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Schreiben gegen den Weltuntergang 2012 (Wettbewerbsbeitrag)



FASCHINGSDIENSTAG 2012


von Silvia Friedrich



Schon als er zur Tür hereinkam, hätte es mir klar sein müssen. Hier handelte es sich nicht um einen normalen Kunden. Es war Faschingsdienstagmorgen und reichlich Trubel auf der Straße. Die Ladenglocke blieb stumm, so konnte ich ihn nicht gleich hören. „Was kann ich für Sie tun?“

„Nicht viel“, sagte er und sah sich dabei in den Regalen um, in denen Süßigkeiten und Getränke vor sich hin staubten.

Eigentlich hätte um diese Zeit längst mein Freund Karl kommen müssen. Karl war arbeitslos und holte sich morgens bei mir die Zeitung.

„Wir haben Sie und Ihren Freund eine Weile beobachtet.“

Also doch, dachte ich. Eine Verbrecherbande.

„Falsch“, sagte er. Er ließ den Begriff im Raum stehen und mich damit allein. Ein paar Kinder stürmten herein, nahmen sich Süßigkeiten, zahlten und tobten johlend wieder hinaus.

Konnte der merkwürdige Mensch Gedanken lesen?

„Ja“, hörte ich ihn zwischen den Regalen.

Die alte Bergmann schob sich in den Laden. Sie konnte nicht mehr so gut sehen, stellte ihren Stock ab und hielt sich an der Theke fest.

„Zwei Brötchen“, murmelte sie. Mein Versuch, ihr Zeichen zu machen, scheiterte. Sie verstand nichts und humpelte wieder hinaus. Der Fremde war hinter den Regalen hervor geeilt und hielt ihr die Tür auf. Die Alte lächelte ihn an und verschwand.

„Entspannen Sie sich“, sagte der Fremde zu mir, „genießen Sie die letzten Stunden!“

Die Alte klopfte mit ihrem Stock ans Fenster, dass ich hinaus kommen sollte. Meine Rettung!

„Niemand kann entfliehen“, sagte der Fremde.

Ich verstand kein Wort, eilte zur Tür und riss sie auf. Noch nie empfand ich die Feuchte des Morgennebels so angenehm wie in diesem Augenblick.

„Können Sie mir noch ein paar Brötchen mehr geben? Bekomme Besuch.“

Ich ging in den Laden zurück. Im ersten Moment konnte ich den Fremden nicht sehen. War er in den hinteren Räumen? Ich beeilte mich, der Alten ihre Backwaren zu geben und suchte nach meinem unwillkommenen Gast. Er hockte auf dem Boden vor dem Zeitungsständer und sah sich Illustrierte an.

„Wenn Sie hier nur umsonst Zeitungen ansehen wollen, dann...“

„Mit sowas verbringt ihr also eure Zeit?“

Ich dachte über das „ihr“ in dem Satz nach.

„..dann wundert es mich nicht, dass ihr jetzt da steht, wo ihr steht.“

„Was?“

„Dass ihr die Zeit, die euch gegeben wurde, nicht genutzt habt.“

„Welche Zeit?“ Wenn es sich um einen Irren handelte, sollte ich langsam die Polizei rufen.

„Lassen Sie das!“

Er stand plötzlich neben mir.

Die Ladentür ging auf, und Menschen in bunten Kostümen stolperten herein. Sie waren übrig geblieben von der Nacht, rochen nach Kneipe und lachten, dass einem die Ohren schmerzten.

„Hast du Frühstück?“ spuckte mir einer ins Gesicht und wischte sich die Reste von Lippenstift aus dem Antlitz.

„Nur Brötchen“, sagte ich. Mein Blick wanderte zu meinem Gast, der hinter der Theke stand und das Treiben interessiert beobachtete. Die Faschingsleichen stolperten aus dem Laden.

„Ich will dich nicht länger...wie sagt ihr doch so menschenfreundlich… auf die Folter spannen.“

Er zog mich in meinen Pausenraum im hinteren Bereich. Als ich aufmuckte, dass ich so die Kunden nicht beobachten könnte, erhob er die Stimme: „Sei still. Ich habe die Zeit draußen angehalten. Jetzt in diesem Moment bewegt sich nichts mehr.“ Ich ging einen Schritt vorwärts, spähte von hier aus zu meiner Schaufensterscheibe und sah, dass alles auf der Straße erstarrt war. Die Menschen, die eben noch hektisch hin und her gerannt waren, verharrten genau in dieser Bewegung. Irgendwie erinnerte es an Dornröschen.

„Du hast die Chance, die Welt zu retten“, sagte der Fremde und öffnete selbstverständlich meinen Schrank, holte Mantel und Schal heraus.

„Nimm und gehe los.“

Ich verstand nicht.

„Du hast schon verstanden. Rette die da draußen, die diese merkwürdigen Dinge tun und euch an den Rand des Abgrunds gebracht haben.“

Wäre nicht vor dem Laden alles Leben zu Eis erstarrt, hätte man annehmen können, er gehörte einer Sekte an und wollte die Welt retten. Doch die Wachsfiguren sprachen eine andere Sprache, die keine Widerrede duldete. Wie war das noch damals in der Bibel, als sich die Frau des Lot umdrehte?

„Falsche Bibelstelle“, sagte mein Gegenüber und hielt mir den Mantel hin.

„Aber, was soll ich …und warum ich?“ Widerwillig zog ich das Kleidungsstück an.

„Du hast uns ein wenig Anlass zur Hoffnung gegeben.“ Er drehte sich um und ging hinaus. Die Ladenglocke bimmelte mehrmals, so als wolle sie die Male nachholen, die sie nicht hat läuten können. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie während seiner Anwesenheit überhaupt nicht zu hören gewesen war. Draußen kam in dem Augenblick alles in Bewegung. Hatte ich grade einen Tagtraum erlebt? Ich sah an mir hinunter und bemerkte den Mantel. Was hatte er gesagt? Rette sie?

Irgendetwas in mir veranlasste mich, den Laden zu verlassen. Völlig bescheuert, mitten in der besten Verkaufszeit. Nun stand ich da, mitten auf dem Gehweg, und die Passanten stießen mich an. Karl kam um die Ecke gebogen: „Habe verschlafen.“

„Wo warst du?“ maulte ich.

„Sage ich doch, verschlafen.“

„Ich bin in einer Mission unterwegs, das glaubst du nicht“, sagte ich.

Karl trug den Mantel, den ich ihm geschenkt hatte. Mir passte er nicht mehr, und er konnte sich schon lange kein Kleidungsstück mehr kaufen. Während wir die Straße hinabgingen, erzählte ich von meinem Besuch.

„Hilfst du mir?“ Ich sah ihn an.

„Was glaubst du, wie er es meinte?“ Karl blieb stehen.

„Ich weiß es doch nicht. Er faselte irgendwas von Welt retten und so.“

„Solche Typen gibt es viele“, entgegnete mein Freund.

„Ja, aber die können die Menschen auf der Straße nicht zu Wachs erstarren lassen.“

Wir gingen weiter. Der Faschingstrubel um uns herum nahm zu.

„Vielleicht war der Typ eine Gestalt aus dem....äh aus dem Himmel oder der Bibel. So genau kenne ich mich nicht aus“, sagte Karl.

Langsam schritten wir über die Pflastersteine, übersprangen Essensreste und Glassplitter. Am Fenster einer um diese Zeit schon belebten Kneipe blieben wir stehen. Karnevalslieder mischten sich mit den Geräuschen eines Spielautomaten.

„Wollen wir hier anfangen?“ fragte Karl.

Ich nickte. Es war zu dunkel, um drinnen etwas zu erkennen. Jedoch schien es mir so, als ob in einer Ecke der Mann von vorhin saß.

„Da hockt er“, flüsterte ich.

„Doch ein Spinner“, murmelte Karl.

„Was machen Sie denn hier?“ In dieser Kneipe an diesem Tisch umgab ihn kaum noch eine unheimliche Aura.

„Es ist zu spät“, sagte er, „tut mir leid für euch.“ Er schob sich an mir vorbei und ging hinaus. Als wir den Laden verließen, verwandelte sich draußen alles immer mehr in ein wächsernes Relief. Karl stolperte neben mir her. Das Laufen fiel ihm sichtlich schwer.

„Ist der Typ echt?“ fragte ich ihn.

„Weiß nicht, bin müde, lass mich.“

Karl bog ab, ging ohne sich umzusehen immer weiter. Dann war er weg.

Einige Karnevalsleichen lagen in den Häuserecken mit eigentümlich wächsernen Gesichtern, die auf kalten Körpern klebten. Eine ungekannte Furcht packte mich, ließ mich nicht mehr los.

Ein böser Traum spielte sich hier ab. Der Nebel vom Morgen hatte sich gelichtet, ließ die Welt aber nicht freundlicher erscheinen. Und da stand er plötzlich wieder vor mir, der Mann aus meinem Laden. „Nehmt es nicht so tragisch. Ihr habt es nicht besser verdient. Wer lügt und betrügt und Geld und Besitz an erste Stelle setzt, der muss damit rechnen...“

Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen. Mein Kopf wurde schwerer, wie aus Wachs, und wenn ich mir ins Gesicht fasste, spürte ich dieses kalte Stearin. Ich verwandelte mich mehr und mehr in eine menschliche Kerze.

„Willst du mich begleiten?“ fragte mein Gegenüber.

„Warum ich?“ bröckelte es aus meinem Mund.

„Du warst ein guter Mensch“, sagte er. Die Sonne schien heller zu werden. Schweißtropfen liefen mir über das Gesicht. Oder waren es Wachsperlen? Begann ich mich aufzulösen? Er streckte mir seine linke Hand entgegen, und ich ergriff sie.

„Kann ich Karl mitnehmen, er hat niemanden außer mir?“

„Wir werden es mit dir und Karl noch einmal versuchen“, lächelte er und nahm meine Hand.



(C) Silvia Friedrich






Die 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge (alphabetische Reihenfolge):

Beckmann, Max - Ideen gegen den Untergang/Szenario 17b
Büschgens, Andrea - Zeitenwende
Friedrich, Silvia - Faschingsdienstag 2012
Kornberger, Ruth - Yoginis
Krapf, Joël - Weltuntergang ohne mich
Messerschmidt, Nadine - Weltpremiere
Oppermann, Swantje - Piet
Peter, M. - Bekenntnis eines Irren
Politgurke - Der Weltuntergang ist teilweise vorläufig (Finanzamt Köln-Ost)
Scharley, Melanie - Einfach vergessen
Siegenthaler, Brigitte - Die Botschaft
Wieland, Kai - Flight 19









HOTSQUAT CALENDAR 2012 / Juli, Kolonialisierung und Missionare / Colonisations et missionaires - Foto (C) Antal Thoma


Kurzgeschichtenwettbewerb - 21. Juli 2012
ID 00000006103
HOTSQUAT CALENDAR 2012

HERAUSGEBERIN / EDITEUR: HotSquat Collectif / Wydenauweg 40 / 2503 BielBienne / http://www.hotsquat.ch / calendar@hotsquat.ch / PC 12-172563-8
ALLE FOTOGRAFIEN BY: by Antal Thoma / http://www.antalthoma.ch
CONCEPT ET REGIE: HotSquat Collectif et les lieux accueillants / und die Gastorte
GRAPHIK: Johan Katz / http://www.mkkm.name
EDITION: 1500 ex.
PRIX: 30.-
http://www.hotsquat.ch

Die Leute vom HOTSQUAT CALENDAR 2012 machen je 1 Exemplar ihres Kalenders den Autoren der 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge zum Geschenk.

KULTURA-EXTRA bedankt sich für das Sponsoring!


Weitere Infos siehe auch: http://www.kultura-extra.de/literatur/literatur/weltuntergang.php


Zur Auswertung des Kurzgeschichtenwettbewerbs

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