesie.
In meinem Kopf lauern scharfe, glitzernde Klingen. Sie befreien mich von dem Verlangen und der Qual dieses Augenblickes. Ich kann vergessen.
Ich bin viel gereist, habe viele Menschen besucht, war Gast in vielen Freundeskreisen. Ich habe sie leiden sehen: Trennungsschmerz, Todesfälle, Magersucht. Wie ein Panorama sehe ich nun meine Erlebnisse mit ihnen aufgereiht. Ein Bild neben dem anderen. Nacheinander werde ich in sie hineingesogen und befinde mich wieder in meiner Vergangenheit. Überall verstecken sich Gefühle, die ich längst vergessen hatte und jetzt wieder empfinde. Verwirrung wird Klarheit, Enttäuschung Glück, Wut Ausgelassenheit. Das Leben gibt dir Zeichen, du musst sie nur lesen können. Ich wundere mich über die eigenartige Sehnsucht. Ich war doch immer nur Statist, niemals Hauptrolle. Verdrängt hatte ich, wie man mich zurückließ. Wenn sie sich entscheiden wieder zurückzukehren, habe ich den Ort schon längst verlassen.
Meine Spur in ihrem Leben wird eine Blutspur sein im weißen Schnee. Ich bereichere ihre Geschichten um einen weiteren Höhepunkt. Zu heulenden Knoten werden sie verschmelzen und sich in den Armen halten. Sie werden laut brüllen und nie vergessen können. Machtlos werden sie sich fühlen und ich in ihrer Gedankenwelt unsterblich sein.
Er schreit nicht mehr, kommt zur Ruhe in ihren Armen. Sie breitet eine Decke über ihm aus. Sie ist Gelb wie die Sonne im Spätsommer. Kein Blick schweift zu mir ab. Nicht einmal flüchtig. Ich bin unsichtbar. Noch. Auf dem Weg nach draußen zerschlage ich eine Glasflasche und behalte den scharfen, abgebrochenen Flaschenhals...
Anina Kaßecker (18) / 1. August, 2002
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