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Schreiben gegen den Weltuntergang 2012 (Wettbewerbsbeitrag)



FLIGHT 19


von Kai Wieland


„Wo willst du denn jetzt hin? Verdammt, Max, jetzt warte doch!“ „Lass mich in Ruhe, den Scheiß muss ich mir wirklich nicht geben, Marco. Es interessiert mich nicht mehr, verstehst du? Es ist zu Ende, nach dieser Nacht ist alles vorbei.“ Ich wechsle die Straßenseite und schalte meinen MP3-Player ein. Internet killed the video star von The Limousines sickert in meinen Gehörgang. „Max, verschone mich mit deiner Weltuntergangskacke, ich weiß, was wirklich dein Problem ist. Und was das betrifft: Hör doch nicht auf diesen Idioten und bleib stehen. Der Penner lügt, ich schwör es dir, ich hatte nichts mit deiner süßen Tamara. Mann, dem kannst du doch nichts glauben. Ich war vor kurzem bei ihm, Alter, der hat Sachen auf dem PC, der ist krank, glaub es mir.“ Marco redet und redet, während ich meinen Weg in Richtung U-Bahn fortsetze, es schneit wieder. Schließlich drehe ich mich um. „Marco, ich sage es dir nur noch einmal. Lass mich in Ruhe, oder ich reiße dir die Eier ab, das schwöre ich dir.“ Marco sieht mich traurig an, seine blauen Augen sehen nach Reue aus. Nach Reue, nicht nach Verwirrung und Frust aufgrund unberechtigter Beschuldigungen. Es ist Reue. „Gutes neues Jahr…und einen schönen Weltuntergang“, murmle ich und setze meinen Weg wieder fort. Niemand folgt mir mehr. Marco glaubt nicht an den Weltuntergang 2012, aber ihm ist durchaus klar, dass ich es tue. Und dass ich bereit bin, mein letztes Silvester ohne ihn zu feiern, scheint ihn doch zu verletzten. Das befriedigt mich irgendwie. Obwohl es schon eine Stunde vor Jahreswechsel ist, sind die Partys noch nicht auf die Straße verlegt. Aus vielen Wohnungen dringt die unterschiedlichste Musik, doch auf den Straßen ist kaum noch jemand unterwegs. Ich bleibe im Schein einer Straßenlaterne stehen, ziehe mir die Kapuze ins Gesicht und zünde eine Zigarette an. Auf The Limousines folgt U2. Was jetzt? Nach Hause? Mich betrinken? Ich entschließe mich gerade für Ersteres, als meine Aufmerksamkeit von einem beleuchteten Schild über einem Eckhaus erregt wird. Vereinzelte Glühbirnen leuchten nicht, aber dennoch ist der Name der Bar zu erkennen. Flight 19. Ich kann mich nicht erinnern, diese Bar jemals zuvor gesehen zu haben. Dies ist durchaus verwunderlich, weil ich sehr oft auch in dieser Gegend bin, schließlich befindet sich die Uni im Viertel. Allein aus diesem Grund beschließe ich, mir die Sache näher anzusehen. Die Fenster sind erleuchtet, aus dem Inneren dringt Musik, die sich im ersten Moment wie Blink 182 anhört. Ich gelange aber schließlich zu der Überzeugung, dass es wohl Angels and Airwaves sein müssen. Die Scheibe in der schwer aussehenden Holztür ist gesplittert, eines der Fenster, wie mir jetzt auffällt, mit Holzlatten vernagelt. Ich bin zutiefst verwundert über die doch recht auffällige Erscheinung des Gebäudes, denn wie ich nun im Licht der Fenster sehe, ist die gesamte Hauswand mit bunten Motiven bemalt, mit Tieren, Menschen, Bäumen, Haushaltsgegenständen und Phantasiemotiven. „Unmöglich“, murmle ich leise zu mir selbst. Ich stehe einige Minuten ratlos vor der Eingangstür, ohne dass ein anderer Gast in dieser erscheint oder überhaupt Hinweise auf Menschen innerhalb des Gebäudes ersichtlich werden. „Ach, das ist doch lächerlich“, sage ich schließlich und trete ein. Umso überraschter bin ich, als ich schließlich das Innenleben der Kneipe sehe. Sie platzt vor Menschen beinahe aus allen Nähten. Es ist eine rustikal und leicht verlottert aussehende Räumlichkeit, was natürlich auch teilweise in den Anwesenden seine Begründung findet. Alles wirkt geräumiger als erwartet. Besonders überraschend ist eine Treppe, die zu einer Art höher gelegenem Balkon führt. Oben drängen sich dicht an dicht zahlreiche Menschen, und manch einer scheint fast das Balkongeländer zu durchbrechen. Jenes Geländer ist wie der gesamte Raum aufwändig für Silvester dekoriert. Die Tische sind besetzt bis auf den letzten Platz, und die darum postierten Personen sind in feierliche Gespräche vertieft, als würden sich alle schon seit Jahren kennen. Im hinteren Teil des Raumes tanzt eine hübsche Frau, vielleicht Mitte zwanzig, auf dem Tisch und hat bereits ihr Top ausgezogen. Interessanterweise scheint es sich hier um eine Art Kostümfest zu handeln, denn einige Personen wirken wie aus einer anderen Zeit. Am Zigarettenautomaten steht ein ausladender, bulliger Typ, der sich als Cowboy verkleidet hat. Am Tisch der tanzenden Frau sitzen gleich zwei Typen in 80er-Jahre-Klamotten, und beide können die Augen nicht von der sich ihnen bietenden Attraktion lösen. Selbst dann nicht, als die Frau die Bierflaschen der beiden umwirft. Was für ein buntes und skurriles Publikum, bestehend aus allen Altersklassen und Typen von Menschen. Viele sind mit „Happy-New-Year-Kronen“ und anderen Ramschartikeln ausgerüstet. Ich stehe einige Minuten im Eingangsbereich und versuche das Geschehen in einen für mich logischen Kontext einzusetzen. Natürlich ist das zum Scheitern verurteilt, denn erstens bin ich komplett betrunken und zweitens wäre es bei diesem Ereignis zweifelsohne nicht einmal für studierte Psychologen, Soziologen, Ethnologen oder sonstige Menschenkundler möglich, auch nur ansatzweise einen Sinn zu entdecken. Als ich erneut in die Runde blicke, wird mir klar, dass einige Leute auf mich aufmerksam geworden sind und mich anschauen. Ein schlaksiger Typ mit rotem Haar, schätzungsweise um die Dreißig, steht auf und geht auf mich zu. „Hey, dich hab ich hier noch nie gesehen.“ „Witzig, denn ich habe diese Kneipe nie zuvor gesehen.“ „Oh, du bist also ein Neuer. Nun, ich kann dich beruhigen, du konntest sie nämlich gar nicht sehen. Sie steht nur an Silvester hier. Ich bin übrigens Stan.“ „Max…Ähm, was meinst du damit? Dass sie nur an Silvester dasteht?“ „Naja, das hier ist keine normale Kneipe. Das ist die Weltuntergangskneipe.“ „Weltuntergangskneipe?“ Ich schaue in eine Ecke des Raumes, an der eine große Menge Soldaten, augenscheinlich Piloten, sitzen. „Exakt. Hier kehren nur jene Menschen ein, die vom Leben nicht mehr viel erwarten außer dem Weltuntergang im kommenden Jahr und die ihren letzten Jahreswechsel lieber allein, von fremden Menschen abgesehen, in melancholischer Stimmung verbringen möchten. Aussteiger. Verlierer.“ „Alter…wovon redest du?“ „Diese Kneipe erscheint in allen Teilen der Welt, jeweils an Silvester, an Orten, in denen die Menschen an den Weltuntergang glauben.“ „Wow…was ist denn los mit dir? Was nehmt ihr Leute hier?“ „Nichts besonderes, dass du mir nicht glaubst. Keiner tut es am Anfang. Und irgendwann ist es zu spät. Ein Teufelskreis.“ „Wofür ist es dann zu spät?“ „Um die Bar zu verlassen. Das ist nur möglich in jener Nacht, in der man sie zum ersten Mal betritt. Ist diese Nacht vorüber, gehört man einer anderen Zeit an, und unabhängig davon, ob der Weltuntergang eintritt oder nicht, und glaube mir, er ist nie eingetreten und wird es auch heute Nacht nicht, unabhängig davon…ist die Rückkehr ausgeschlossen.“ „Hab ich vielleicht irgendwas genommen?“ „Mir ist egal, ob du mir glaubst oder nicht, aber sieh dich doch noch einmal um. Schau dir die Leute an. Sie kommen aus allen möglichen Zeiten. Aus allen möglichen Orten. Sehen sie glücklich aus?“ „Ja.“ „Wirklich glücklich? Sieh genau hin. Sehe ich glücklich aus?“ Ich schaue den umstehenden Menschen ins Gesicht und möchte die Frage schon erneut bejahen, bis ich im Gesicht einer alten Frau etwas glitzern sehe. „Sie weint“, flüstere ich. „Wir alle. Wir kommen hier nicht mehr raus. Nicht, solange die Welt nicht tatsächlich untergeht. Und das wird nicht geschehen. Wir sind gefangen in unserer Melancholie.“ „Wo ist die Bar während des restlichen Jahres?“ „Sie existiert nur an Silvester. Für uns wird morgen wieder Silvester sein. Silvester 2012. Dann Silvester 2013. Tag um Tag. Vielleicht sind wir dann nicht mehr in Berlin, sondern in Madrid. In Sydney. In Shanghai. Oder wieder in Dublin, wie an Silvester 1993, als ich diese Bar betrat.“ „Aber du sprichst Deutsch.“ „Für heute. Ich habe keine Muttersprache mehr. Niemand hier spricht die Sprache seiner Herkunft und seiner Zeit. Es gibt immer nur einen Ort, eine Zeit. Heute ist es Berlin im Jahr 2011. Deshalb sprechen wir alle Deutsch und hören…was ist das?“ „Das ist Coldplay…White Shadows heißt das Lied. Ich kann das nicht glauben.“ „Ja, ich weiß. Auch ich konnte es nicht. Entschuldige mich jetzt. Ich muss mit Pavel Wodka trinken. Genauso wie gestern und morgen. Tja, er mag nun mal keinen Tequila. Sehe ich dich an der Bar? Bis Mitternacht, wenn du die Raketen hörst, findest du mich dort.“ Er zwinkert mir zu und schiebt sich durch die Menge, bis ich sein rotes Haar nicht mehr sehen kann. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, es ist 23.53 Uhr. „Wow…das kann doch nicht wahr sein“, flüstere ich zu mir selbst. Ich lasse mir Zigaretten aus dem Automaten und versuche zu erfassen, was ich gerade erlebt habe. Die Stimmung scheint sich zu steigern, immer mehr Menschen stehen auf den Tischen, und auch Stan kann ich am Ende des Raumes wieder sehen, wie er mit einem mürrisch aussehenden Soldaten der Roten Armee anstößt. Ich muss träumen, denn es kann nicht wirklich passieren, doch wenn ich nicht träume, sind Stans Worte mit Sicherheit die Wahrheit gewesen. Zu bizarr ist dieses Treiben, als dass es nur dem Berliner Studentenviertel entsprungen sein könnte. Ich lasse mir Zeit bis kurz vor Mitternacht, ehe ich meine Entscheidung treffe. Warum auch nicht? Ich ertappe mich beim Lächeln, und als ich durch die zersprungene Scheibe der Eingangstür schauen möchte, blicke ich in mein Spiegelbild. Es weint. Ich drehe mich noch einmal um und winke Stan am anderen Ende des Raumes. Er nickt und stimmt einen Countdown an. Dann kommen die Raketen.



(C) Kai Wieland






Die 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge (alphabetische Reihenfolge):

Beckmann, Max - Ideen gegen den Untergang/Szenario 17b
Büschgens, Andrea - Zeitenwende
Friedrich, Silvia - Faschingsdienstag 2012
Kornberger, Ruth - Yoginis
Krapf, Joël - Weltuntergang ohne mich
Messerschmidt, Nadine - Weltpremiere
Oppermann, Swantje - Piet
Peter, M. - Bekenntnis eines Irren
Politgurke - Der Weltuntergang ist teilweise vorläufig (Finanzamt Köln-Ost)
Scharley, Melanie - Einfach vergessen
Siegenthaler, Brigitte - Die Botschaft
Wieland, Kai - Flight 19









HOTSQUAT CALENDAR 2012 / September, TV Society - Foto (C) Antal Thoma




Kurzgeschichtenwettbewerb - 21. September 2012
ID 00000006224
HOTSQUAT CALENDAR 2012

HERAUSGEBERIN / EDITEUR: HotSquat Collectif / Wydenauweg 40 / 2503 BielBienne / http://www.hotsquat.ch / calendar@hotsquat.ch / PC 12-172563-8
ALLE FOTOGRAFIEN BY: by Antal Thoma / http://www.antalthoma.ch
CONCEPT ET REGIE: HotSquat Collectif et les lieux accueillants / und die Gastorte
GRAPHIK: Johan Katz / http://www.mkkm.name
EDITION: 1500 ex.
PRIX: 30.-
http://www.hotsquat.ch

Die Leute vom HOTSQUAT CALENDAR 2012 machen je 1 Exemplar ihres Kalenders den Autoren der 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge zum Geschenk.

KULTURA-EXTRA bedankt sich für das Sponsoring!


Weitere Infos siehe auch: http://www.kultura-extra.de/literatur/literatur/weltuntergang.php


Zur Auswertung des Kurzgeschichtenwettbewerbs

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