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(Die letzten 100 Kolumnen, in absteigender Reihenfolge...)



Tragfähig: Ein Lehrstück aus der Steiermark

Die Perspektive einer AfD-Regierung auf Landes- oder sogar auf Bundesebene ist nicht mehr nur eine Schreckensvorstellung von habituellen Schwarzsehern, sie ist in erreichbare Nähe gerückt. Manche haben sich damit eingerichtet und treffen Vorbereitungen für danach. Aber auch unter jenen, die eine Anbiederung an die AfD für sich ausschließen, gibt es nicht wenige, die sich und andere mit der Zuversicht trösten, dass es schon nicht so schlimm kommen werde, dass sich selbst die Radikalen dem demokratischen Comment anpassen und zivil verhalten würden.

Sie sollten einen Blick auf die Steiermark werfen, wo die FPÖ, das österreichische Pendant zur AfD, bei den jüngsten Wahlen einen Erdrutschsieg verzeichnen konnte. Sie stellt nun den Landeshauptmann, der einem deutschen Ministerpräsidenten entspricht. Es ist kein Monat vergangen, da haben die neuen Machthaber, namentlich auf dem Gebiet der Kultur- und Bildungspolitik, in affenartigem Tempo „Reformen“ angekündigt, die einem den Atem verschlagen. Und man sollte sich nicht in die Tasche lügen: Sie stoßen damit, etwa mit ihren Invektiven gegen das „Bruseum“, das Grazer Museum mit Werken von Günter Brus, keineswegs auf einen mehrheitlichen Widerstand. Die FPÖ wurde nicht nur gewählt, sie ist auch in vielen Fragen mehrheitstauglich, was nur jene befriedigen kann, die der Ansicht sind, dass Mehrheiten immer recht haben. Die Wahrheit, so unangenehm sie ist, lautet: Die FPÖ ist in der Steiermark nach den geltenden Maßstäben ebenso demokratisch legitimiert wie Orbán in Ungarn, Erdoğan in der Türkei, Trump in den USA und sogar, selbst bei manipulierten Wahlen, Putin in Russland.

Da es aber für eine Alleinregierung in der Steiermark nicht reichte, hat die FPÖ eine Koalition mit der ÖVP, der Schwesterpartei der CDU, ausgehandelt, was nebenbei einen Hinweis auf die Zuverlässigkeit von Versprechen gibt, dass man in Deutschland nicht mit der AfD koalieren werde. Die künftige Landesparteivorsitzende und Landeshauptmann-Stellvertreterin Manuela Khom von der ÖVP freute sich riesig, „dass es so schnell gelungen ist, eine tragfähige Regierung aufzustellen.“

Zur Erinnerung: Die tragfähige deutsche Regierung vom 30. Jänner 1933 bestand aus Hermann Göring, Adolf Hitler, Franz von Papen, Franz Seldte, Günther Gereke, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Wilhelm Frick, Werner von Blomberg, Alfred Hugenberg. Die österreichische Tageszeitung Der Standard hat einen Hinweis auf diese historische Reminiszenz aus ihren Postings gelöscht. So weit will man mit der Liberalität nicht gehen, dass man den Hinweis auf unwiderlegbare Tatsachen zulässt. Man weiß ja schließlich nicht, ob die FPÖ nicht demnächst auch den Bundeskanzler stellt und despektierliche Äußerungen maßregelt wie jetzt schon in der Steiermark das Gendern oder die Höchstsätze für kinderreiche Familien. Da will man nicht anecken. Für alle Fälle.


Thomas Rothschild - 18. Dezember 2024
2805

Schwabenstreich

Ich erhalte monatlich eine Betriebsrente. Es ist nicht viel, aber immerhin habe ich sie mir mit fast 40 Jahren Arbeit redlich verdient. Jetzt bekam ich von der VBL die jährliche Mitteilung über den Stand der Dinge. Ab November wird meine Betriebsrente um 0,02 € (das sind 2 Cent) monatlich erhöht. Eine Nachzahlung von 20 Cent ist bereits kommentarlos auf meinem Konto eingegangen. Die Kosten für das Papier, auf dem mir die VBL geschrieben hat, und das Porto übersteigen diesen "Gewinn" um ein Vielfaches.

Eine Nachhilfe in Nationalökonomie? Oder ein Lehrbeispiel, wie man sich korrekt an Vorschriften hält, auch wenn sie niemandem etwas einbringen, kurz: kompletter Unsinn sind? Ich fühle mich veräppelt. Das ist Stoff für eine Realsatire über die deutsche Bürokratie. Gerne wüsste ich: Wie viel haben die Aussendungen für die Rentenempfänger insgesamt gekostet? Und wie viel kosten die Gehälter für jene, die die Rentenerhöhungen berechnen, protokollieren und an die Betroffenen schicken, wo sie, wenn Gott und die Deutsche Post es wollen, auch eintreffen? Von einem Inflationsausgleich kann jedenfalls nicht die Rede sein. Nicht ohne verhohlenen Neid blicke ich auf die Boni deutscher Bankvorstände.

Jetzt spare ich den durch die Rentenerhöhung überraschend erzielten Betrag 16 Jahre lang, um mir dann davon einen Cappuccino (mittlere Größe) zu kaufen.
Für die Mitarbeiter der VBL hoffe ich, großzügig wie ich nun einmal bin, dass sie im kommenden Jahr mit einer Gehaltserhöhung von etwas mehr als 0,0025 Prozent rechnen können. Alles andere wäre ein Schwabenstreich. Wenn auch, das muss man angesichts der Betriebsrentenerhöhung zugeben, gerecht.


Thomas Rothschild - 22. September 2024
2804

Zum Beispiel Achim Freyer

Meiningen hat gerade 25.000 Einwohner, aber historisch bedingt ein über die Grenzen Thüringens hinaus renommiertes Vier-SpartenTheater. In diesen Tagen hatte dort Verdis Don Carlos in der Regie von Achim Freyer Premiere. Der Star auch des Bühnenbilds und des Kostüms ist 90 Jahre alt und straft jene Lügen, die, sei es aus Überzeugung, sei es aus Erwägungen der Konkurrenz, suggerieren, Kreativität habe ein Verfallsdatum und Jugend sei, zumal in den Künsten, eine Qualitätsgarantie. Das ist nicht weniger abstrus als die entgegengesetzte Annahme. Man verkleinert Fassbinders Genialität nicht, wenn man den alten Peter Brook bewundert.

Übrigens verhält es sich in der Politik nicht anders. Wenn die Wochenzeitung der Freitag darauf hinweist, dass der mittlerweile ausrangierte Biden 81 Jahre alt ist, Putin 71 und Netanjahu 74, darf daran erinnert werden, dass Hitler mit 43 Jahren an die Macht gelangte, Mussolini mit 39, Viktor Orbán mit 35 und Sebastian Kurz gar mit 31 Jahren. Auf der anderen Seite war Nelson Mandela 80, als er aus der Politik ausschied, und Konrad Adenauer, den wenig mit Mandela verbindet, trat mit 87, widerwillig, vom Amt des Bundeskanzlers zurück. Wir wären schon etwas weiter, wenn wir weniger schematisch dächten und stattdessen differenzierten. Und wenn Ageismus, also Altersdiskriminierung, ebenso eifrig verfolgt würde wie die Diskriminierung von Frauen. Nehmen wir zur Kenntnis: es gibt in den Künsten wie in der Politik zwanzigjährige Genies und zwanzigjährige Idioten, und es gibt Neunzigjährige, auf die es sich zu hören, denen zuzusehen lohnt und solche, die nur noch, wenn überhaupt, von vergangenen Meriten zehren.

Achim Freyer, und nicht nur er, bedürfen keines Bonus. Er stellt die Mehrheit derer in den Schatten, die sich auf den Bühnen umhertreiben und denen schwachsinnige Medien huldigen, die einen Furz von einem Donnerschlag nicht unterscheiden können.


Thomas Rothschild - 8. September 2024
2803

Ungeteilter Beifall

"Two's company, three's a crowd": Die englische Redewendung gilt nicht für’s Theater. Da wird es oft erst spannend, wenn mehr als zwei zusammenkommen. Auf der Bühne aber scheint man neuerdings die umgekehrte Richtung zu gehen. Lina Beckmann wird unisono für ihr Solo in Roland Schimmelpfennigs Anthropolis bejubelt. Isabelle Huppert überbietet, als Bérénice allein auf der Bühne stehend, in den Kritiken jeden Superlativ. Diese Extremform der Dramatik, das Einpersonenstück, diente in der Vergangenheit vornehmlich als Material zum Vorsprechen bei der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule. Es eignet sich aber, zumal mit Schauspielstars, für Gastspiele ohne großen Aufwand. Wobei zumindest Bérénice vom Autor Racine nicht als Einpersonenstück konzipiert war wie beispielsweise Thomas Bernhards Einfach kompliziert.

"Two's company", "zwei sind Gesellschaft" kann in den szenischen Künsten zu Höchstleistungen verführen. Unvergessen Thomas Holtzmann und Peter Lühr, Gert Voss und Ignaz Kirchner, im Film Jack Lemmon und Walter Matthau. Sie trieben die dramatische (!) Kunst des Dialogs auf die Spitze. Aber Schauspielerinnen, Schauspieler ohne Gegenüber gleichen den Solostücken von Bachs Suiten für Violoncello solo. Man hört sie gerne als Zugabe, bewundert die Virtuosität der Solisten, aber auf die Dauer möchte man nicht auf ein Orchester, mindestens eine Kammermusikbesetzung verzichten.


Thomas Rothschild - 27. August 2024
2802

Sahnehäubchen

Schlag auf Schlag haben die Fachzeitschriften Die Deutsche Bühne, tanz und Theater heute die von ihren Mitarbeiter*innen per Votum erstellten „Bestenlisten“ für die vergangene Saison veröffentlicht. Die Stiftung Warentest kann sich ihres prägenden Einflusses erfreuen. Und die Leser*innen wähnen sich informiert, in bewährter Reihenfolge und mit vorgetäuschter Objektivität, die sich trügerischen Mehrheiten verdankt.

Die Ergebnisse der Umfragen sind das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt sind und von wo sie landauf landab abgeguckt werden, wenn die Autor*innen, die sie zu verantworten haben, nicht allesamt unter die Lupe genommen werden. Wenn, wie fast stets in der Vergangenheit, jene Häuser favorisiert werden, aus deren Städten eine größere Zahl von Abstimmenden stammt, so besagt das allenfalls, dass diese immer weniger Aufführungen außerhalb ihrer Heimatstadt besuchen, es sei denn, sie wurden fürs Berliner Theatertreffen ausgewählt, das so die Funktion der self-fulfilling prophecy erfüllt. Kein Wunder: wer, außer Spiegel, Die Zeit und Deutschlandfunk, zahlt noch Reisespesen? Selbst Christine Dössel von einer der größten und einflussreichsten deutschen Tageszeitungen hat mit einer wehmütigen Erinnerung an ihren Vorgänger, der bei auswärtigen Theaterbesuchen im teuersten Hotel am Ort übernachten durfte, darüber geklagt. Wie fiele das Ergebnis aus, wenn alle Voten der Mitarbeiter*innen für die Häuser am Ort gestrichen würden, wie beim ESC nicht für die Konkurrenten aus dem eigenen Land gestimmt werden darf? Die Umfragen der „Fachzeitschriften“ gleichen einem Plebiszit, bei dem Hamburger den HSV und Stuttgarter den VfB für den besten Verein Deutschlands, wenn nicht der Welt halten.

Muss man immer gleich vom „Besten“ reden? Geht’s nicht eine Nummer kleiner? Listen präsentieren die Titel der angeblich besten oder wichtigsten Theater- oder Tanzstücke, wie die Illustrierten regelmäßig die reichsten, die populärsten oder die schönsten Persönlichkeiten des sogenannten öffentlichen Lebens präsentieren. Und so ist auch mit der Nennung einer Inszenierung über Theater ebenso wenig ausgesagt wie mit der Auflistung eines Bill Gates oder einer Julie Andrews in irgendeiner Prominentenrangfolge.

Die Auswahl durch eine Jury, ob sie nun leibhaftig oder nur per Internet zusammenkommt, erweist sich zudem als zwiespältig. Zwar werden die Entscheidungen damit der Subjektivität eines Einzelnen entzogen. Aber Juryentscheidungen haben immer die Tendenz, das Gefällige, auf das sich alle einigen können, gegenüber dem Radikalen, dem Sperrigen, dem Avantgardistischen zu bevorzugen. Da stets jene Kandidaten die höchste Punktezahl erreichen, die von den meisten Juroren gekannt und akzeptiert werden, ist das Ergebnis notwendig der kleinste gemeinsame Nenner. Dem gegenüber wäre eine Folge von wechselnden Subjektivitäten anregender, spannender und letzten Endes auch fairer gegenüber den "Außenseitern".

Man mache doch endlich Schluss mit dem pseudodemokratischen Unfug der Mitarbeiterabstimmungen, in denen Heilbronn, Regensburg oder Rudolstadt gegen Hamburg keine Chance haben.

Damit wir uns nicht missverstehen: die eine oder andere Spitzenposition kann durchaus ihre Berechtigung haben. Sie verdankt sich aber nicht der Weisheit oder dem Sachverstand der Mitarbeiter*innen, sondern den statistischen Regeln, denen sie und die Methode der Umfragen ausgeliefert sind, im Verein mit dem Zufall. Die Umfragen sind nicht mehr als ein Brimborium zur Befriedigung der Kritiker-Eitelkeit.

Thomas Rothschild - 22. August 2024 (2)
2800

Schwarzrote Häme

Immer wieder werde ich mit sonderbaren Worten apostrophiert, nicht unfreundlich, nur ein wenig von oben herab, wie ein Kind von einem weisen Greis, und mit einem unüberhörbaren ironischen Unterton: „Na, der alte Achtundsechziger!“ Oder: „Der ewige Revoluzzer!“ Oder: „Der unermüdliche Kämpfer!“

Die mich so ansprechen mit einer undefinierbaren Mischung aus Herablassung und Aufmunterung, waren allesamt früher einmal lautstarke Verfechter des revolutionären Kampfes, jedenfalls der Utopie einer gerechteren Gesellschaft als der bestehenden.

die tageszeitung, alias taz, schrieb einst anlässlich einiger Veränderungen im Druckbild der konkurrierenden Frankfurter Rundschau: „Nun also will sie bunt werden, die brave, politisch superkorrekte Frankfurter Rundschau mit den vielen mit grünschwarzer Tinte Gerechtigkeit herbeischreiben wollenden Gutmenschen in der Redaktion.“ Der jüngere Redakteur der FR, der diese Äußerung zitierte, verstand sie offenbar als Lob. Dass der Kampfbegriff der US-amerikanischen Rechten gegen Bürgerrechtler, Feministinnen, Schwulenorganisationen „political correctnes“ wörtlich und in der deutschen Entsprechung als „Gutmensch“ von Autoren, die aus irgendwelchen rätselhaften Gründen als Linke galten, von Anfang an dankbar zur Diffamierung von Anstand und sozialem Verhalten aufgenommen wurde – damit haben wir uns abfinden müssen. Aber es darf daran erinnert werden, dass die tageszeitung, die manche erstaunlicherweise immer noch für ein linkes Projekt halten, einst angetreten war, um just dafür Öffentlichkeit herzustellen: für mehr Gerechtigkeit. Ich spreche von jener garantiert gutmenschenfreien Zeitung, die die folgenden Sätze abgedruckt hat: „Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“

Nicht die Tatsache des Opportunismus und des Karrierismus schockiert, nicht die Bereitwilligkeit, mit der sich Idealisten von gestern in den bedingungslosen Dienst eines Systems gestellt haben, dessen Korruptheit, Menschenverachtung und latente Gewalt sie einmal durchschaut hatten, sondern die Schamlosigkeit, mit der sie sich dieses Gesinnungswandels brüsten, das dreiste Überlegenheitsgefühl, das sie aus den damit erworbenen Vorteilen beziehen, der dümmliche Spott, mit dem sie alle jene bedenken, die ihre Lumpereien nicht mitvollziehen wollen, weil sie immer noch, unbelehrbar, der Überzeugung sind, dass mehr Gerechtigkeit ein lohnendes Ziel ist. Grünschwarze Tinte reicht dafür gewiss nicht aus. Aber sie ist immer noch ehrenwerter als die schwarzrote Häme aus der taz-Redaktion. Und wenn es nur die Untauglichkeit der Mittel sein sollte, die diese im Blick hatte: wo sind die wirksamen Alternativen, die sie vorzuweisen hat? Wir warten gespannt, meine Damen und Herren Bösmenschen.


Thomas Rothschild - 3. Juli 2024
2799

Filmkritik und Kommunale Kinos

Was sind die Aufgaben von Kommunalen Kinos in einer veränderten Kinolandschaft? Der Kampf gegen den Verlust von Geschichte, gegen einen dem Prinzip der Profitmaximierung unterworfenen Aktualitätszwang. Sie dürfen nicht den Fehler der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten wiederholen: dem populistischen Quotendenken der Privaten nachzueifern.

Ihre Hauptaufgabe ist die Pflege des ansonsten in Kinos nicht gezeigten Films und der Filmgeschichte, die systematische Bereitstellung eines Kanons, der eine sinnvolle Verständigung – auch über heutige – Filme erst möglich macht, Filme in der Regel in Originalfassung zu zeigen. Sie sollten den Zustand der Kopie vorher ankündigen, das Publikum erziehen durch ausdauernde und berechenbare Angebote: einen festen Dokumentarfilmtag; Kurzfilme als verbindliches Vorprogramm; „Zyklen“ (siehe das Arsenal in Berlin und das Österreichisches Filmmuseum in Wien); begleitende Einführungen (wie bei Konzerten mit zeitgenössischer Musik); anspruchsvollere Programmzeitschriften.

Dafür ist die Unterstützung der lokalen Filmkritik einzufordern.

Das Problem: junge Kritiker kennen selbst die Filmgeschichte nicht mehr. Wünschenswert wäre eine enge Zusammenarbeit von Kommunalen Kinos und Presse: durch Pressevoraufführungen, Hinweise auf Wiederholungen von Filmen zu späteren Terminen für die Anlage eines Archivs von Vorauskritiken. Kritiker dürfen nicht einfach aus Filmgeschichten abschreiben. Sie müssen Bezüge herstellen zu den aktuellen Sehgewohnheiten, ältere Filme unter heutigen Gesichtspunkten beurteilen, eventuell auf Remakes eingehen, die dem potenziellen Publikum bekannter sind als die Originale. (Scarface, The Postman Always Rings Twice und Ossessione etc.)

Die Kommunalen Kinos müssen Gegendruck machen gegen die Angepasstheit an den Status quo und die Abhängigkeit der Medien von den Anzeigenkunden. Folgende Alternativen sind deutlich als Widersprüche kenntlich zu machen: PR vs. Kritik, Ware vs. Kunst (Wer rezensiert im Feuilleton röhrende Hirschen?), Hollywood vs. europäischer Film, Filme der Dritten Welt, Independent Cinema, Aktualität vs. Geschichte, „verwertbare“ vs. aufklärerische Kritik.

Ein Problem bei einmaligen Aufführungen ist der Gegensatz von Voraus- und Nachkritik. Kritik erschöpft sich nicht als „Kaufempfehlung“. Wichtiger als Wertung sind Analyse, Interpretation, Argumentation, eine „Schule des Sehens“, Alternativen zum „Inhaltismus“, auch Ideologiekritik und sozial-politische Einordnung.

Kommunale Kinos sollten vermitteln, dass der Film nicht (nur) von Stars gemacht wird, sondern von Regisseuren, Kameramännern und -frauen, Drehbuchautoren, Komponisten etc.

Wie ist das durchsetzbar? Durch Gespräche mit den Kritikern und den Feuilletonchefs. Durch die Bildung einer Lobby. Durch die Ermutigung von Laienkritiken in einer „Klubzeitschrift“, z.B. in Zusammenarbeit mit Schulen, oder durch Gründung von Filmklubs. Durch die Verstärkung der Kommunikation am Ort (vgl. die Literaturhäuser) zur Bindung eines Publikums an die Kommunalen Kinos und wiederum zur Schaffung einer Lobby. Und durch Fortbildungsseminare auch für Kritiker.

Übrigens: die Fußball-EM sticht in den Nachrichten- und Kommentarsendungen zurzeit alles aus, was sonst noch auf der Welt passiert. Was wiegen ein paar hundert Tote in der Ukraine, in Gaza oder sonstwo gegen ein deutsches Tor? Ein Kommunales Kino in Stuttgart kommt gar nicht vor. Es gibt seit vielen Jahren keines. Kein Public Viewing, keine Beunruhigung wegen des Verlusts eines kulturellen Interesses. Ein geschlossenes Kino für Filmkunst beunruhigt die Medien weniger als ein geschlossener Bierstand in der Fanzone. Na denn Prost!


Thomas Rothschild - 26. Juni 2024
2798

Eine subjektive Liste

In den Medien werden regelmäßig einzelne Schauspielerinnen und Schauspieler porträtiert, die den Autoren in erstaunlicher Übereinstimmung als überragend erscheinen. Meist sind es solche, die zumindest auch in Film und Fernsehen reüssieren. Das Theater ist längst nicht mehr konkurrenzfähig, jedenfalls was die Bekanntheit betrifft.

Als Ausgleich veröffentliche ich hier eine Liste meiner Lieblingsschauspieler*innen an deutschsprachigen Bühnen. Sie ist selbstverständlich subjektiv, kann es anders gar nicht sein. Denn erstens kenne ich viele Theater und ihre Ensembles nicht, und zweitens habe auch ich einen Geschmack, über den man mit Fug und Recht streiten kann. So gesehen ist diese Liste ungerecht, nicht wegen der genannten, sondern wegen mancher ausgelassener Namen. Eins aber kann diese Liste leisten: Sie erinnert an Repräsentanten der flüchtigen Theaterkunst, die es nicht verdienen, vergessen zu werden.

Voilà!

Kathrin Angerer
Constanze Becker
Lina Beckmann
Bibiana Beglau
Michaela Bilgeri
Sibylle Canonica
Andrea Clausen
Edith Clever
Kirsten Dene
Tina Engel
Regina Fritsch
Cornelia Froboess
Therese Giehse
Maria Happel
Corinna Harfouch
Nicole Heesters
Hannelore Hoger
Nina Hoss
Gertraud Jesserer
Andrea Jonasson
Corinna Kirchhoff
Jutta Lampe
Ursina Lardi
Susanne Lothar
Dörte Lyssewski
Birgit Minichmayr
Barbara Nüsse
Caroline Peters
Christiane von Poelnitz
Ilse Ritter
Sylvie Rohrer
Sophie Rois
Doris Schade
Hildegard Schmahl
Elisabeth Schwarz
Katharina Thalbach
Anne Tismer
Angelika Winkler
Johanna Wokalek
Rosel Zech

Gert Baltus
Heinz Bennent
Josef Bierbichler
Joachim Bißmeier
Rolf Boysen
Traugott Buhre
Ernst Deutsch
Lars Eidinger
Samuel Finzi
Bruno Ganz
Boy Gobert
Christian Grashof
Jörg Gudzuhn
Norman Hacker
Jens Harzer
Wolfgang Heinz
Thomas Holtzmann
Wolfgang Hübsch
Robert Hunger-Bühler
André Jung
Norbert Kappen
Ignaz Kirchner
Roland Koch
Peter Kurth
Helmuth Lohner
Peter Lühr
Michael Maertens
Markus Meyer
Joachim Meyerhoff
Tobias Moretti
Ulrich Mühe
Johann Adam Oest
Nicholas Ofczarek
Karl Paryla
Romuald Pekny
Friedrich-Karl Praetorius
Hans-Michael Rehberg
Peter Roggisch
Leopold Rudolf
Branko Samarovski
Udo Samel
Ekkehard Schall
Otto Schenk
Walter Schmidinger
Martin Schwab
Edgar Selge
Peter Simonischek
Ernst Stötzner
Hilmar Thate
Thomas Thieme
Ulrich Tukur
Gert Voss
Oskar Werner
Ulrich Wildgruber
Werner Wölbern
Martin Wuttke
Manfred Zapatka


Thomas Rothschild – 24. Juni 2024
2797

Ausnahmezustand EM

Von den Stuttgarter Nachrichten bekommt man Nachhilfe in Demokratie:

"Doch wie geht die Polizei mit den unerlaubten Auto-Partys auf der Straße um? 'Wenn man rein auf das Gesetz blickt, ist das schlicht illegal', erklärt ein Sprecher der Polizei in Stuttgart. Theoretisch sei für solche Fan-Aktionen ein Antrag beim Amt notwendig. Weil das in der Praxis aber keiner mache – und die Anzahl der Verstöße wohl unzählig wären, macht die Polizei als Ordnungshüter hier offenbar Kompromisse. 'In gewissem Maße tolerieren wir Autokorsos', sagt der Pressesprecher der Stuttgarter Polizei auf Anfrage.
Gesellschaftliche Akzeptanz
Er spricht von einer Art 'Brauchtum', der
(sic!) gesellschaftlich akzeptiert sei. 'Es ist ein Spagat, den die Polizei da machen muss', sagt er. Durchaus müssten die Beamten im EM-Alltag immer wieder eingreifen, etwa dann, wenn Fans beispielsweise auf einem Autodach sitzen oder sich mit dem Oberkörper aus dem Fenster lehnen. 'Das wird von uns abgestellt', sagt der Polizeipressesprecher."

Wie war das mit der Trennung von Legislative und Exekutive als Bedingung der Demokratie? Wenn es der Exekutive passt, tut sie, ohne Rücksicht auf die Legislative, was sie will. Deren Vorschriften sind für sie nur "theoretisch". "In der Praxis" macht sie Kompromisse, anders gesagt: verstößt sie gegen Gesetze und Verbote, handelt also "illegal". Noch einmal anders gesagt: wenn es genug Verstöße gegen das Verbot von Ladendiebstahl gibt, machen die Ordnungshüter Kompromisse, tolerieren "in gewissem Maße" die unbezahlte Mitnahme von Waren, nicht anders als verbotene Autokorsos. Vor dem Gesetz sind schließlich alle gleich, die Beteiligten von "Auto-Partys" und die Ladendiebe. Denkste.

Ist nicht auch der Ladendiebstahl oder, beispielsweise, das Schwarzfahren eine "Art 'Brauchtum'"? Beweisen Sie das Gegenteil. Eingegriffen wird künftig erst, wenn der Schwarzfahrer obszöne Lieder singt. Der Fußball bringt es an den Tag. Man lernt nie aus.

Im Übrigen passt das alles bestens zum kollektiven Ausbruch nationalistischer Euphorie. Vergessen das Bekenntnis, dass zur Hölle fahren soll, wer "europafeindlich" ist. Noch der letzte Tunichtgut ist stolz auf deutsche Tore, sofern er einen deutschen Pass hat. Von begeisterten deutschen Anhängern der Albaner habe ich nichts gemerkt. Dafür sprechen die unbedarften Kommentatoren von den "Unsrigen", wenn sie die Deutschen meinen, und werfen nur so mit dem Wort "Gegner" um sich, wenn sie jene Europäer bezeichnen, die keine Deutschen sind. Warum gibt es immer noch nationale Fußballmannschaften und keine europäische, wie es einen amerikanischen, aber keinen texanischen Fußball gibt? Weil Europa bestenfalls ein Staatenbund und kein Bundesstaat ist? Ach du meine Güte. Vielleicht liegt es daran, dass Europa nicht als "Brauchtum" zählt, das "gesellschaftlich akzeptiert" ist.


Thomas Rothschild – 20. Juni 2024
2796

Der permanente Skandal

Die Meldung ging durch die Medien:

"Ob es jemand bis zur Hochschule schafft, hängt noch immer sehr stark davon ab, in welche Familie er geboren ist. 78 von 100 Kindern aus Akademikerfamilien nehmen im Lauf ihres Lebens ein Studium auf. Haben die Eltern keinen Studienabschluss, schaffen es nur 25 von 100 Kindern. Arbeiterkinder haben also noch immer deutlich schlechtere Chancen. (…) Die Kopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft habe in den letzten 20 Jahren offenbar sogar zugenommen, erklärte die Lehrergewerkschafterin mit Blick auf den Nationalen Bildungsbericht."

Neu ist das nicht. Neu ist lediglich, dass sich an der Misere seit Jahrzehnten nichts zum Besseren verändert hat. Das Gerede von Demokratie und Chancengleichheit ist das Papier nicht wert, auf dem es verbreitet wird.

Das ist schlimm genug. Schlimmer noch ist, dass dieser Missstand kaum jemanden kratzt. Wo bleibt der tägliche Aufschrei gegen die massive Diskriminierung von Kindern aus Arbeiterfamilien? Die einmal mehr bestätigte Statistik beweist, dass sie um ein Vielfaches größer ist als die Benachteiligung von Frauen. Diese aber können sich auf die Unterstützung durch die Medien verlassen, jene nicht.

Woran das liegt, lässt sich leicht erklären. Frauen haben eine Lobby, Arbeiterkinder nicht. Frauen haben ihre Abgesandten in den Medien, Arbeiterkinder nicht, und zwar genau wegen der Tatsachen, die es anzuprangern gälte. Die Förderung von Frauen nützt der Wirtschaft und, wie sich an Beispielen wie Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel zeigt, den Rechten in der Politik. Die Förderung von Arbeiterkindern nicht. Die Frauen, die um ihre Rechte kämpfen, kommen in der Regel aus Familien, die sich artikulieren können und ihrerseits schon zu den Privilegierten gehören. Arbeiterkinder kommen, wie der Name sagt, aus Familien, für die eine akademische Ausbildung der Kinder meist kein Lebensentwurf ist, denen die Dringlichkeit von Bildung und die Fähigkeit, dafür zu kämpfen, vorenthalten geblieben ist und die diese Sozialisation an ihre Kinder weitergeben wie der Arzt oder der Rechtsanwalt die seine an seine Kinder.

Dieser Zustand ist keine Belanglosigkeit. Er ist ein permanenter Skandal und Verstoß gegen die Menschenrechte und verweist alle Beschwörungen demokratischer Selbstverständlichkeiten in den Bereich der folgenlosen Phrasen.

Thomas Rothschild – 19. Juni 2024
2795

Mein Lieblingswort

„Harakiri“ ist, in übertragener Bedeutung, ins Deutsche eingegangen („Harakiri begehen“), weil es kein deutsches Wort dafür gibt. „Selbstmord“ oder „Freitod“ entbehren der Konnotation, dass es sich um einen freiwilligen Tod nicht aus Lebensüberdruss, nicht als Folge von Depressionen geht, sondern als Konsequenz eines übersteigerten Ehrbegriffs und zudem als Teil eines vorgeschriebenen, uns hier und heute exotisch scheinenden Rituals. Wenn sich jemand, wie etwa Leutnant Gustl, in unserem Kulturraum wegen eines vermeintlichen Ehrverlusts erschoss, gab es für diesen Akt kein eigenes Wort (wie für das damit verwandte Ritual des „Duells“, das sich vom „Zweikampf“ unterscheidet). Zudem gefällt mir „Harakiri“ wegen seiner phonetischen Qualität. Innerhalb des deutschen Lautsystems wirkt das Wort durch den doppelten Binnenreim komisch, obwohl es einen tragischen Vorgang bedeutet. Es erinnert an Wörter wie „Larifari“ oder „Vitzliputzli“ (Heine). Damit kann kein „Sputnik“, kein „Telefon“ und kein „Spaghetti“ konkurrieren.

Die vor 18 Jahren verstorbene Lyrikerin Heidi Pataki hat ein Gedicht mit dem Titel harakiri geschrieben. Es beginnt mit einem Ausruf, dem ô mit Zirkumflex, auf den der „sinnlose“ Zweisilber „hara“ folgt, also der Anfang des Wortes „Harakiri“. Zusammen mit dem o aber ergibt das den irischen Namen O’Hara, den wir zum Beispiel von Maureen O’Hara kennen, der Esmeralda aus William Dieterles berühmter Verfilmung des Glöckners von Notre Dame. Noch im ersten Vers taucht das Verb „kikerikiet“ auf, das mit dem Wort „Harakiri“ nichts verbindet außer einer phonetischen Verwandtschaft. Dieses Vorrücken auf der Basis klanglicher Ähnlichkeit setzt sich fort in der Nachbarschaft „flausen zaust“ und dem Reim „ausgelaust“. Man denkt an die Lust an Schüttelreimen, die in der Zwischenkriegszeit wie eine Epidemie weniger die ernsthafte Literatur als die Kabaretts überfiel. Die Konsonanten k und r und die Vokale a und i aus „Harakiri“ kehren wieder in den folgenden Reimwörtern „kleinkariert“ und „karikiert“. Dann aber wird tatsächlich auf die Bedeutung von „Harakiri“ rekurriert, nur um eine nachvollziehbare, wenn auch abstruse Situation – es fehlen das Krummschwert und ein Bauch, der zum Chinesen fand („Alle Kineser san Japaner“, stellt Karl Kraus in den Letzten Tagen der Menschheit fest) – nur um diese Situation also in eine Metapher umzubiegen: „stürz dich [statt ins Schwert, müssen wir ergänzen] ins wort“.


Thomas Rothschild - 12. Juni 2024
2794

Experiment und Erzählen

Experiment und Erzählen sind keine einander ausschließenden Kategorien. Man kann experimentell und konventionell erzählen, und man kann narrativ und nicht-narrativ experimentieren. Lawrence Sterne und James Joyce, Dos Passos und Michel Butor haben mit dem Erzählen experimentiert. Umgekehrt gibt es Sprachspiele – etwa in Kinderversen oder in der Werbung –, die bloße Reproduktion, keineswegs Experimente sind.

Die Zuspitzung der scheinbaren Alternative von Erzählen und Experiment ist ein spezifisch österreichisches Phänomen. Sie hängt zusammen mit dem besonderen Stellenwert der Wiener Gruppe in der Nachkriegszeit. Diese musste ihre Positionen polemisch pointieren, um gegen den Konservatismus eines herrschenden, am 19. Jahrhundert orientierten Erzählens anzukommen. Der scheinbare Kampf um ästhetische Standpunkte war in Wahrheit auch ein politischer Kulturkampf, der Versuch einer jüngeren Generation, sich in der Konkurrenz gegen jene zu behaupten, die ihre ersten schriftstellerischen Schritte als Nazis oder als Klerikalfaschisten gemacht und in der Zweiten Republik in Gremien und Organisationen wieder das Sagen hatten. Experiment hieß damals für seine Verfechter auch Öffnung zur Weltliteratur und insbesondere zu künstlerischen Verfahren, nicht nur in der Literatur, die von den Nationalsozialisten mit nachhaltiger Wirkung als entartet diffamiert wurden.

Wenn man sich die Definition des tschechischen Philosophen Jan Mukařovský zueigen macht, wonach sich Literatur von anderen sprachlichen Kommunikationssystemen dadurch unterscheide, dass in ihr die ästhetische Funktion vor allen anderen Funktionen – etwa der Mitteilung, der Aufforderung, der Überredung etc. – den Vorrang habe, dann wäre eine Literatur, die auf ihre Materialität verweist, anstatt der erzählenden Wiedergabe einer scheinbar außerhalb der Literatur bestehenden Wirklichkeit zu dienen (was freilich eine Täuschung ist), gleichsam „literarischer“ als diese – wenn man denn überhaupt eine Hierarchie des Literarischen erstellen kann. Versuche einer entsprechenden Quantifizierung, etwa im Umkreis von Max Bense, sind ja bekanntlich gescheitert.

Anstatt weiterhin emphatisch zu behaupten, nur das, was man selbst betreibe – das Erzählen einer Fabel oder das Spiel mit dem selbstwertigen Wort –, sei „eigentlich“ Literatur, sollte man sich klarmachen, dass hier ein terminologisches und daher nur durch Setzung lösbares Problem als ontologisches ausgegeben wird. Aus dem scheinbaren Widerspruch zwischen dem, was vereinfachend mit Erzählen und mit Experiment bezeichnet wird, gibt es zwei mögliche Auswege. Entweder man betrachtet Erzählen und Experiment als zwei verschiedene Möglichkeiten von Literatur, wobei man dann darüber streiten kann, wie grundsätzlich die Unterschiede sind, ob und wo es Schnittmengen und Mischformen gibt; oder man führt neben „Literatur“ einen zweiten Begriff ein und nennt nur das Erzählen oder nur das Experiment Literatur, das andere aber anders, wie man ja auch Theater und Tanz unterscheidet, obwohl in beiden Fällen menschliche Körper auf einer Bühne agieren und historisch gesehen Theater und Tanz einmal als eins betrachtet wurden. Dass sie im heutigen Tanztheater wieder zusammenfinden, zeigt nur, wie die Geschichte manche Unterscheidung überflüssig macht. Vielleicht ist das auch eine Perspektive für die Literatur und den scheinbaren Gegensatz von Erzählen und Experiment.


Thomas Rothschild - 30. Mai 2024
2793

Die verlorene Glaubwürdigkeit

Besorgte Zeitgenossen beklagen in regelmäßigen Abständen die Politikmüdigkeit in der Bevölkerung, das verbreitete Misstrauen gegenüber den gewählten „Volksvertretern“ und den Repräsentanten der Wirtschaft. Den Schwarzen Peter teilen sie den meuternden Bürgern zu. Dass diese für ihre Unzufriedenheit nachvollziehbare Gründe haben könnten, kommt nicht in Betracht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass rechtsradikale Parteien, deren Politiker in Sachen Korruption, Bestechlichkeit, Verlogenheit und Populismus alle Rekorde brechen, diese Unzufriedenheit für ihre Ziele zu instrumentalisieren versuchen.

„Stuttgart 21“ hat deutlich gemacht, wie schamlos Politik und Wirtschaft mit der Wahrheit umgehen. In ununterbrochener Folge kommen Lügen und Geheimhaltungen unangenehmer Tatsachen ans Tageslicht. Und man darf davon ausgehen, dass „Stuttgart 21“ keine Ausnahme ist.

Die Affäre Guttenberg von 2011 – erinnern Sie sich noch – hat die Verlogenheit von Politikern zum öffentlichen Thema gemacht. Dabei wurde aber am Kern des Skandals vorbei diskutiert. Man muss in der Tat keinen akademischen Titel besitzen, um Politik zu machen. Vieles spräche dafür, das Tragen von Titeln überhaupt abzuschaffen. Wer das Universitätsmilieu ein wenig kennt, weiß, dass jeder Trottel, wenn er das entsprechende Elternhaus und genug Sitzfleisch hat, seinen Doktor machen kann, auch ohne Plagiat. Aber dass Guttenberg lediglich sein Amt verliert, dass bereits über seine Rückkehr in die Politik spekuliert wird, nach der Aufdeckung eines Betrugs, für den einfache Studenten mit Strafen rechnen müssen, die ihr gesamtes Leben zu ihrem gravierenden Nachteil verändern können, ist unerträglich. Unerträglich ist, dass die politische Klasse mit größter Selbstverständlichkeit für sich Rechte in Anspruch nimmt, die dem „normalen Bürger“ vorenthalten bleiben.

Nach der Nuklearkatastrophe in Japan erklärte Angela Merkel, dass die Verlängerung der Laufzeiten von mehreren AKWs in Deutschland ausgesetzt werde. Was in Japan passiert ist, wurde von den AKW-Gegnern als Möglichkeit stets vorausgesagt. Über Jahrzehnte hinweg hat man ihre Warnungen in den Wind geschlagen oder als Nonsens deklariert. Nun musste man feststellen: die AKW-Befürworter haben entweder gelogen, oder sie sind unfähig. So oder so hätten sie von ihren Posten zurückzutreten. Eine einfache halbherzige Kehrtwendung reicht nicht aus. Immerhin hat sich erwiesen, dass sie eine Situation riskiert haben, die den Tatbestand der fahrlässigen Tötung erfüllt. Nicht anders als jene Futtermittelhersteller, die mit Dioxyn belastetes Tierfutter in Umlauf bringen. Wenn die Toten nicht gleich sichtbar sind, wenn sie erst nach Jahren an Krebs sterben, erregt das die Gemüter und erst recht die Staatsanwälte nicht besonders. Claude Rains jedenfalls ist nicht so billig davon gekommen, als er Ingrid Bergman in Hitchcocks Notorious nach und nach zu vergiften versuchte.

Das ist das Unerträgliche, das die Bürger empört: Die Aufdeckung der Lügen und Vergehen der Mächtigen hat keine adäquaten Konsequenzen. Das Lügen ist zur Regel geworden, weil es kein Risiko in sich birgt – und es rechtfertigt sich zynisch mit dem Machterhalt um jeden Preis.

Natürlich gibt es auch ehrliche Politiker, aber sie werden mehr und mehr zur Ausnahme. Sie reichen nicht aus, um das Bild zu korrigieren, das viele Bürger von der Politik gewonnen haben. Korrupte Politiker existierten auch früher. Ihre Geschichten erzählt man sich heute noch. Mittlerweile scheinen sie die Normalität zu verkörpern. Doch sie täuschen sich, wenn sie glauben, diese Normalität würde auf Dauer akzeptiert. Irgendwann läuft das Fass über. Und wir können von Glück sprechen, wenn dann nicht die Vertreter einer Heilslehre bereitstehen, die selbst die Lügen von heute noch als belanglos erscheinen lassen.


Thomas Rothschild - 28. Mai 2024
2792

Aufklärung über Margarine hinaus

Dass das deutsche Fernsehen – das private sowieso, aber auch das öffentlich-rechtliche – ein aufklärerisches Unternehmen sei, lässt sich wohl kaum behaupten. Abend für Abend und mehr noch Vorabend für Vorabend häufen sich Sendungen, die als Schwachsinn zu bezeichnen einem Lob gleichkommt. Dass ihnen die Einschaltquoten recht zu geben scheinen, belegt bestenfalls, dass der Schwachsinn auch große Teile der Zuschauer erfasst hat.

Dagegen hat die Aufklärung einen schweren Stand. Zu den wenigen Lichtblicken im Programm gehören die Sendungen, in denen Sebastian Lege demonstriert, woraus Lebensmittel bestehen und wie sie gemacht werden. Freilich kann man sich fragen, ob diese Sendungen eine Chance haben gegen die massive Werbung für genau die Produkte, deren Schwindel Sebastian Lege aufdeckt. Konsumentenberatung unterliegt in unserer Gesellschaft stets der Profitmaximierung, und auch das von den Konsumenten finanzierte Fernsehen ist nicht wirklich willens, daran etwas zu ändern.

Warum aber, muss man sich wundern, steht Sebastian Leges Analyse von Nahrung, die im besten Fällen bei genauer Betrachtung bloß ekelhaft, häufig aber sogar schädlich ist, so einsam in der Fernsehlandschaft. Warum findet Aufklärung nicht im täglichen Programm statt? Wo bleibt der Sebastian Lege für Gebrauchsgegenstände des Alltags? Welcher Spezialist zerlegt buchstäblich neue Autos, um zu überprüfen, ob sie ihren Preis wert sind? Welcher Intellektuelle analysiert Montag für Montag das vorausgegangene Wort zum Sonntag auf seine Logik, seine Vereinbarkeit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, seine moralischen Prämissen? Wer breitet sich regelmäßig über Fake auf allen Gebieten aus? Kurz: wer hält dem grassierenden Irrationalismus Vernunft entgegen, in einem Ausmaß und einer Ausführlichkeit, die jenem von Fernsehen gewährt wird?

Wir sind weit, sehr weit davon entfernt. Im Rundfunkstaatsvertrag heißt es:

„Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Ländern fördern. Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten.“

Sebastian Lege kommt diesem Auftrag nahe. Er strampelt sich ziemlich alleine ab. Es ist ja schon begrüßenswert, wenn wir erfahren, wie Margarine entsteht. Aber das reicht nicht. Jedenfalls nicht, wenn man Europa nicht nur als Erben des Katholizismus und der Reformation, sondern auch, vielleicht sogar vor allem, der Aufklärung begreift.

Thomas Rothschild – 23. Mai 2024
2791

Das Elend mit der Psychologie

Das Theater der Renaissance war weder realistisch noch psychologisch. Zwar strotzen Shakespeares Stücke nur so von Menschenkenntnis, zwar liefern sie atemberaubende Einsichten in die individuelle und die gesellschaftliche Wirklichkeit, aber im Theater der Shakespearezeit hatte die Stilisierung stets Vorrang vor der abbildlichen Darstellung der Erfahrungswelt. Nun ist es durchaus legitim, wenn sich heutige Zuschauer über die Kunstfertigkeit freuen, mit der große Schauspielerinnen und Schauspieler nachahmen, was ihnen aus dem Alltag bekannt ist. Aber dass sie sich mehr und mehr schwertun mit einem Theater, das genau dies gar nicht anstrebt, das vielmehr seine eigene Sprache entwickelt, ist ein Verlust, den wir – sprechen wir es unverblümt aus – dem Fernsehen verdanken. Es soll hier nicht verteufelt werden, es hat ja seine Funktion. Aber wenn es zum Modell für die szenischen Künste wird, wenn sich Schauspielkunst darüber definiert, ob jemand die Augen aufschlägt und die Stirn runzelt wie ein echter Arzt, wie eine echte Unternehmerin, dann ist es schädlich. Das Wort ist so gemeint, wie es hier steht: schädlich.

Joachim Meyerhoff, einer der besten und klügsten Schauspieler seiner Generation, spielte einst am Burgtheater den Malvolio in Was ihr wollt, und er hat über die Rolle nachgedacht:

"Erst einmal hat Malvolio gar nichts verbrochen. Aber er ist boshaft. Das ist bei Shakespeare oft so: Für die Bosheit gewisser Figuren bekommt man keine autobiografischen Hinweise geliefert. Man denke an Jago in Othello: Was veranlasst ihn, andere zu vernichten? Woher kommt seine Beschädigung? Wie Schauspieler so sind, sagen sie dann: Der muss etwas Schlimmes erlebt haben! Damit kommt man bei Shakespeare leider nicht weit. Das ist eine Setzung. Malvolio ist übrigens auch gar nicht 'böse': Er trägt das Prädikat des Puritaners und drückt damit eine Geisteshaltung aus."

Mal abgesehen davon, dass "biografisch" genauer wäre als "autobiografisch", denn nur in seltenen Fällen wird das Leben von der Figur selbst erzählt, ist der Befund insofern richtig, als es bei Shakespeare "oft so" ist. Gerade auf Malvolio allerdings trifft er nicht zu. Für die Ursache seiner Boshaftigkeit gibt es sehr präzise Hinweise. Er ist ein Aufsteiger und will, noch ehe ihm der gefälschte Brief zugespielt und in ihm eine irreführende Hoffnung auf die Liebe Olivias erweckt wird, die ihn zum Gespött macht, um jeden Preis seiner Herrin gefallen. Deshalb muss er sich durch übersteigerte Arroganz und Bösartigkeit gegenüber den "unter" ihm Stehenden auszeichnen, gegenüber dem Dienstpersonal und dem bei Olivia schmarotzenden ewig besoffenen Onkel Toby. Gerade Malvolios Bosheit ist soziologisch wie psychologisch außerordentlich modern motiviert. Meyerhoff bemerkt absolut zutreffend:

"Das Bürgerliche wird mit Malvolio überhaupt erst konstituiert. Bürger gibt es nicht häufig bei Shakespeare. Wir kennen Dienerfiguren, den Falstaff. Aber diese komischen Figuren aus der Zwischenebene, die zur Macht drängen, die Bürgerlichen, denen eigentlich die Zukunft gehört, die findet man selten. (...) Malvolio drückt die Ideologie einer neuen Klasse aus."

Malvolio repräsentiert ein Bürgertum, das die Stellung der Aristokratie einnehmen will und sich, statt sie zu bekämpfen, an diese anschleimt. Es ist das Bürgertum, das im 19. Jahrhundert dann seine Börsen, Bahnhöfe und Museen nach dem Vorbild der Adelsschlösser erbaut und die Manieren der Aristokratie, meist hilflos und daher lächerlich, zu imitieren versucht. Es verbündet sich mit jenen, von denen es getreten wurde, gegen die nachrückende Klasse und zeichnet sich dabei durch besonderen Eifer aus. In der deutschen Dramatik war es Carl Sternheim, der dieses Phänomen wie kein Zweiter auf die Bühne gebracht hat.

Auch Beate Seidel, damals Dramaturgin der Stuttgarter Inszenierung von Romeo und Julia, wollte es genau wissen. Auf dem Programmzettel fragte sie: "Und was hasst Tybalt an diesen jungen Montagues so gnadenlos?" Diese Frage kann man historisch und philologisch für das 16. Jahrhundert zu beantworten versuchen oder erfinderisch und mehr oder weniger beliebig für unsere Zeit. Aber sie ist ungefähr so sinnvoll und gegenüber einer literarischen Logik so adäquat wie die Frage, warum der Fischer, der das goldene Fischlein ins Wasser zurückwirft, drei und nicht zwei oder sechs Wünsche freihat. Tybalt hasst die Montagues, weil er die Montagues hasst. Psychologisierung führt hier in die Irre. Tybalt hasst die Montagues, weil die Story das erfordert. Tybalt muss die Montagues hassen, weil in Verona "zwei Häuser waren, durch alten Groll zu neuem Kampf bereit". Das ist die Ausgangssituation, was Joachim Meyerhoff völlig korrekt eine "Setzung" nennt, weiter braucht Tybalt keine Gründe. Im Übrigen brauchen Menschen auch diesseits von Freud keine Gründe, um andere zu hassen. "Ich kann den Novotny nicht leiden!" heißt es in einem Chanson von Hugo Wiener.

Bedenkenswerter als Tybalts Hass wäre die Frage, warum uns der Vers von der Nachtigall, nicht der Lerche nach mehr als 400 Jahren immer noch berührt. Wer das beantworten könnte, käme dem Geheimnis Shakespeare näher. Denn wer sagt: "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche", wenn er meint, "es ist noch sehr früh", an dem interessiert uns mehr als ein totes Liebespaar oder der Hass eines Capulet-Sprosses.

Es ist ja schon bei Shakespeare nicht wahr, dass Romeo und Julia, wie die Regisseurin sagt, bereit seien, für die Liebe bis in den Tod zu gehen, oder, wie Beate Seidel behauptet, "in Schönheit gegen die unerbittliche Welt, die eine so ausschließliche Liebe nicht zulassen will", zu sterben. Julia will zunächst nicht sterben, sondern eine List anwenden, um danach fröhlich mit Romeo weiterzuleben. Romeo will nicht im Widerstand gegen eine "unerbittliche Welt" sterben, sondern weil er Julia tot wähnt, Julia will sterben, weil Romeo dann tatsächlich tot ist. Ein Missverständnis, das auch den Stoff für Komödien abgeben könnte. Hier wird es zur Tragödie: tragisch ist der Tod, der vermieden hätte werden können wie die Vergiftung Luises durch Ferdinand in Kabale und Liebe.

Dieser vermeidbare Doppeltod unterscheidet sich grundsätzlich vom – sei es durch gesellschaftliche, sei es durch "private" Umstände motivierten – freiwilligen Doppelselbstmord, den die Romantik und die Trivialliteratur – Stichwort Mayerling – (sowie, kulturgeschichtlich bedingt, die japanische Literatur) verklären. Romeo und Julia haben gar keine Gelegenheit, den gemeinsamen Tod zu vereinbaren. Sie reden immer nur zu Toten und Scheintoten. Eigentlich ein bisschen deppert. Wie schön ist verglichen damit Ernst Lubitschs auf dem Schweizer Heimatroman Der König der Bernina basierender Stummfilm Eternal Love. Da gehen Marcus und Ciglia alias John Barrymore und Camilla Horn Hand in Hand in eine Lawine hinein, um einer ausweglosen Situation und, jawohl, Beate Seidel, einer "unerbittlichen Welt" zu entfliehen, die den unschuldigen Marcus als Mörder brandmarkt und Ciglia zur Ehe mit dem ungeliebten Lorenz verdammt hat. Mal ehrlich: kommen Romeo und Julia dagegen an?


Thomas Rothschild - 21. Mai 2024
2790

Der Sachverständige

Wenn in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, im Fernsehen über die Sowjetunion und den Marxismus diskutiert wurde, durfte er nicht fehlen: Wolfgang Leonhard. Er galt neben Pater Wetter, mit dem zusammen er ein Standardwerk über Sowjetideologie verfasst hat, als der beste Kenner der Materie. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass Leonhard zwar frühzeitig mit der Sowjetunion, nicht aber mit dem Marxismus gebrochen hatte. Er war einer der leidenschaftlichsten Anhänger Titos, und die Tatsache, dass Titoisten nach dem Bruch der UdSSR mit Jugoslawien für orthodoxe Kommunisten schlimmere Feinde waren als die Apologeten des Kapitalismus, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie einen Sozialismus befürworteten – freilich nach einem anderen Modell als jenem, das die Sowjetunion anbot. Wolfgang Leonhard war ein Häretiker, aber kein Renegat, und bekanntlich hassen Religionen niemanden so sehr als eben die Häretiker.

Wolfgang Leonhard hatte von seiner Biographie her weit mehr mit dem Kommunismus zu tun als viele, die ihn bekämpften. Seine Mutter war Susanne Leonhard, von Jugend an und bis zu ihrem späten Lebensende im Jahr 1984 Kommunistin, obgleich sie schon 1925 die Partei verließ und zwölf Jahre in einem sibirischen Lager verbracht hatte. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten emigrierte der 1921 geborene Wolfgang Leonhard, dem seine Mutter den eigentlich verräterischen Vornamen Wladimir gegeben hatte, zunächst nach Schweden und 1935 in die Sowjetunion. Noch vor Kriegsende, an dem Tag, an dem Hitler sich das Leben nahm, zog Leonhard nach Berlin, wo er der Gruppe Ulbricht angehörte. Seit 1950 arbeitete und lehrte er in der Bundesrepublik und in den USA. Er ist vor knapp zehn Jahren, ,am 17. August 2014 im Alter von 93 Jahren gestorben.

Heute, da sich jede und jeder ohne Verstand und Kenntnisse über Putin äußert, da differenzierte Analysen und Erklärungen nötiger wären denn je, fehlt eine öffentliche Figur wie Wolfgang Leonhard mehr denn je.

Thomas Rothschild - 20. Mai 2024
2789

Ohne Verstand und Knollennase

Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendein Schwätzer von mittelmäßigen intellektuellen Gaben mit wichtigtuerischer Miene über die Medien einen Schmarren von sich gibt. Und kein Redakteur, kein Dramaturg gebietet Einhalt. Anlässlich des 100. Geburtstags von Loriot strahlen die deutschen Fernsehsender eine Dokumentation über diesen Satiriker aus. Darin behauptet ein Klugscheißer, er werde im nicht deutschsprachigen Raum wegen seiner kunstvollen Sprache nicht verstanden. Als Beweis führt er das Wort „Auslegerware“ an, für das es in anderen Sprachen keine Entsprechung gebe.

Das ist natürlich kompletter Unsinn. Loriots Sprache ist nicht erfindungsreicher oder komplexer als es die Verse von Edward Lear, die Bildergeschichten von Edward Gorey oder die Filme der Marx Brothers sind. In all diesen Fällen kommt es nur darauf an, einen überdurchschnittlich begabten Übersetzer zu finden – Wolfgang Hildesheimer zum Beispiel oder H.C. Artmann –, der die Sprache, aus der übersetzt wird, und jene, in die übersetzt wird, hinreichend beherrscht und genügend schöpferische Fantasie besitzt.

Die Interviewpartner in Dokumentationen wie jener über Loriot gehören nicht dazu. Sie gleichen vielmehr jenen Figuren, die Loriot karikiert hat. Auch ohne Knollennase.

Im Übrigen hätte es nicht geschadet, wenn man bei aller Bewunderung für den massentauglichen Publikumsliebling im Zusammenhang mit der Frage, ob und inwiefern er politisch sei, an seinen Altersgenossen Wolfgang Neuss erinnert hätte. Es gibt da schon mehr als graduelle Unterschiede, die eine Analyse verdienten. Aber so ist das halt mit dem selektiven systemkonformen Gedächtnis. So wird Evelyn Hamann unwidersprochen als die erste Komikerin im Fernsehen gefeiert, als hätte es nie eine Helga Feddersen gegeben.


Thomas Rothschild - 30. März 2024
2788

Geheimwissen

Im Internet existiert eine, wie man annehmen darf, von den Pflichtgebührenzahlern finanzierte, Aussprachedatenbank. für deren Verwendung man sich registrieren lassen muss. Versucht man das bei der angegebenen Adresse, erhält man folgende Antwort: "Der Zugriff auf die Aussprachedatenbank ist beschränkt auf den internen Gebrauch und aktuell nur für Mitarbeitende der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten möglich." Mit anderen Worten: Die richtige Aussprache, vorausgesetzt, die Datenbank ist korrekt, bleibt Geheimwissen. Oder wahrscheinlicher: Der ganz normale Staatsbürger soll nicht in die Lage versetzt werden, zu überprüfen, ob Mitarbeitende der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Wörter und Namen, zumal aus Fremdsprachen, richtig aussprechen.

Unter uns Pfarrerstöchtern: Sie tun es nicht. Polnische Namen beispielsweise werden regelmäßig falsch ausgesprochen. Offenbar haben die Mitarbeitenden der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, mit oder ohne Aussprachedatenbank, noch nicht einmal begriffen, dass der Wortakzent im Polnischen in der Regel auf der vorletzten Silbe liegt (im Gegensatz etwa zum Tschechischen oder zum Ungarischen, wo auf der ersten Silbe betont wird), und dass man sich bei russischen Eigennamen, wo es solch eine Regel nicht gibt, besser erkundigen sollte. Unsere neuen ukrainischen Mitbürger*innen können da zuverlässig Auskunft geben, ohne dass man sich registrieren lassen muss. Nicht jede Russin, deren Name auf -aja endet, will auf der vorletzten Silbe betont werden, als wäre sie eine Polin. Sie hat den gleichen Anspruch auf korrekte Aussprache wie Biden, Kissindscher oder, neuerdings, sogar Erdoğan.

Unlängst hat die putzige Evelin König in der noch putzigeren Vorabendsendung ARD-Büffet "schegediner Gulasch" statt "segediner Gulasch" empfohlen, weil sie das ungarische "sz" offenbar nicht vom polnischen unterscheiden kann oder nicht weiß, wo Szeged liegt. Dabei hätte sie Zugang zum Geheimwissen. Sie kann mit einer "E-Mail-Adresse der Rundfunkanstalten der ARD oder einer der folgenden Rundfunkanstalten: ZDF, Deutschlandradio, ORF, Rai Südtirol, SRF, RTR, ARTE und radio 100,7" einen Registrierungs-Code beantragen, und husch, kommt die (hoffentlich) richtige Aussprache ins Haus.

Ob die ARD und ihre Affiliationen mit den Daten für die Kontaktierung säumiger Gebührenzahler ebenso klandestin umgehen wie mit den Daten derer, die wissen wollen, wie man „klandestin“ ausspricht?


Thomas Rothschild - 5. März 2024
2787

Was zählt

Im Nahen Osten bringen sich die Menschen in Israel und Gaza gegenseitig zu Tausenden um. In der Ukraine werden Zivilisten aus ihren Häusern gebombt. In Potsdam beraten Politiker, die sich anschicken, die Macht zu übernehmen, über die Deportation von Personen mit dem falschen Pass oder der falschen Herkunft. Die dpa aber meldet, was wirklich zählt, und die ZEIT, einst ein seriöses Medium, stellt es ins Netz:

"'Mein Lebensmotto ist tatsächlich, einfach immer dem Universum zu vertrauen und zu wissen, Dinge im Leben kommen, weil sie kommen müssen und irgendein Zeichen uns da leiten wird. Und so was tatsächlich auch bei mir in beiden Fällen, das muss ich wirklich sagen.' Auch an alle, die sich Sorgen gemacht hätten, sagte sie: 'Es war für irgendetwas gut und ich habe daraus gelernt.'

Auf eine Fan-Frage, ob Fischer sich nun bis zu ihrer nächsten Tour im Jahr 2026 ununterbrochen fit halten müsse, sagte die Sängerin, dass sie es sich auch sehr gern mal schmecken lasse - und an Silbereisen gewandt: 'Ich liebe es zu kochen, wie du ja weißt.' Er entgegnete daraufhin, dass sie in Zukunft quasi um die Wette kochen könnten. 'Ja, ich weiß. Du hast auch schon ganz schön aufgeholt, mein lieber Himmel', freute sich Fischer und legte gleich eine Einladung nach: 'Kommst' wieder auf 'nen Kaffee vorbei, gell?'

Für die Fans waren Silbereisen und Fischer jahrelang das Traumpaar der deutschen Musikszene, inzwischen ist Fischer mit dem Akrobaten Thomas Seitel liiert und Mutter einer kleinen Tochter."


Es ist zum Kotzen. Wenn der Mensch tatsächlich eine Schöpfung Gottes ist, wie uns die badische Landesbischöfin unlängst anlässlich des Begräbnisses von Wolfgang Schäuble wieder einmal versichert hat, wenn das nicht eine Fake News ist, deren Verbreitung verhindert werden müsste wie die Behauptung, dass die Erde eine Scheibe sei, dann ist ihm dieses Unternehmen gründlich misslungen. Vielleicht ist die Künstliche Intelligenz eine wünschbare Alternative.


Thomas Rothschild - 14. Januar 2024
2786

Kein Gefallen für Kurt Schwitters

Im Neuen Deutschland schreibt Michael Wolf über Kurt Schwitters’ Ursonate am Deutschen Theater, mit der Claudia Bauer ganz offenkundig den Erfolg von humanistää! nach Ernst Jandl am Wiener Volkstheater zu wiederholen versucht: „Die ganze Anstrengung dieses Theaterabends, und es ist eine gewaltige, beruht darin, Bedeutung zu stiften, wo zuvor keine zu erkennen war. Claudia Bauer und ihr Ensemble zähmen Schwitters, sie machen ihn konsumierbar. Das schallende Lachen des Publikums zeugt auch ein wenig von der Dankbarkeit, nicht mit Bedeutungslosigkeit konfrontiert zu werden. Anders gesagt: Mit Dada oder mit ‚Merz‘ hat das, was auf der großen Bühne des Deutschen Theaters stattfindet, nicht mehr viel zu tun.“

Der Einwand von Michael Wolf ist nicht eine Meinung unter anderen, sondern entscheidend. Wer dem Bedürfnis nach Bedeutung, nach „Sinnstiftung“ nachgibt, wo diese mit Absicht torpediert wurde, zerstört eine – nicht die einzige, aber eine für die Moderne wesentliche – literarische Entwicklung. Man geht den einfachen Weg und vermeidet die Herausforderung der Differenzwahrnehmung. Es ist, als würde man Schönbergs Kompositionen ins Tonale „übersetzen“. Fazit: die revolutionären Ansätze von Schwitters, Chlebnikov, Krutschonych bedürfen nach 100 Jahren immer noch kämpferischer Advokaten. Noch einmal: nicht als einzige, aber als eine Möglichkeit der Literatur. Wer sie missachtet, betreibt, populistisch, das Geschäft der (ästhetischen) Reaktion. Da bekommt das „Regietheater“ eine neue Dimension. Es wird zur Anbiederung an die Denkfaulheit. Herbert Fritsch ist einen anderen Weg gegangen. Er hat mit seinen Adaptionen von Dieter Rot oder Konrad Bayer gezeigt, dass auch auf der Bühne der Geist des „selbstwertigen Worts“, der „transmentalen Sprache“ vermittelt werden kann. Man muss sich bloß ernsthaft darauf einlassen.

Zweitausendeins hat schon vor Jahren eine vierstündige MP3-CD herausgebracht, die das Vergnügen gewährt, verschiedene Interpretationen der Ursonate und anderer Lautdichtungen von Kurt Schwitters zu vergleichen. Zu den Interpreten gehören Gerhard Rühm, dessen eigene Dichtung ohne Schwitters schwer vorstellbar ist, Max Ernst, der die Ursonate in einer Rede zitiert hat, der Sohn von Kurt Schwitters Ernst, dessen eigene, 1993 bei wergo erschienene Stimme lange als die seines Vaters galt, die Dichterkollegen Raoul Hausmann und Otto Nebel. Die musikalischste Version liefert das Trio Exvoco, das sich kontinuierlich und virtuos um Schwitters bemüht hat. Beim Anhören stellt man fest, wie schwierig es ist, nicht nach Bedeutungsanklängen zu fahnden, Silben nur als phonetische Gebilde wahrzunehmen. Auch bei der zwanghaften Suche nach Ordnungsprinzipien fallen einem sogleich die vertrautesten, etwa das Alphabet auf. Wir sind geprägt, Sprache und Literatur als „sinnvoll“ zu verstehen. Der Traum von Schwitters, Chlebnikov und anderen ist nur bruchstückhaft in Erfüllung gegangen. Claudia Bauers Unternehmen scheint da, wenn man Michael Wolf folgt, eher kontraproduktiv zu sein.


Thomas Rothschild - 19. Dezember 2023
2785

Satzstellung

In der Online-Dependance der ZEIT, des Wochenblatts für das gebildete Bürgertum, kann man in einem Interview den folgenden Satz lesen: „Als Frau ist das dann eben ein unangenehmer Arbeitsort.“ Der Arbeitsort – in diesem Fall: ein Schiff – als Frau? Gibt es niemanden, der als ZEIT-Redakteur stillschweigend verbessert: "Für eine Frau ist das dann eben ein unangenehmer Arbeitsort"? Wozu auch? Als Leser ist Stummeldeutsch gut genug.

Zwei Tage später kommentiert eine Nutzerin auf nachtkritik.de: „Ihr macht echt super tolle Arbeit und als Studentin der Kultur- und Theaterwissenschaften seid ihr echt unentbehrlich für mich!“ Das Lob ist echt super toll in Ordnung, auch wenn die Angesprochenen, nämlich das Redaktions-Team, keine Studentin der Kultur- und Theaterwissenschaften sind, der Satz ist es nicht. Vielleicht sollte man an den Universitäten, an denen Kultur- und Theaterwissenschaft gelehrt werden, Kurse für korrektes Deutsch einrichten und die Redakteure der ZEIT gleich dazu einladen.

Die Regeln für die Wortstellung im Satz sind in verschiedenen Sprachen unterschiedlich. Fürs Deutsche sind sie vergleichsweise streng. Wenn man sie ignoriert, verändert das den Sinn oder erzeugt Unsinn. „Sogar die ZEIT kocht mit Wasser“ ist eine andere Aussage als „Die ZEIT kocht sogar mit Wasser“. Dass die Missachtung von Regeln Verwirrung schafft, gilt sogar für die aus dem Schriftbild nicht erschließbare Betonung. „Heute so und morgen so“ hat entgegengesetzte Bedeutung, je nachdem ob man „heute“ und „morgen“ oder ob man, beide Male, „so“ betont. Die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Grammatik (gegenüber dem Stil, über den man streiten kann, sowieso) ist nicht bloß ein ästhetisches Problem. Sie torpediert eine Kommunikation, die die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen verringert. Wohlgemerkt: ich spreche nicht von Einwanderern. Sie verdienen jede Geduld und jedes Nachsehen. Ich spreche von Frauen und Männern mit Deutsch als Muttersprache, zu denen man ZEIT-Redakteure und eine Studentin der Theaterwissenschaft mit einem unverkennbar deutschen Namen wahrscheinlich rechnen darf.

Aber ich weiß schon, dass mein Unbehagen nichts ändern wird und dass es vielen kleinlich erscheint. Damit habe ich mich abgefunden. Als habitueller Pessimist. Oder sollte ich sagen: Der gegenwärtige Umgang mit Sprache ist als Pessimist für mich beklagenswert?


Thomas Rothschild - 23. November 2023
2783

Appetitanregend und aktuell

„Besonders der Zwiebelrostbraten ist in aller Munde.“

Die Stuttgarter Zeitung über einen Ludwigsburger Biergarten.

Hätten Sie Lust, einen Zwiebelrostbraten zu bestellen, der in aller Munde war?

Was würde Helmut Heißenbüttel hinzufügen? „mehr ist dazu nicht zu sagen“

Außer vielleicht die Feststellung, dass die Stuttgarter Zeitung nicht nur in schiefen Bildern schwelgt, sondern auch längst bekannte Artikel veröffentlicht. Der Volontär Maximilan Kroh hat den vor etwas mehr als zwei Jahren in derselben Zeitung abgedruckten Beitrag von Michael Bosch Wort für Wort abgeschrieben, lediglich um ein mittlerweile geschlossenes Lokal gekürzt und zwei weitere ergänzt. Jetzt wissen wir also, womit Jungjournalisten in den gelifteten Stuttgarter Zeitungen beschäftigt werden, die Tag für Tag irgendetwas „verraten“. Zum Beispiel ihre Tipps vom vorvergangenen Jahr.

„mehr ist dazu nicht zu sagen“

Thomas Rothschild - 20. August 2023
2782

Ironie

Was die Sozialisation im Elternhaus so ausmacht! Meine Mutter hatte einen ausgeprägten Hang zur Ironie, manchmal bis hin zum (verletzenden) Spott. Mein Vater, eher zu rationalen Erklärungen neigend, benützte in seiner Rede nur selten Ironie, aber er hatte keine Probleme, sie zu erkennen, zu verstehen und zu genießen.

Meine eigene Haltung ist entschieden ironisch. Damit verbunden ist eine Idiosynkrasie gegenüber Pathos, halbverstandenen Phrasen oder Selbstüberschätzung. Ich kann nicht anders, als im ernst Gemeinten auch das Lächerliche zu erkennen. Wer aber Ironie äußert, riskiert, missverstanden zu werden. Mehr noch: er wird meistens außerhalb des Kreises, der ihn sehr gut kennt und seine Werte womöglich teilt, missverstanden. Ironie ist kommunikatives Glatteis.

Ich hatte einen guten Freund, der über eine große Zahl von charakterlichen und intellektuellen Vorzügen verfügte. Ironie allerdings gehörte nicht dazu. Wenn ich ihm gegenüber eine ironische Bemerkung machte, antwortete er darauf mit todernsten, oft in lange Vorträge ausartenden Belehrungen. Ich habe also versucht, mich zu zügeln und Ironie im Umgang mit ihm zu vermeiden. Er ist nicht der Einzige in meinem engeren und entfernteren Bekanntenkreis, dessen ironische Anlage mit ihrer analytischen Begabung nicht Schritt halten kann.

Ich muss allerdings gestehen, dass mir eine ironiefreie Kommunikation ziemlich ermüdend erscheint. Sie ist mit der Humorlosigkeit verwandt. Es ist oft viel einfacher, das Gegenteil vom Gemeinten zu sagen, wenn das denn auch verstanden wird, als das Gemeinte ausführlich zu begründen. Auch in der Literatur und selbst in der politischen Propaganda liest sich intellektuelles Florett in der Regel angenehmer als rhetorischer Kanonendonner.

Dagegen ließe sich bei genauerer Betrachtung einwenden: Ironie ist die Sprechweise der Mächtigen oder – da diesen meist nur eine sehr eingeengte Sprache zur Verfügung steht – derer, die den Mächtigen artikulatorisches Begleitfeuer liefern. Man muss schon „darüberstehen“, gefahrlos hinabblicken können auf das, was man ironisch der mehr oder weniger wohlwollenden Ridikülität preisgibt.

Den Machtlosen bleibt anstelle der Ironie nur der Spott. Er ist die Notwehr der Unterlegenen. Seit es Literatur gibt, gibt es auch den Spott über Institutionen und deren Repräsentanten. Wenn man die Verhältnisse der Ungleichheit und der Unterdrückung schon nicht beseitigen kann, so will man sie wenigstens grimmig verlachen, vornehmlich im Hinterstübchen, weil es sonst den Kopf kosten könnte. Spottverse und Lieder, Witze und Zoten über Fürsten und Kirchenvertreter haben eine lange Tradition. Der Spott gilt als plebejisch (und ist es auch oft). Er hat daher schlechte Presse und in den Feuilletons kaum seinen Platz. Die bevorzugen die Ironie, weil sie sich ja auch lieber auf die Seite der Mächtigen als auf die der von diesen Eingeschüchterten stellen.

Wo aber die Gefahr lebensbedrohlich wird, da greifen weder Ironie noch Spott, da herrscht notgedrungen absolute Humorlosigkeit. Ironie und Spott sind dem mörderischen Mob nicht adäquat. Ästhetisch ist ihm nicht beizukommen. Ironie funktioniert nicht, wo Entsetzen waltet. Und übrigens – da berühren sich die Extreme – auch nicht bei Begeisterung. Wir werden, wie die Zei­chen stehen, für einige Zeit das Feld wohl den Zynikern über­lassen müssen.

Einer der größten Ironiker, Karl Kraus, schrieb 1933: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ So weit sind wir noch nicht. Aber gar weit entfernt auch nicht, wo sich ein Björn Höcke und seine Anhänger und Wähler anschicken, die Demokratie mit demokratischen Mitteln (der neue Faschismus braucht keinen Putsch) abzuschaffen.


Thomas Rothschild - 16. August 2023
2781

Mogelpackung

Die Stiftung Warentest benennt in jeder Nummer ihrer Zeitschrift Mogelpackungen, Waren also, deren Verpackung einen größeren Inhalt vortäuscht, als tatsächlich drin ist. Es wäre an der Zeit, solche Enthüllungen auch für den Buchmarkt zu veröffentlichen.

In vergangenen, moralischeren Zeiten enthielten die Ausführungen auf den Buchhüllen oder -umschlägen, die sogenannten Klappentexte, tatsächlich Informationen, die dem Besucher eines Buchladens bei der Auswahl seiner Lektüre und der Entscheidung für oder gegen einen Kauf behilflich sein sollten. Heute kann man kaum noch ein Buch zur Hand nehmen, auf dessen Verpackung nicht beteuert wird, dass sein Autor „einer der bedeutendsten Schriftsteller“ sei. Wo es aber nur noch bedeutendste Schriftsteller oder Schriftstellerinnen gibt, bedeutet dieses Label gar nichts. Es gehört zum Vokabular von Werbefachleuten, die die Bücher, die sie anpreisen, wahrscheinlich nie gelesen haben.

Gerne drucken die Verlage im Klappentext auch Urteile – ausschließlich positive, überschwängliche versteht sich – von Kolleg*innen des Verfassers, der Verfasserin ab. Diese beruhen auf dem Manuskript oder, meist verschleiert, auf vorausgegangenen Publikationen. Auf welchem Weg und unter welchen Bedingungen sie vor Drucklegung zum Verlag gelangt sind, kann man nur erraten.

Schon in den vergangenen Jahren prangte auf Umschlägen von zweiten und weiteren Auflagen die auffällige Kennzeichnung eines SPIEGEL-Bestsellers. Inzwischen annonciert sie einen „SPIEGEL-Bestseller-Autor“. Abgesehen davon, dass man darüber streiten kann, was es über die Qualität eines Buchs besagt, dass es sich gut verkauft hat (auch ein Hamburger von McDonald’s ist ein Bestseller): dass ein Autor einen Bestseller geschrieben hat, heißt noch nicht, dass er das wiederholt. Die Literaturgeschichte kennt unzählige Schriftsteller*innen, bei denen auf einen großen Wurf eine Pleite folgte.

Am 23. August kommt bei Luchterhand ein Bändchen des auf Bestseller abonnierten Ferdinand von Schirach mit dem Titel Regen heraus. Nichts auf dem Umschlag deutet darauf hin, dass die Erzählung nur etwas mehr als die Hälfte des schmalen Büchleins füllt. Die andere Hälfte besteht aus einem Interview mit dem Autor, das in gekürzter Form im September des vergangenen Jahres im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. Der Regen währt nur 50 Seiten mit viel Durchschuss.

Bauernfängerei? Vielleicht ein zu starkes Wort. Aber Mogelpackung allemal.


Thomas Rothschild - 12. August 2023
2780

Bekenntnisse eines Misanthropen

Der geniale Ausspruch wird meist Johann Nepomuk Nestroy zugeschrieben: „Der Mensch is' gut, aber die Leut' san a G'sindel!“ In der Tat gibt es wenig Gründe, die Leut' ins Herz zu schließen. Die Propagierung der Menschenliebe und die Diffamierung der Misanthropie haben ausschließlich pragmatische Gründe. Sie sollen das Zusammenleben, auf Kosten der Wahrheit, vereinfachen. Einmal mehr wird ein Ideal als Realität ausgegeben. Das Schaf soll den Wolf lieben, der Ausgebeutete den Ausbeuter und der Ruhebedürftige den Störenfried.

Ich bekenne mich zur Misanthropie, die nicht in meinen Genen liegt, auch nicht an meinem Elternhaus, sondern auf Erfahrungen beruht. Zum Beispiel auf Urlaubsreisen. Ich mag keine Touristen, die gewohnheitsmäßig am Essen irgendetwas auszusetzen haben, als würden sie daheim zum Frühstück Kaviar und Austern verschlingen. Mir sind Egozentriker zuwider, die sich in Deutschland über jeden Syrer oder Afghanen erregen, der gerade ein Jahr im Land lebt und die Sprache nicht beherrscht, im Ausland aber jeden auf Deutsch ansprechen, als müsse man das auf der ganzen Welt verstehen. Ich verabscheue die Männer, Frauen und Kinder, die im Pool stundenlang Bälle umherwerfen, brüllen und spritzen, wo andere in Ruhe schwimmen wollen.

Es ist mir egal, ob sie in Badehosen und -latschen im Restaurant sitzen, weil das mein Wohlbefinden nicht stört. Aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn sie so tun, als wären sie allein auf der Welt und dabei von der Annahme ausgehen, dass alle ihren Nachwuchs so süß finden müssen wie sie selbst. W.C. Fields meinte einmal: "Wer Hunde und kleine Kinder hasst, kann kein ganz schlechter Mensch sein." Das wurde ihm als zynisch angelastet und ist es wohl auch. Dabei war das vor fast 100 Jahren. Heute, da Kindern nichts mehr verboten und ihr Recht auf Selbstverwirklichung auf Kosten der restlichen Menschen nicht eingeschränkt werden darf, hat der Satz an Plausibilität gewonnen. Zumindest für Misanthropen, wie ich einer bin. Dabei erweisen die scheinbar liberalen Eltern ihren Kindern einen Bärendienst. Wo sollen diese lernen, mit einer widrigen Situation umzugehen, das, was Psychologen „Resilienz“ nennen, wenn ihnen jeder Wunsch augenblicklich erfüllt wird und jeder Verzicht als unzumutbar gilt?

Zum Glück gibt es auf kultura-extra.de keine Kommentarfunktion. Den Shitstorm, den ich mit dieser Kolumne auslösen würde, kann ich mir denken. So sind sie halt, die Leut'.


Thomas Rothschild - 4. August 2023
2779

Unter sich keinen Sklaven

Neulich traf ich bei einer Totenfeier eine alte Bekannte, die in einer kommunistischen Familie aufgewachsen und mit den kulturellen Ritualen des Milieus gut vertraut ist. Sie hat Geschichte studiert und rechtzeitig begriffen, dass es für die Karriere förderlich ist, wenn man sich der Sozialdemokratie andient. Die Rechnung ist geradezu fulminant aufgegangen.

Unser verstorbener Freund hatte sich für seine Totenfeier ein Kampflied von Bertolt Brecht gewünscht, das über Lautsprecher ertönte. Meine Bekannte wandte sich zu mir und sagte:„Das macht mich immer noch sentimental, obwohl ich längst nichts mehr damit zu tun habe.“ Gerne hätte ich sie gefragt, was an Brechts Text falsch sei, da war sie schon in die Welt des bürgerlichen Wohlstands entschwunden.

Im Einheitsfrontlied heißt es:

"Und weil der Mensch ein Mensch ist
Drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern
Er will unter sich keinen Sklaven sehen
Und über sich keinen Herrn"


Das war schon zu Brechts Zeiten mehr Wunsch als Gegebenheit. Die Sache mit dem Herrn hat sich in den 89 Jahren seit der Entstehung des Liedes ein wenig geändert, zumal wenn der Herr ein Herr, also männlichen Geschlechts ist. Aber wie verhält es sich mit den Sklaven, den der Mensch nicht unter sich sehen will? Hat er, wenn er zufällig in Deutschland oder Österreich geboren wurde, Hemmungen, polnische Frauen schlecht bezahlt als „Reinigungskräfte“ oder als Pflegerinnen für sich arbeiten zu lassen, und was wäre das anderes, als die moderne Form der Sklaverei? Kommen ihm Bedenken, wenn er gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“ wettert, und jene, die es doch zu uns schaffen, zu einem Lohn, den keine Gewerkschaft und kein „Eingeborener“ akzeptieren würde, Schwarzarbeit verrichten lässt? Welche, außer einer Sklavenhalterlogik, rechtfertigt die Zumutung, dass nur jene von einem mehr oder weniger fortschrittlichen Sozialsystem profitieren sollen, die durch Zufall innerhalb der Grenzen der EU zur Welt kamen? Das hegemoniale Denken der Nationalstaaten setzt sich bei den eifrigen Befürwortern der Europäischen Union fort. Die Menschen aus dem Rest der Welt sind potenzielle Sklaven, nicht anders als die einst in die USA importierten Afrikaner, die keinen Anspruch auf Krankenversorgung, Bildung oder Schutz vor Ausbeutung haben sollen.

Damit will meine alte Bekannte nichts mehr zu tun haben. Jedenfalls nicht in den Worten von Bertolt Brecht. Sie war schon klüger, als sie einst seine Lieder sang.

Thomas Rothschild - 31. Juli 2023
2778

Wider die verschleierte Hilflosigkeit

Der Antisemitismus, von dem man sich 1945 nach der Erfahrung des Holocaust erhofft hatte, dass er sich für ein und allemal erledigt habe, ist nicht nur nicht verschwunden, sondern wieder verstärkt und mit Ursache zum Thema geworden. Dabei beweist die Aufregung nur die Hilflosigkeit der Debattenführer, der Betroffenen ebenso wie der Gutmeinenden. In jüngster Zeit wähnten Einige, es sei bei der Bekämpfung des Antisemitismus etwas erreicht, wenn man ihn erst einmal definiert habe. Das ist ziemlicher Unsinn, ein pseudowissenschaftliches Pfeifen im Walde.

Was ist gewonnen, wenn man sich auf eine Antisemitismus-Definition einigen kann? Offensichtlich kann man niemandem verbieten, Antisemit – wie immer man ihn definiert – zu sein. Man kann ihm allenfalls verbieten, das erkennen zu lassen. Das aber wiederum lässt den Antisemitismus nicht verschwinden, sondern erzeugt neue Ressentiments und Aggressionen. Es wäre ein Fortschritt, wenn sich jemand ungeahndet als Antisemit bekennen könnte, wie man bekennen kann, dass man Aristokraten oder Vegetarier nicht mag. Eine Bekehrung ist, wie die Geschichte lehrt, ohnedies nicht möglich. Die Aufklärung ist gescheitert. Verboten und bestraft werden müssen alle Formen der Aggression (dafür gibt es bereits Gesetze, die man modifizieren kann), aber jeder Versuch, kollektive oder individuelle Aversionen abzumahnen, ist wiederum zum Scheitern verurteilt. Der Hinweis, dass jemand Antisemit sei, ob er nun, je nach Definition, berechtigt ist oder unberechtigt, bewirkt nichts, solange der Beschuldigte nur die Wahl hat, zu leugnen. Wie will man entscheiden, wer Antisemit ist: wer zum Boykott Israels aufruft, oder wer zum Boykott jener Juden aufruft, die diesen Boykott unter den gegebenen Bedingungen für richtig halten wie amerikanische Vietnamkriegsgegner einst den Widerstand gegen die Politik der USA? Wäre es nicht realistischer, zu überlegen, wie man auf halbwegs zivilisierte Weise mit Antisemiten zusammen leben kann (es bleibt einem eh nichts anderes übrig, wenn man nicht einem Selbstbetrug aufsitzen will), wie Menschen, die Angst vor dem Coronavirus haben, mit jenen zusammen leben mussten, die sich weigern, Masken zu tragen. Die Erfahrung zeigt uns auch in diesem Fall, dass mit Appellen nicht viel zu erreichen ist.

Ob beim Antisemitismus oder bei anderen abzulehnenden, mehr oder weniger aggressiven Abneigungen: wer sie bekämpfen will, täte gut daran, sich um mehr Nüchternheit zu bemühen, um Vernunft und Einsicht in Erkenntnisse der Psychologie und der Soziologie, statt mit pathetischen Phrasen um sich zu werfen, seinen guten Willen für hilfreicher zu halten als die Berücksichtigung des Machbaren. Die Beschwörung des „Nie wieder!“ hat noch nie Erfolg gehabt. Sie bleibt hohles Gerede. Was nie wieder eintreten soll, kann man nur mit Einsicht in das Tatsächliche verhindern. Alles andere ist Wichtigtuerei und Augenwischerei, nicht zuletzt auch, leider, ein Vorwand für bezahlte oder unbezahlte Funktionen in Institutionen, deren Wirksamkeit niemand überprüft.


Thomas Rothschild - 30. Juli 2023
2777

Premierenhumbug

Eigentlich gibt es wenig Gründe, die dafür sprechen, Premieren zu besuchen. Man begegnet dort den stadtbekannten Snobs und den Damen der Gesellschaft, die ihr neues Kleid ausführen wollen. Die Inszenierung ist noch nicht eingespielt, die Reaktion des Publikums atypisch. Wenn man aber als Kritiker berichten soll, bleibt einem oft nichts anderes übrig, als zur Premiere zu gehen. Nichts zwingt einen, anschließend bei der Premierenfeier zu bleiben und jenen Schauspielern zuzuprosten, über die man vorurteilslos und ehrlich schreiben soll.

Am meisten aber nerven bei Premieren die Kolleg*innen der Mitwirkenden, die für diesen Abend keine Rolle bekommen haben und sich wenigstens durch lautstarke Reaktionen aus dem Zuschauerraum in Szene setzen wollten. Sie lachen affektiert, klatschen, pfeifen und grunzen hysterisch und fürchten nichts so sehr, wie dies: dass man sie nicht bemerken könnte.

Premieren verhalten sich zu Repertoirevorstellungen wie neue Schuhe zu eingelaufenen Schuhen. Sie zwicken und zwacken, wo sich diese bequem tragen lassen. Die professionelle Kritik aber schreibt über die Schuhe, bei der noch nicht einmal erprobt ist, ob die Größe stimmt. Noch ungerechter ist sie bei Opern- und Ballettinszenierungen, seltener im Sprechtheater, mit Doppel- oder Mehrfachbesetzungen. Die Zweitbesetzung bleibt fast immer von den Medien unbeachtet. Fair ist das nicht.

Neben den Kritikern sind es zu einem großen Teil die Adabeis und die Damen und Herren der örtlichen Gesellschaft, denen am Vorweis ihrer jüngst erworbenen Kleidung und Schmuckgehänge und am Aperol Spritz in der verlängerten Pause mehr gelegen ist als am Bühnengeschehen, die die Premieren füllen.

Nirgends haben sich Theater und Oper nachhaltiger als Institution bürgerlicher Snobs erhalten als bei den Premieren. Sie hat die Konkurrenz von Kampnagel und Freier Szene unbeschadet überlebt. Aber was soll man dagegen unternehmen, solange die Medien in ihrem unerbittlichen Konkurrenzkampf zu den ersten gehören wollen, die berichten. Der Standard in Wien weiß sogar schon vor der Premiere und erst recht der weiteren Stücke, dass Nathan der Weise der Höhepunkt des Schauspielprogramms der heurigen Salzburger Festspiele ist. Wozu braucht man bei so viel Hellsicht noch eine Premierenkritik?

Thomas Rothschild - 28. Juli 2023
2776

Kalauer im luftleeren Raum

Woran erkennt man einen journalistischen Dummkopf? Daran, dass er, sei es der Autor selbst, sei es ein wichtigtuerischer Redakteur, einem Artikel einen Kalauer voranstellt, der im Folgenden durch keinerlei Halbsatz eingelöst wird.

Die Stuttgarter Zeitung feiert den 80. Geburtstag von Mick Jagger. Die Hommage trägt den Titel Die Quadratur des Greises. Das klingt witzig. Nur hat er mit dem Artikel nichts zu tun. Das Wort „Quadratur“ kommt darin nicht vor, und was mit der Quadratur des Kreises gemeint ist, nämlich ein unlösbares Problem, findet keinerlei Entsprechung. Das Wortspiel ist ein eitler Sprachbrocken ohne Zusammenhang.

Diese Verwirrung des Geistes ist kein Einzelfall. Der Spiegel war einst und ist noch gelegentlich Weltmeister in der Erfindung von kalauernden Überschriften, die aber fast stets einen Grundgedanken des entsprechenden Artikels auf den Punkt brachten. Die Dummköpfe unserer Gegenwart kalauern ins Blaue hinein, nach dem Vorbild von Werbetextern. Die Rede von der Quadratur des Greises ist im Zusammenhang mit Mick Jagger ebenso beliebig wie der Kalauer Der Ruf der Zwerge mit Bezug auf den Artikel, der ihn würdigt.

Der sprachlichen Unbeholfenheit entspricht die inhaltliche Ahnungslosigkeit. „Und er (Mick Jagger) hat den Frontmann beziehungsweise die Rampensau erschaffen“, dekretiert der Autor der Stuttgarter Zeitung. Wirklich? Was ist mit Chuck Berry? Übrigens, apropos „Alternde Vorbilder gab es nicht. Wegweisende Musiker hörten entweder aus freien Stücken mit dem Radau, den Gitarren und dem Exzess auf, oder sie segneten frühzeitig das Zeitliche“: als Mick Jagger die Bühne betrat, war Chuck Berry schon 36. Er ging noch mit 87 Jahren auf Welttournee. Was sind dagegen die 80 Jahre von Mick Jagger?

Thomas Rothschild - 26. Juli 2023
2775

Krankenbruder

Es gibt längst an allen Krankenhäusern Männer, die die Arbeiten von Krankenschwestern verrichten. Aber den Begriff des Krankenbruders gibt es nicht. Wo bleibt der Aufschrei der Fanatiker des Genderns?

Wo bleibt er bei der Bezeichnung „Krankenschwester“, die alle Angehörige dieses Berufs, ob sie Musliminnen, Agnostikerinnen oder Atheistinnen sind, ob sie an kommunalen, privaten oder öffentlichen Einrichtungen tätig sind, sprachlich zu Angehörigen einer konfessionellen christlichen Einrichtung, zu Nonnen, Ordensschwester oder Diakonissen macht? Wurde nicht argumentiert, das Fehlen einer weiblichen Form beim generischen Maskulinum mache Frauen unsichtbar? Dann macht die generalisierende Bezeichnung „Krankenschwester“ nicht christliche Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger unsichtbar. Kein Protest, keine Petition. Was sagt uns das? Die Diskriminierung der Mehrheit, die anderen als des katholischen oder evangelischen oder keines Glaubens sind, ist den Sprachpartisan*innen wurscht. Einmal mehr erweist sich, dass eine Lobby nur ihre eigene Sache betreibt, dass ihr mehr allgemeine Gerechtigkeit am Arsch vorbei kann.

Auf Kosten der Krankenschwestern, die keine Schwestern sein wollen. Auf Kosten der Krankenbrüder. Auf Kosten der queeren Krankenpfleger.


Thomas Rothschild - 24. Juli 2023
2774

Nicht was, sondern wer

„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist!“ Der berühmte Vers aus der Fledermaus von Johann Strauß und seinen Librettisten Karl Haffner und Richard Genée dürfte den meisten Linken verdächtig sein.

Noch suspekter ist ihnen wohl die Weisheit des populären Wienerlieds: „Wann der Herrgott net will, nutzt es gar nix, schrei net um, bleib schön stumm, sag, es war nix.“ Selbst wenn der „Herrgott“ als Metapher verstanden wird, in der Bedeutung von „Schicksal“ oder „die Umstände“: zu den Überzeugungen der Linken gehört es, dass alles veränderbar und nichts so schmählich sei, wie sich mit dem Schlechten abzufinden und dazu zu schweigen. Der Fatalismus hat für sie einen üblen Geruch.

Doch dann erinnert man sich an Bertolt Brechts Mahnung aus Me-ti. Buch der Wendungen:

„Gehen nach Orten, die durch Gehen nicht erreicht werden können, muss man sich abgewöhnen. Reden über Angelegenheiten, die durch Reden nicht entschieden werden können, muss man sich abgewöhnen. Denken über Probleme, die durch Denken nicht gelöst werden können, muss man sich abgewöhnen, sagte Me-ti.“

Diese Einsicht hat Brecht mehrfach variiert, zum Beispiel in der Gedichtüberschrift: „Keinen Gedanken verschwende auf das Unabänderbare!“ Und auf einmal gewinnt die Erwägung, die sich nur in der Formulierung von jener der Fledermaus oder des Wienerlieds unterscheidet, Plausibilität und die Zustimmung der Linken.

Jeder Glaube hat seine Bibel, und seine Propheten wachen darüber, dass sie nicht beschädigt wird. Sie haben das Denken verabschiedet – nicht, weil es keine Probleme lösen kann, sondern weil sie keine Probleme lösen, weil sie nichts verändern wollen. Sie fragen nicht danach, ob, was jemand sagt, falsch oder richtig ist, sondern wer es sagt. Sie vertrauen nur den Frauen und Männern mit Stallgeruch und verdächtigen unüberprüft die Aussagen der „Gegner“.

Das vereinfacht zwar die Orientierung in einer unübersichtlichen Welt. Der Wahrheit dient es nicht. Aber was kümmert das die Frommen der zweiten Generation, die von den ursprünglichen Erkenntnissen immer nur ein paar Glaubenssätze verstanden haben und nachplappern. Wer nicht begreift, was gesagt wird, orientiert sich, auch in Zeiten der Diversität, am eindeutig Feststellbaren: wer es gesagt hat. Basta.


Thomas Rothschild - 23. Juli 2023
2773

Wie die Hitze die Gehirne verbrennt

Der Theodor-Wolff-Preis gehört zu den renommiertesten Auszeichnungen für Journalisten. Seine Juroren sind im Begriff, das Renommee zu verspielen.

Eine Kategorie, für die der Preis vergeben wird, ist das "Beste lokale Digitalprojekt". Seine diesjährige Entscheidung begründet der Veranstalter so:

"Erfolgreich in der Kategorie Bestes lokales Digitalprojekt sind Jan Georg Plavec und Simon Koenigsdorff mit ihrer 'Klimazentrale Stuttgart', Stuttgarter Zeitung/ Stuttgarter Nachrichten. Hier handele es sich um ein genuin digitales Angebot, das es so in Print nicht geben könne, heißt es dazu von der Jury. Die beiden Datenjournalisten hätten ein Projekt mit hohem Nutzwert für Stuttgart und Umgebung entwickelt, das jedem Interessierten Antwort auf die Frage gebe: ‚Ist das nur Wetter oder ist das schon Klima?"“

Das "Projekt mit hohem Nutzwert für Stuttgart und Umgebung" ist – sprechen wir es unverblümt aus – hochstaplerische Augenwischerei für von der Stuttgarter Zeitung/ Stuttgarter Nachrichten mittlerweile systematisch für blöd verkaufte Leser*innen, zu denen, wie man nun vermuten muss, auch jene gehören, die über die Zuteilung des Theodor-Wolff-Preises befinden.

Am 20. Juni 2023 stellte der Junior des Projekts Simon Koenigsdorff die "Klimazentrale" unter der Überschrift Der Klimawandel in Stuttgart – in einem Schaubild vor. Der Artikel präludiert vollmundig:

"Wie heiß war es vor 60 Jahren im Sommer? Wer damals schon bewusst gelebt hat, wird sich nur selten im Detail daran erinnern. Im Gedächtnis geblieben sind am ehesten Anekdoten: Hitzefrei in der Schule, sonnige Nachmittage am See. Heiß war es damals auch schon, zumindest nicht nennenswert kühler. Oder?
Die Geschichte, die die Daten unseres Projekts 'Klimazentrale Stuttgart' erzählen, ist eine andere. Es ist eine Geschichte von der messbaren Realität des Klimawandels, die nicht immer zur menschlichen Wahrnehmung passt – denn das, was als 'normales' Wetter gilt, hat sich im Laufe der Jahrzehnte verschoben, und zwar hin zu höheren Temperaturen, Tag für Tag.“


Die Klimazentralisten kommen zu der erstaunlichen Erkenntnis: "Heute sind die Sommer heißer, die Winter milder." Genau das aber entspricht der "menschlichen Wahrnehmung". Worin also besteht die Diskrepanz, die ein Projekt Klimazentrale, mehrere Artikel und einen Theodor-Wolff-Preis rechtfertigt? Für wie idiotisch halten die Autoren ihre Kundschaft, wenn sie annehmen, dass diese sich durch nichtssagende pseudowissenschaftliche Grafiken blenden lässt, die jeder Student der Statistik im ersten Semester wegen ihrer Unterkomplexheit gähnend überblättert?

"Auch vor Jahrzehnten schon sprach man von Hitze, meinte teils aber viel niedrigere Temperaturen als heute." Wer hätte das gedacht! Koenigsdorff zitiert eine Anika Heck mit der weltbewegenden Aussage: "Die Erkenntnis, dass wir uns in einem konstanten Anstieg der Temperatur befinden und nicht mehr nur einzelne Extreme erleben, überrascht immer noch viele Leute." Noch mehr dürfte es diese Leute überraschen, dass eine Erkenntnis, über die täglich gesprochen und geschrieben wird, überraschend sein soll.

Vielleicht kann die Psychologin Anika Heck erklären, was in Juroren vorgeht, die solch einem Quatsch einen Preis verleihen. Überraschend? Wohl nicht. Wir nehmen zu ihren Gunsten an, dass sie nie eine Zeile der Preisgekrönten gelesen haben. Dafür war es einfach zu heiß. Jedenfalls, messbar und wahrnehmbar, heißer als vor 60 Jahren. Diagramm wird in Bravo nachgeliefert.


Thomas Rothschild – 24. Juni 2023
2772

Demokratie wagen

Das Haus der Weimarer Republik hat über die Stadt, in der diese Republik gegründet wurde, Plakate und Transparente verteilt mit der Aufschrift: „Demokratie ist, wenn du sagen darfst, dass du nichts mehr sagen darfst“. Ein bedenkenswerter Satz.

In Köln hat ein Gericht eine Ukrainerin zu einer Strafe von 900 Euro verurteilt, weil sie den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bei einer Demonstration „für andere wahrnehmbar gutgeheißen und befürwortet“ hat.

Mir gefällt die politische Einstellung dieser Frau nicht. Noch weniger aber gefällt mir, dass jemand dafür vor ein Gericht gestellt wird.

Ich verurteile ohne Wenn und Aber den Überfall Russlands auf die Ukraine. Nicht etwa, weil ich die Ukraine für den idealen Staat halte. Österreich war, als die deutschen Truppen 1938 einmarschierten, ein faschistischer Ständestaat, und auch die Sowjetunion konnte, als Hitler seinen Krieg gegen sie eröffnete, nicht als Musterdemokratie gelten. Nichts jedoch rechtfertigt einen militärischen Angriff auf ein anderes Land, und die unüberprüfbare Begründung, es handle sich um einen Präventionskrieg, öffnet der Aggression und der Willkür Tür und Tor. Das Recht auf Verteidigung – manche würden sagen: die Pflicht zur Verteidigung – muss auch jenen zugestanden werden, deren Regime und Politik abgelehnt werden. Hätten sich die Tschechen und Slowaken 1968 gegen die Panzer des Warschauer Pakts mit Waffen gewehrt, wäre sie zu Recht als Helden gefeiert worden. Trotz oder gerade wegen solcher tragischer Erfahrungen wie jener des Warschauer Aufstands im Jahr 1944. Man kann hoffen, dass das eigene Volk Missstände von Korruption bis zu totalitären Tendenzen bekämpft und beseitigt. Sie rechtfertigen aber, anders als die (militärische) Verteidigung, niemals einen Angriff von außen.

Dennoch gilt auch für eine Ukrainerin, die diese Meinung nicht teilt: „Demokratie ist, wenn du sagen darfst, dass du nichts mehr sagen darfst“. Wenn das heutige Deutschland eine Demokratie ist, muss sie es aushalten, wenn eine Frau den russischen Angriffskrieg billigt. Dass ihr Bekenntnis eine ernsthafte Gefahr für unsere Gesellschaft bedeutet, wird wohl niemand glauben.

Sie muss es aus noch einem Grund aushalten. Mir ist kein Fall bekannt, dass irgendjemand in Deutschland dafür verurteilt wurde, dass er den Angriffskrieg der USA auf den Irak gebilligt hat. Im Gegenteil: die Vielen, darunter führende Politiker, konnten sich der medialen Zustimmung erfreuen. Einige von ihnen rechtfertigten nicht nur die Aggression der USA, sie erwogen sogar eine Beteiligung Deutschlands daran. Und blieben unbescholten.

Demokratie ist, wenn für eine russenfreundliche Ukrainerin die selben Regeln gelten wie, jedenfalls über längere Zeit hinweg, beispielsweise für Edmund Stoiber, Guido Westerwelle und – ja! – Angela Merkel. Wenn sich Politik und Justiz darüber hinwegsetzen, spielen sie jenen in die Hand, die behaupten, wir lebten in keiner Demokratie.


Thomas Rothschild - 6. Juni 2023
2771

Wie das Leben so spielt

"Die Polizei fahndet nach einer 80.000 Euro teuren Geige. Das Instrument des Wiener Geigenbauers Gabriel Lemböck wurde mit samt zwei Geigenbögen von einer Musikerin im Zug vergessen, als die Frau am 27. März von Niederösterreich nach Wien reiste. Die 33-Jährige stieg am Hauptbahnhof aus, erst am nächsten Tag bemerkte sie, dass sie ihren Geigenkasten in der Garnitur hat liegen lassen. Das Bundeskriminalamt hat am Dienstag Fahndungsfotos veröffentlicht.
Zunächst kontaktierte die Frau noch die Österreichischen Bundesbahnen, ob das Instrument irgendwo abgegeben wurde. Am 3. April erstattete die 33-Jährige Anzeige bei der Polizei. Auf der Geige ist die Inschrift 'Gabriel Lemböck fecit secundum Josephi Guarneri Cremonesis originale ex Nicolai Paganini Concertuosa Violina. Viennae Anno 1858. IHS' zu lesen."
(Der Standard, 12.04.2023)

"Eine 59-jährige Frau hat am Freitagnachmittag in einem ICE am Stuttgarter Hauptbahnhof eine wertvolle Geige aus dem 17. Jahrhundert vergessen – mit schwerwiegenden Folgen. Das Instrument vom Geigenbauer Andrea Guarneri im Wert von 100.000 Euro wird geklaut. Nach Angaben der Polizei kam die professionelle Musikerin mit dem Schnellzug aus Berlin. Als sie am Stuttgarter Hauptbahnhof ausstieg, fiel ihr kurze Zeit später auf, dass sie ihr Instrument im Zug vergessen hatte – zu spät. Der ICE hatte bereits seine Rückfahrt samt Geigenkoffer in die Bundeshauptstadt angetreten.
Ein unbekannter Täter nahm das Instrument offenbar an sich und machte sich an einem der folgenden Bahnhöfe aus dem Staub. Im Geigenkoffer befanden sich laut Polizei außerdem zwei Geigenbögen im Wert von über 23.000 Euro. Zeugen, die Hinweise zu dem Vorfall oder dem Verbleib des Geigenkoffers machen können, werden gebeten, sich bei der Bundespolizei zu melden."
(Stuttgarter Nachrichten, 22.05.2023)

Serientäter oder Urban Legend? Gerne wüsste ich, woran der Dieb, wenn es ihn denn gibt, den Wert der Violine im Geigenkasten erkannt hat und wem er sie um diesen Preis verkaufen kann, ohne aufzufallen. Oder tritt er selbst demnächst damit auf? Mit einer 80.000-Euro-Geige in Reserve für den Fall, dass eine Saite reißt? Vielleicht war es aber auch ein Zugbegleiter, der sich um die Sanierung der Bahn verdient machen möchte?

So viele Fragen! Zahlt die Versicherung? Waren die Violinen im Besitz der Musikerinnen, oder waren es, wie meist bei Instrumenten dieser Preisklasse, Leihgaben? Womit gehen die Künstlerinnen jetzt ins Konzert? Erwägen sie einen Wechsel zum Klavier? Das passt nicht in die Gepäckablage und lässt sich nicht so ohne weiteres unterm Mantel verstecken.

Könnte der Dieb – es kann auch eine Diebin sein – mit mildernden Umständen rechnen, wenn er wenigstens die vier – oder sind es doch zwei Mal zwei – Geigenbögen per Post an die Eigentümerinnen sendet? Das wäre doch ein Deal. Zur Not kann man ja auch eine 300-Euro-Geige mit einem Bogen streichen, der ein Vielfaches wert ist. Ob man das hört?

Wie trivial verläuft doch das Leben von unsereins, der allenfalls die Unterhosen und das Waschzeug im Zug vergessen kann...

Thomas Rothschild - 23. Mai 2023
2770

Politkitsch

"Aber als ich an diesem Tag in Kiew in seine Augen blickte, war ich zutiefst berührt von der unerschütterlichen Standhaftigkeit, die er ausstrahlte." (Ursula von der Leyen bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises an Wolodymyr Selenskyj am 14. Mai 2023 in Aachen)

"Dann hat er mi ang'schaut, der Führer … mit seine blauen Augen… i hab eahm angschaut … dann hat er g'sagt: 'Jaja'. Da hab i alles g'wußt. Wir haben uns verstanden." (Carl Merz und Helmut Qualtinger, Der Herr Karl)

Es gibt eine Polit-Rhetorik, die macht jede Aussage, so redlich sie gemeint sein mag, unglaubwürdig und vernichtet die beste Absicht. Da wäre es doch besser gewesen, man hätte Selenskyj den Preis in die Hand gedrückt und auf Reden verzichtet. Aber die Hoffnung bleibt wohl unerfüllt. Zu sehr sind Politiker*innen in ihre eigenen Reden verliebt. Mit und ohne Blick in die Augen.


Thomas Rothschild - 15. Mai 2023 (2)
2769

Corinna Harfouchs Geständnis

Corinna Harfouch hat kürzlich geäußert, sie würde prinzipiell in jede Rolle schlüpfen, aber sie müsse eine gewisse Qualität als Grundbedingung mitbringen. Nun mag man einwenden, dass sie, die große Corinna Harfouch, sich das leisten könne, zumal sie nicht präzisiert, was als „gewisse Qualität“, gar objektivierbar, gelten dürfe. Immerhin aber gesteht sie damit ein, dass es Rollen gibt, die (ihren) Qualitätsforderungen nicht genügen.

Das hatten wir geahnt. Andere Schauspielerinnen und Schauspieler aber schlüpfen bedenkenlos in diese Rollen, sei es, weil sie für eine Minute im Rampenlicht, wie man früher zu sagen pflegte, ihre Großmutter verkaufen würden, sei es, weniger ehrrührig, weil sie sich als festangestellte Mitglieder eines Ensembles dem Drängen des Intendanten, der Intendantin kaum verweigern können. Aber sie müssen die Folgen dann auch aushalten.

Selten, nur sehr selten gelingt es einem Schauspieler, einer Schauspielerin, aus einer Rolle ohne Qualität doch noch Funken zu schlagen. Wer solch eine Rolle übernimmt, macht sich zum Komplizen des (toten oder lebenden) Autors. Das gehört ja gerade, bei Rollen mit Qualität, zu seinen Verdiensten. Er darf sich aber nicht beklagen, wenn Rezensenten, die eine Aufführung, nicht einen Text zu besprechen und zu bewerten haben, mit Lob für seine Arbeit sparen oder sie gar ignorieren, wo die Rolle die von Corinna Harfouch eingeforderte Qualität vermissen lässt. Mitgegangen, mitgehangen. Das mag schmerzlich sein. Aber schließlich sind Künstler mündige Menschen. Und ein wenig werden sie für solche Unbill dadurch entschädigt, dass sie beim nächsten Mal von der Qualität einer Rolle profitieren. Sie bekommen dann, spätestens beim Schlussapplaus, etwas von dem Kuchen ab, der eigentlich für die Autorin, den Autor gebacken wurde. Warum spielen Schauspieler über Jahrhunderte hinweg so gerne den Hamlet oder den Lear? Deshalb.


Thomas Rothschild - 13. Mai 2023 (2)
2768

Das N-Wort und das N-Bild: Rausschmeißen oder hängen lassen?

In E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Bergwerke zu Falun begegnet Ulla ihrem fünfzig Jahre zuvor bei einem Unglück ums Leben gekommenen Bräutigam Elis, dessen Körper unter den besonderen Bedingungen im Bergwerk unverändert konserviert worden ist. Die Vergangenheit leuchtet durch die Gegenwart, und wenn man nicht an sie rührt, zerfällt sie auch nicht wie der Leichnam in den Armen der ewigen Braut.

Unter dem Titel Rausschmeißen oder hängen lassen? berichtet die Stuttgarter Zeitung von einem NS-Wandgemälde, das ausgerechnet in jenem Gebäude zum Vorschein gekommen ist, das zurzeit im schmucken Freiburg im Breisgau zu einem Dokumentationszentrum über den Nationalsozialismus umgebaut wird. Im Freiburger Rathaus hat man entschieden: „Das große Wandgemälde bleibt. Es sei ‚ein historisches Objekt an einem authentischen Ort‘.“ Der Bericht, der zwischen gefühlt zwei Dutzend Huldigungen an Helene Fischer versteckt ist, endet mit irritierender Logik: „Das Gemälde hängt in unmittelbarer Nähe zum Raum des Gedenkens an die Verfolgten des Nationalsozialismus. Deshalb soll auch künftig das möglich sein, was man in den 1950er Jahren für angebracht hielt: Man soll das Wandgemälde ganz oder teilweise abdecken können.“

Diese „wahre Geschichte“ liest sich wie eine Parabel auf das Überleben der Vergangenheit, auf den anhaltenden Sieg der Täter über die Opfer, über deren Verhöhnung durch die unzerstörbaren Bilder ihrer Verfolger, über die Hilflosigkeit im Umgang mit diesen Umständen: Man kann das Wandgemälde ganz oder teilweise abdecken, muss aber nicht. Für alle Fälle lässt man es erst einmal hängen. Man könnte es ja vielleicht noch brauchen.

Der Fall ist aber in noch einer Hinsicht interessant. Er verweist auf einen Widerspruch, an dem sich Politik und Öffentlichkeit vorbei schmuggeln. Während mit Eifer verfolgt wird, wer das so genannte N-Wort ausspricht, wird das N-Bild an der Pforte zum Gedenken an die Opfer seiner Initiatoren für die allgemeine Betrachtung frei gegeben. Das N-Wort wird ja nicht nur dort und mit guten Gründen untersagt, wo es in diffamierender, ausgrenzender, entwürdigender Weise gebraucht wird, sondern auch bei der stolzen Selbstbenennung von Schwarzen (etwa in den Gedichten von Langston Hughes, die man mit dem N-Wort-Verbot in den Hades verdammt) oder bei der Kennzeichnung von Rassismus (etwa in den Filmen Guess Who's Coming to Dinner oder In the Heat of the Night). Eine Differenzierung findet bei den schlichten Gemütern der Cancel-Unkultur nicht statt.

Nun kann man argumentieren, dass ein nationalsozialistisches Wandgemälde hängen bleiben soll, um der Nachwelt verständlich zu machen, wie sich nationalsozialistische Ideologie geäußert hat. Und man kann argumentieren, dass schon die Zeugnisse einer menschenfeindlichen Vergangenheit, Bilder, Wörter, verschwinden müssen, weil sie, in welchem Kontext auch immer, ihre diskriminierende Bedeutung beibehalten. Man kann argumentieren, dass die Entfernung von Bildern aus der NS-Zeit das Geschichtswissen und damit auch die daraus ableitbaren Lehren entsorgt. Oder man kann argumentieren, dass die Beibehaltung des N-Worts, in aufklärerischem Kontext, nötig ist, um verständlich zu machen, wogegen sich die amerikanische Bürgerrechtsbewegung oder der Internationalismus der globalen Linken gewandt haben. Beides zusammen geht nicht. Wer das Freiburger Wandgemälde hängen lassen, das N-Wort aber verbannen möchte, ist inkonsequent oder einfach dumm. Wie so oft, ist er oder sie unfähig, allgemein gültige Regeln zu formulieren. Er entscheidet, je nach Gusto, von Fall zu Fall. Mit Moral hat das nichts zu tun. Wohl aber mit Missbrauch von moralischen Kategorien zur Verhüllung von Willkür.


Thomas Rothschild - 7. Mai 2023
2767

Söders Irrtum

Markus Söder hat zwar recht, wenn er anlässlich der Erhebung des Regensburger Theaters in den Status eines Staatstheaters verkündete, „Warum sollte hochwertigste Kunst nur in München möglich sein? Woanders kann künstlerische Qualität auf dem gleichen Level stattfinden“, aber unrecht mit der Suggestion, diese künstlerische Qualität sei an den Status, eben eines Staatstheaters, und an die damit verknüpften Fördermittel gebunden. Seinen Qualitätsnachweis hat Regensburg erbracht, ehe ihm Söder mit wohlfeiler Rhetorik das Geschenk überreichte, und die Landes- und Stadttheater zwischen Bruchsal und Dessau tun desgleichen, ungeadelt, unbedankt und unterfinanziert. Zur Erinnerung: auch die nicht ganz unbedeutenden Städtischen Bühnen Frankfurt, die Bühnen der Stadt Köln, die Wuppertaler Bühnen mitsamt dem von Pina Bausch gegründeten Tanztheater sind keine Staatstheater. Der Befund wird noch deutlicher, wenn der Blick über die deutschen Landesgrenzen hinaus reicht. Hochwertigste Kunst ist ohne staatlichen Segen in Paris, London oder in Mailand möglich. Giorgio Strehler, Ariane Mnouchkine, Peter Brook und viele andere kamen ohne ihn aus. Was freilich der Politik nicht als Vorwand dienen darf, sich der ökonomischen Verantwortung für die Künste zu entziehen.

Die Geschichte der Theater liefert zahlreiche Belege dafür, dass nicht vom Staat unterhaltene Theater, dass freie Gruppen interessantere Ergebnisse vorweisen als die Repräsentationshäuser. So waren beispielsweise in Prag, schon vor der kulturellen Blüte während des Prager Frühlings, die kleineren, nicht staatlichen Theater aufregender als die keineswegs zu verachtenden Nationaltheater. Eins trifft allerdings zu: größere finanzielle Zuwendungen, die fast nur der Staat aufbringen kann, wirken sich partiell auch auf die Qualität aus. Auf überteuerte Ausstattungen kann man vielleicht verzichten. Jedenfalls tragen sie keineswegs immer zur künstlerischen Qualität bei. Aber die Größe des Ensembles, des Teams hinter der Bühne, ermöglicht Produktionen, die mit geringerem Personal nicht realisierbar sind. Und die höheren Gagen an den Staatstheatern haben zur Folge, dass besonders begabte Schauspieler und Regisseure abgeworben werden können, wenn sie sich an „ärmeren“ Häusern bewährt haben. Der Vorgang ist alltäglich, und die Direktoren sind nicht zimperlich mit ihren Lockungen. Das mag man bedauern, aber die Augen sollte man vor der Tatsache nicht verschließen. Ein fairer Wettbewerb ist eine Illusion. Auf welchem Level hochwertige Kunst stattfindet, wird nicht nur, aber auch in den Buchhaltungsabteilungen entschieden. Und mit dem Geld, das – vergessen wir es nicht – nicht der Staat, sondern die Gemeinschaft der Steuerzahler erwirtschaftet hat. Ein Söder, der das Regensburger Theater zu einem Staatstheater macht, steht in der Tradition fürstlicher Privilegierungen. Die mögen im einen oder anderen Fall erfreulich sein. Mit Demokratie freilich hat das nichts zu tun.

Thomas Rothschild - 30. April 2023
2766

Nachruf als Realsatire

„New York. Alle Bandmitglieder und die komplette Entourage waren längst eingetroffen, taten sich an der Bar gütlich oder labten sich an einem wahrlich umfangreichen kalt-warmen Büfett. Als Allerletzter betrat an jenem Abend im März 2003 der Star des Abends den VIP-Raum der Frankfurter Festhalle, so unprätentiös, als wäre er einer wie jeder andere. Harry Belafonte spazierte mit seinen federnd-leichten Schritten zum Büfett, unter dem sich angesichts der aufgetürmten Delikatessen fast die Tische bogen – und kehrte mit nichts als einem kleinen Schälchen Suppe und einem trockenen Brötchen zurück.“

Jan Ulrich Welke, journalistisch mit stilistisch begnadeten Hymnen über die Rockmusik der siebziger Jahre ausgelasteter stellvertretender Leiter der Kulturredaktion der Stuttgarter Zeitung in seinem Präludium zu einem Nachruf auf Harry Belafonte, der uns vor allem eins mitteilt: er, Welke, war dabei bei dem „wahrlich umfangreichen kalt-warmen Büfett“, unter dem sich die Tische „angesichts“ (!) der Delikatessen nicht ganz, sondern nur fast bogen, tat sich gütlich und labte sich. Schmatz! Zu Welkes Verteidigung muss man sagen: er balanciert auf dem Niveau, das die Stuttgarter Zeitung seit ihrer Fusion mit den Stuttgarter Nachrichten eingenommen hat. Dort bewegt er sich im Mittelfeld.

Um im Jargon der gelifteten StZN zu verharren:

„Was taugen die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten? Hier verraten wir Dir die Namen der 10 peinlichsten Mitarbeiter.“

1. Gunther Reinhardt
2. Uwe Bogen
3. Matthias Ring
4. Jan Georg Plavec
5. Jan Ulrich Welke
6. Nikolai B. Forstbauer
7. Andrea Kachelrieß
8. Daniela Eberhardt
9. Tanja Simoncev
10. Anja Wasserbäch

Thomas Rothschild – 26. April 2023
2765

Statistik

Geben Sie bei Google „Sexualisierte Gewalt“ ein. Sie erhalten 1.710.000 – in Worten: eine Million siebenhundertzehn Tausend – Ergebnisse.

Geben Sie zur Kontrolle „Sexuelle Gewalt“ ein. Es sind immer noch mehr als eine Million, nämlich 1.110.000 Ergebnisse.

Geben Sie bei Google „Gewalt gegen Frauen“ ein. Sie bekommen sogar 2.070.000 Ergebnisse.

Geben Sie nun „Elterliche Gewalt“ ein. Google liefert 66.900 Ergebnisse.

Bei „Gewalt gegen Kinder“ sind es 250.000.

Wie kommt es zu diesen Zahlen? Ist es wirklich glaubhaft, dass auf jedes misshandelte Kind mehr als acht Frauen kommen, die Opfer von Gewalt wurden, dass die Anzahl der Opfer sexualisierter Gewalt 25 Mal so hoch ist wie die Zahl von ihren Eltern geprügelter und malträtierter Kinder? Wer sich oberflächlich informieren will, begebe sich auf einen Kinderspielplatz und beobachte einen halben Tag lang das elterliche Verhalten. Wie es bei den Betroffenen daheim zugeht, können wir nur ahnen.

Die Antwort liegt auf der Hand: Kinder haben keine Lobby. Zu Meldungen, die von Google aufgefunden werden, schaffen es nur jene, die ihre Interessen lautstark verkünden können. Kinder gehören nicht dazu, und die Anzeige von elterlicher Gewalt ist stärker tabuisiert als selbst die Gewalt von Ehemännern. Ein Kinder-#Me too gibt es nicht.

Hinzu kommt, dass in unserer Gesellschaft alles ganz besonders erregt, was mit Sexualität zu tun hat. Woher das kommt und was es bedeutet, können qualifizierte Psychoanalytiker einleuchtend erklären. Wir dürfen jedenfalls konstatieren, dass Gewalt ohne das Beiwort „sexualisiert“ oder „sexuell“ weit weniger empört als die attribuierte Gewalt. Das gilt für die elterliche Gewalt ebenso wie für die Gewalt, die dafür mit Orden geschmückte Militärs ausüben oder Polizisten im Rahmen des Racial Profiling.

So viel für heute zur Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und (gelenkter) Wahrnehmung.

Thomas Rothschild - 30. März 2023
2764

Unverzichtbare Kultur

Eben erst wurde uns, anlässlich der Hundekotaffäre, wieder versichert, dass die Gesellschaft Theater und Kritik dringend benötige. Ist es so? Machen wir uns nichts vor: Weniger als zehn Prozent der deutschen Bevölkerung geben an, dass sie besonderes, rund zwanzig Prozent, dass sie mäßiges Interesse an der Kultur haben. Das Ereignis, dem seit Wochen gesteigerte Aufmerksamkeit gebührt, ist für die Stuttgarter Lokalpresse das Musical Tina mitsamt den VIPs, die die Premiere besuchen („Über den schwarzen Glitzerteppich schaulaufen Stars und Sternchen, von denen viele Spaß haben, in die Kameras zu strahlen und ihre meist glitzernden Outfits vorzuführen“).

Da können Theater und Oper nicht mithalten. Es fehlt ihnen einfach der Glamour. Was einst als Kultur, jedenfalls in den Medien, geschätzt und unterstützt wurde, ist nach und nach und allen Warnungen zum Trotz marginalisiert worden. Die heutigen Journalisten der einstigen Feuilletons verstehen sich als Verkaufsförderer, als verlängerter Arm der PR. Und da hat ein kostspieliges Musical über Tina Turner oberste Priorität.

Was auf dem Gebiet des Kulturjournalismus oder was davon geblieben ist eklatant zum Vorschein kommt, entspricht der allgemeinen Entwicklung in den Medien. Kann sich noch jemand an Bob Woodward und Carl Bernstein erinnern, die die Hintergründe von Watergate recherchiert und veröffentlicht haben? Gibt es noch junge Abgänger aus den Journalistenschulen, die sich für investigativen und kritische Journalismus statt vorausgehenden Jubel entscheiden, die mit dem Begriff der „journalistischen Ethik“ mehr als eine vage Assoziation verbinden? Oder ist es ihnen egal, ob sie Themen ansprechen, die die Menschheit betreffen, oder sich auf die roten Teppiche oder schwarzen Glitzerteppiche von Musical-Premieren begeben?

Es ist eine Tragödie. Sie findet nicht auf der Bühne, sondern im wirklichen Leben statt.

Thomas Rothschild – 19. März 2023
2763

Antisemitismus oder Antifeminismus

Das Dilemma jeder zeitgenössischen Inszenierung von Shakespeares Kaufmann von Venedig: Bekanntlich trickst die schöne Portia und künftige Frau Bassianos in der Verkleidung eines Richters den Juden Shylock aus mit einer Entscheidung, die ihn seiner materiellen und ideellen Grundlagen beraubt und den Interessen der Richterin unmittelbar dient. Bei Shakespeare ist sie die Heldin. Heute stellt dieser Schluss jeden Regisseur vor eine knifflige Aufgabe. Wer mit Portia sympathisiert und das Publikum dazu verleitet, mit ihr zu sympathisieren, sympathisiert mit ihrem Antisemitismus und ihrer Missachtung von Gerechtigkeit. Wer sie aber kritisch betrachtet, verstößt gegen das vielerorts eingemahnte Dogma, wonach Frauen im Disput mit Männern recht behalten müssen. Denn es ist ja keine Nebensache, dass im Kaufmann von Venedig nicht ein Mann, sondern eine als Mann verkleidete Frau Recht (oder eben Unrecht) spricht. Wer das Dogma nicht befolgt, macht sich in der veröffentlichten Meinung des Antifeminismus verdächtig. Man hat also die Wahl: Antisemitismus oder Antifeminismus. Ein Drittes gibt es nicht. Jedenfalls nicht beim Kaufmann von Venedig.

Apropos: Mit Befriedigung darf das Publikum beim Kaufmann von Venedig registrieren, dass dem Juden die geliebte Tochter gestohlen wird. Schließlich erlangt sie dadurch den richtigen Glauben und die Rettung ihrer Seele. Wo in der Literatur findet man den christlichen Vater, bei dem man sich über die Entführung der Tochter durch einen Juden freuen darf?

Thomas Rothschild - 16. März 2023
2762

Ihr eigen Sach´ betreibt

Auch in diesem Jahr lädt das Münchner Volkstheater ausgewählte Inszenierungen zu seinem seit 2005 bestehenden Nachwuchsregie-Festival "radikal jung" ein. Die vier Kuratoren, die über die Auswahl befunden haben, sind im Schnitt 57 Jahre alt, also nicht gerade radikal jung. Dagegen wäre nichts einzuwenden. Warum sollen Theaterleute jenseits der Hälfte des Lebens nicht Bescheid wissen über Jüngere und Jüngeres und sie beurteilen können? Allerdings darf man von ihnen erwarten, dass sie Stellung beziehen gegen die allseits mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit verlautete Behauptung, dass nur Farbige das Werk von Farbigen, nur Frauen das Werk von Frauen, nur Transgender das Werk von Transgender beurteilen können, wenn sie sich nicht dem Verdacht aussetzen wollen, dass sie lediglich dort auf Quoten und Ausschlüsse pochen, wo sie sich für sich selbst und das Kollektiv, dem sie angehören, einen Vorteil versprechen. Es macht zwar nicht populär, wenn man, ganz im Sinn von Kants Kategorischem Imperativ, auf die konsequente Einhaltung eines Prinzips, auf dessen Allgemeingültigkeit – für oder gegen "positive Diskriminierung", für oder gegen Quoten – pocht, aber es ist die Voraussetzung für Glaubwürdigkeit, es ist ein moralisches Gebot.

Es bleibt eine schöne Utopie, dass die Welt gerechter werden möge. Zu mehr als einer Utopie hat es bislang nicht gereicht. Wer Gerechtigkeit nur dort einfordert, wo er – zu Recht oder zu Unrecht – der Meinung ist, dass sie ihm vorenthalten wird, trägt in Wirklichkeit zur universellen Ungerechtigkeit bei. Und huldigt einer Doppelmoral, die Vorteilsannahme mit – ja, Gerechtigkeit eben verwechselt. Man kann durchaus Sympathie empfinden für die Angestellten im öffentlichen Dienst, die für höhere Löhne streiken. Es mag zwar ärgerlich sein, wenn die Straßenbahnen nicht fahren oder die Post nicht zugestellt wird, aber das Streikrecht ist ein verteidigenswertes Gut der Demokratie. Die Mitwirkung in einer Jury ist es nicht. Man kann der Überzeugung sein, dass Entscheidungsträger wesentliche Eigenschaften – Geschlecht, Alter, soziale Herkunft, Zugehörigkeit zu einer Minderheit – mit den Menschen, über die sie entscheiden, teilen müssen oder nicht. Mal so, mal so, geht nicht. Es ist ungerecht, verlogen – und leider alltäglich.

Thomas Rothschild - 4. März 2023
2761

Wie Luise F. Pusch die Frauen unsichtbar gemacht hat

Während des Prager Frühlings erzählte man sich ein Gleichnis, das die Reformvorschläge des Ökonomen Ota Šik charakterisieren sollte: Man habe festgestellt, dass es in England weniger Verkehrsunfälle gebe als auf dem Kontinent. Um zu überprüfen, ob das am Linksverkehr liege, sollte die Hälfte der Taxis versuchsweise auf der linken Straßenseite fahren, die andere Hälfte aber rechts.

Das Gleichnis und seine leicht zu erschließende Lehre lassen sich ohne Verlust auf die gegenwärtige Debatte über das Gendern übertragen. Seit nunmehr einem halben Jahrhundert erklären uns die Linguistin Luise F. Pusch und ihre Doppelgängerin Senta Trömel-Plötz, deren wissenschaftliche Überzeugungskraft von ihren Anhängerinnen und Anhängern ebenso wenig in Zweifel gezogen wird wie die Existenz Gottes von gläubigen Katholiken, von vielen Fachkolleginnen und Fachkollegen hingegen vermisst wird, dass der bis zur Erfindung der „feministischen Linguistik“ übliche Gebrauch der deutschen Sprache Frauen „unsichtbar“ mache. Das sogenannte „generische Maskulinum“, bei dem das grammatische Geschlecht als natürliches Geschlecht (miss)verstanden werden könne, schließe den weiblichen – mittlerweile auch den weder männlichen noch weiblichen, also den „queeren“, im deutschen Wortschatz nicht einmal vorgesehenen – Teil der Menschen aus.

Seither hat man zahlreiche konkurrierende Schreib- und Sprechweisen ersonnen, um die Möglichkeiten des natürlichen Geschlechts zu markieren, ohne jeweils Doppel- oder Mehrfachnennungen aufführen zu müssen. Nun hat eine jüngere Untersuchung ergeben, dass 35 Prozent der Befragten die Benutzung von Symbolen wie Sternchen oder Doppelpunkt gut finden, 59 Prozent dagegen nicht. Auch die Sprechpause vor der weiblichen Endung eines Wortes lehnt die überwiegende Mehrheit ab. Gut oder sehr gut finden das 27 Prozent, weniger gut oder gar nicht gut 69 Prozent. Ein demokratischer, wenngleich schwer begründbarer Befund.

Was tun? Den Vorschlägen und den Argumenten von Pusch, Trömel-Plötz und Tausenden von Followern folgen, die nicht unbedingt zu den Sprachvirtuosen zählen und korrekt gegenderte, aber grammatisch wie stilistisch haarsträubende Hausarbeiten verfassen, oder sich einer Mehrheit gefügig machen, die ja nicht recht haben muss. Vergessen wir nicht: als die feministische Linguistik noch nicht ihr Haupt erhoben hatte, gab es Landstriche und Subkulturen, in denen eine Mehrheit Stalin für den bedeutendsten Linguisten des 20. Jahrhunderts und seine Schrift Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft für einen genialen Wurf hielt.

Wir leben also in einer Welt, in der sich viele Individuen, Zeitschriften, Verlage, Pädagogen entschlossen haben, je nach Gusto Doppelpunkte, Sternchen, Schrägstriche (neudeutsch: Slashes) oder Doppelnennungen zu verwenden. Frauen und, wenn man Glück hat, Transgender-Personen finden ihre sprachliche Repräsentation. Das könnte gut gehen, wenn nicht nur 35 Prozent, sondern alle Benutzer der deutschen Sprache das Gendern nicht nur gut fänden, sondern es auch praktizierten. Tun sie aber nicht. Und so fährt ein Teil der Taxis auf der linken und ein Teil auf der rechten Straßenseite.

Was bedeutet das? Wenn das grammatische mit dem natürlichen Geschlecht von vielen, nicht aber von allen gleichgesetzt wird, verliert die Sprache ihre relative Eindeutigkeit. Bis zu Pusch und Trömel-Plötz wusste jede und jeder, dass von Frauen und Männern die Rede war, wenn man von Zuschauern, Fahrgästen oder Ärzten sprach, wie jede und jeder wusste, dass auch Frauen nicht über die Kreuzung gehen sollten, wenn an der Ampel ein rotes Männchen aufleuchtete. Wenn nun eine Hälfte der Sprecher (und Sprecherinnen!) mit Zuschauern etc. nur männliche Exemplare der Spezies meint, die andere Hälfte aber, die Sternchen oder Doppelpunkte ablehnt und das generische Maskulinum verwendet, darauf vertraut, dass ihre Kommunikationspartner dieses generische Maskulinum verstehen, dann machen die koexistierenden Normen genau das, was Pusch u.a. verhindern wollten: die Frauen unsichtbar. Für die Gläubigen der Puschschen Religion ist ja, wer nicht durch Gendern markiert ist, nicht vorhanden. Die Sprache büßt für sie ihre Funktion ein wie das Gebet im Gottesdienst ohne das Amen. Die Taxis krachen aufeinander, weil die beiden Systeme nicht vereinbar sind.

Wahrscheinlich müssen wir da durch. Bis Pusch und Trömel-Plötz in der verdienten Vergessenheit versunken sind wie der Sprachwissenschaftler Stalin. Und die klimaneutrale oder vegane Sprache übernimmt. Man sollte sich bei den Diskussionen über eine Rechtschreibreform beizeiten darauf einstellen.

Thomas Rothschild - 22. Februar 2023
2760

Sieg nach Punkten

Wenn Auszählungen über die Qualität von Kunst befinden, dann gibt es in diesem Theaterjahr einen unanfechtbaren Favoriten. Keine andere Inszenierung hat bei den zahlreichen Preisen und Umfragen innerhalb des deutschsprachigen Raums so viele Nennungen auf sich vereinigt wie humanistää! nach Texten von Ernst Jandl in der Regie von Claudia Bauer am Wiener Volkstheater. Die Superlative häuften sich, als gälte es, ins Guinness Buch der Rekorde aufgenommen zu werden. Die simple statistische Gegebenheit ließ den noch ziemlich neuen Intendanten Kay Voges leere Vorstellungen und eine insgesamt eher laue Rezeption zugunsten eines übermütigen Eigenlobs vergessen, das, wenn überhaupt, der schon seit 15 Jahren zu Recht erfolgreichen Regisseurin gebührte.

Worauf aber beruht die Einhelligkeit der Zustimmung zu diesem – zugegeben: ungewöhnlichen – Bühnenereignis? Es hat den Anschein, dass sie sich dem Überdruss am realistischen, psychologistischen Theater verdankt. Freie Gruppen leisten schon seit längerem dagegen Widerstand, aber sie kommen zu einem guten Teil über laienhafte Ansätze nicht hinaus. humanistää! verabschiedet sich radikal vom Realismus und ist zugleich schauspielerisch hochprofessionell. Zwar müssen die Darsteller*innen verdrängen, was sie an der Schauspielschule gelernt haben, aber sie haben ganz offensichtlich ihr Vergnügen daran.

So originell, wie manche Kritiker glauben lassen, ist humanistää! allerdings auch wieder nicht. Claudia Bauer hat Anregungen aus den Dieter Roth- und Konrad Bayer-Revuen von Herbert Fritsch, aus den Theaterabenden von Christoph Marthaler, auch von Loriot und möglicherweise von der Familie Flöz zu einer zweistündigen Collage verarbeitet und mit Musik verkleistert. Ton und Bild werden getrennt. Während im Zentrum der Bühne meist stumm agiert wird, lesen Sprecher*innen den Text im Halbdunkel am Rande der Bühne in Mikrophone. Dabei kann sich eine der Damen nicht enthalten, mit Verrenkungen und großen Gesten dennoch zu „spielen“.

Manche Texte, die Jandl für die Bühne geschrieben hat, funktionieren gut. Andere fordern ein Lesen oder Sprechen (am besten von Jandl selbst). Die Versuche, sie szenisch umzusetzen, schaden dem Sprachwerk eher als es zu unterstützen. Dem entspricht die Fehlentscheidung, Samouil Stoyanov, der jeden Preis als Sprecher des Jahres verdient hätte, just für ein längeres Solo aus dem Stand mit dem „Nestroy“ für den Besten Schauspieler des Jahres auszuzeichnen. Auch der Vortrag von Jandls Gedichten in „heruntergekommener Sprache“ im Stil von Clownsszenen führt in die falsche Richtung. Die gestischen und aufdringlich mimischen Zutaten bekommen dem Wort ebenso wenig wie Sauce einem Wiener Schnitzel oder einem Apfelstrudel. Und wenn zu unzähligen Wiederholungen von Jandls frühem Gedicht „ich was not yet/ in brasilien/ nach brasilien/ wulld ich laik du go“ lateinamerikanischer Tanz persifliert wird, ist das weder „eine abschaffung der sparten“ (so der Untertitel des Programms), noch komisch, sondern – sorry – bloß läppisch und übrigens eine Desavouierung von Jandls Poetik. Es mangelt humanistää! zudem an Marthalers Timing wie an Fritschs Virtuosität.

Wie wenig für großes Theater nötig ist, wie viel der Dialog zugleich zu leisten vermag, beweist just der Technikfetischist Kay Voges mit seinem zehn Jahre alten Endspiel, das er aus Dortmund nach Wien mitgebracht hat. Frank Genser und Uwe Schmieder (die beiden Mülltonnen mit Nagg und Nell sind, wie so oft, gestrichen) reihen sich würdig ein in die Riege der legendären Darsteller von Samuel Becketts Clownspaar Hamm und Clov, die bei Voges Purl und Lum heißen, und beschwören in Loops das Immergleiche. Dass das Endspiel endlos wiederholt werden kann, ohne zu altern, kann als Bestätigung von Becketts Fortschrittsskepsis gelten. Es ändert sich nichts. Nicht einmal das Ende.


Thomas Rothschild - 24. Januar 2023
2759

Wolfgang Neuss als Maßstab

Den 30. Dezember hat 3sat von früh bis sehr spät als „Thementag“ der Comedy und dem Kabarett gewidmet. Er wurde zum Fanal. Selten hat das Fernsehen so deutlich gemacht, wohin das politische Kabarett in den vergangenen Jahren verschwunden ist, welchen intellektuellen und humoristischen Niedergang seine Ersetzung durch jene Gattung bedeutet, die sich aus den USA den schillernden Begriff der Comedy geliehen hat. Am Nachmittag montierte es in einem Dauerlauf Kurzauftritte von Comedians, die sich an thematischer Belanglosigkeit und darstellerischem Unvermögen selbst dort noch übertrafen, wo man den Tiefpunkt erreicht zu haben glaubte.

Und dann kam Urban Priol mit seinem Jahresüberblick TILT!, live aufgenommen elf Tage zuvor in Halle an der Saale. Damit hat sich 3sat selbst einen Bärendienst erwiesen und dem Publikum eine Sternstunde beschert. Der mittlerweile 61jährige beförderte den Thementag der vorausgegangenen Stunden mit jedem Satz, mit jeder Pointe ins Abseits. Er braucht keine Grimassen, keine selbstgefälligen Pausen, die einem leidensfähigen Publikum signalisieren sollen, „Seht doch her, wie komisch ich bin“, keine eitle Koketterie mit eigenen Mängeln. Sein Kabarett ist in erster Linie Sprach- und Sprechkunst, einschließlich der alten Varieté-Disziplin der Imitation bekannter Personen. Was Priol in eineinhalb Stunden vortrug, ist inhaltlich ganz nah an den Fernsehnachrichten und Reportagen, an „Spiegel“-Gesülze und Illustrierten-Schwachsinn, die man im vergangenen Jahr sehen, hören und lesen konnte. Das Meiste wusste man, und wenn man es nicht wusste, verstand man Priols Andeutungen auch nicht. Zum Kabarett wurde es durch die leicht verschobenen Formulierungen, durch die schräge Perspektive. So wurde aus den scheinbar sachlichen, „objektiven“ Meldungen aus Deutschland und der Welt politische Aufklärung, die sich nicht davor drückt, Stellung zu beziehen. Respektlosigkeit gehört zur Methode, Widerspruch gegen den medialen Konsens zu den Tugenden.

Urban Priol ist einer der letzten verbliebenen Repräsentanten eines politischen Kabaretts, wie es in Deutschland Wolfgang Neuss, Dieter Hildebrandt oder Georg Schramm geprägt haben. Dass es in Nischen gedrängt wurde, ist kein Versehen, sondern Absicht. Die Comedy hat neben vielen anderen Strategien die Aufgabe, die Rede von sozialer Ungerechtigkeit, von der Lüge der „Trickle-down-Theorie“ oder „Pferdeäpfel-Theorie“, die Priol beim Namen nennt, aus der Öffentlichkeit zu verbannen zugunsten der Problemchen, denen die Comedians ihre Lacher abringen.

Urban Priols Tilt! 2022 kann noch bis zum 1. März 2023 in der Mediathek von ZDF und 3sat abgerufen werden. Es lohnt sich.


Thomas Rothschild – 31. Dezember 2022
2758

Netanjahu und die Taliban

Der österreichische „Standard“, über jeglichen Verdacht des Antisemitismus erhaben, meldet am 26.12.2022:

„Israels neue Regierung will Diskriminierung legalisieren. Darauf haben sich Benjamin Netanjahus Likud-Partei und ihre rechtsextremen und ultraorthodoxen künftigen Koalitionspartner geeinigt. Private Dienstleister sollen beispielsweise homosexuelle, weibliche oder nichtjüdische Kunden ausschließen können, wenn ihr religiöses Empfinden das verlangt.

Was nach einer abstrakten Gesetzesänderung klingt, wurde durch zwei Radiointerviews von Abgeordneten der rechtsextremen künftigen Regierungspartei Religiöse Zionisten am Sonntag plötzlich sehr konkret: 'Man kann einen Arzt nicht dazu verpflichten, einen Patienten zu behandeln', erklärte Orit Strock, die künftige israelische Ministerin für nationale Missionen, in einem Live-Interview mit dem israelischen Radiosender Kan II.

Wenn sich beispielsweise eine unverheiratete Frau an einen Arzt wende, weil sie schwanger werden möchte, dann wäre das so ein Fall. Strocks Parteikollege Simcha Rothman erklärte, dass es für Hotelketten wohl auch legitim sei, schwule oder lesbische Paare auszuschließen – 'aus Gründen des religiösen Glaubens' müsse das erlaubt sein.“


Unglaublich, was sich die Taliban und die islamistischen Iraner da in und für Israel vorgenommen haben. Zum Glück gibt es die Proteste der zivilisierten Welt, die ohne Wenn und Aber jene an den Pranger stellen werden, die das ohne Widerspruch zulassen oder gar Entschuldigungen dafür finden. Alles andere wäre Doppelmoral.

Und wer nun sagt, diese Glosse spiele den Antisemiten in die Hände, dem sei geantwortet: Es sind die im Standard gemeldeten Zustände und jene, die sie verteidigen, die den Antisemitismus mit offenen Augen fördern.

Thomas Rothschild - 27. Dezember 2022
2757

Ab in den Müll

Dieser Tage berichteten die Medien von den Ergebnissen einer Studie, wonach Altersdiskriminierung, also die gesellschaftliche und berufliche Benachteiligung wegen des Alters, in Deutschland zum weitgehend widerspruchslos hingenommenen Alltag gehört. Sieht man sie nicht, oder will man sie nicht sehen, weil eine angemessene Reaktion, wie etwa bei der Diskriminierung von Frauen, Nachteile einbrächte? Ein #MeToo der Alten erntete nicht Empathie, sondern Hohn.

Dass die Berufskollegen schweigen, wenn ältere Arbeitnehmer entsorgt werden, ist ebenso offensichtlich wie erklärbar. Sie profitieren von der Entfernung der Konkurrenz, und sie sind dabei nicht zimperlich. Sie verhöhnen hinter deren Rücken auch jene, die sie einst gefördert haben, denen sie Ratschläge und Tipps zu verdanken haben. Solidarität kommt nur noch in unverbindlichen Texten, nicht am Arbeitsplatz vor. Und keine Schweinerei ist zu groß, als dass man sie nicht mitmachte, wenn sie Vorteile verheißt.

So ist das nun einmal. Es entspricht den Spielregeln unserer Konkurrenz- und Ellbogengesellschaft. Und wenn man zynisch genug ist, kann man sich damit trösten, dass es bald auch jene treffen wird, die heute zu den Profiteuren gehören. Alt wird jede oder jeder, so er nicht das Glück hat, vorher zu sterben. Enttäuschender jedoch als der Opportunismus und die Gemeinheit der Kollegen ist die Untätigkeit der Konsumenten, der Leser*innen und Hörer*innen. Nach und nach verschwinden Autoren und Autorinnen aus den Zeitungsspalten und den Sendungen, die man über Jahre hinweg gerne, oft fast süchtig gelesen und gehört hat. Sind sie gestorben? Wurden sie von der Demenz überfallen? Hatten sie von sich aus nichts mehr zu sagen, keine Lust sich zu äußern? Die Leser*innen und Hörer*innen interessiert das nicht. Sie fragen nicht danach. Sie schreiben keine Proteste an die Redaktion. Die Alten dürfen ungehindert ausgeschlossen werden wie vor kurzem noch die Frauen, die Farbigen, die Homosexuellen, die Behinderten. Kein wirksames Gesetz, keine Kampagne, keine Lobby schützt sie. Ab in den Mülleimer wie die Figuren von Samuel Beckett.

Und wer nun meint, ich würde übertreiben, denke einen Moment darüber nach, wessen Artikel in der Zeitung, wessen Kommentare im Rundfunk oder im Fernsehen er oder sie vor zehn Jahren regelmäßig genossen hat und was er oder sie über deren Verbleib weiß. In englischsprachigen Medien gibt es die Abteilung „Where are they now?“ Wo sind sie jetzt? Im Altersheim? Im Grab? Oder doch bloß ausgesondert wegen ihres Alters? Wen juckt es?


Thomas Rothschild - 21. Dezember 2022
2756

Der blinde Fleck

Im SWR gibt es eine Sendung namens Nachtcafé. 1987, damals noch beim inzwischen mit dem SWF fusionierten, also de facto vernichteten SDR „erfunden“, wurde sie 27 Jahre lang von Wieland Backes moderiert. Seine Nachfolge hat Michael Steinbrecher angetreten. Bei Nachtcafé handelt es sich um eine konventionelle Talkshow, die sich in ihrer wohltuend altmodischen Seriosität vom üblichen täglichen Klamauk und Unterhaltungsschwachsinn abhebt.

Am 11. November ging es um das Thema Dialekt - angesagt oder peinlich? Die Erfahrungsberichte und Diskussionen der Teilnehmer, unter denen keine und keiner Dialekt als peinlich empfand – einer, Professor in Tübingen, lebt davon –, waren zwar wenig kontrovers, aber nicht uninteressant. Sie litten nur unter einem Manko: Das Wort „Soziolekt“ kam nicht vor.

Das Wienerische gibt es in der Küche, aber nicht in der Sprache. Ich wähle das Beispiel, bei dem ich mich am besten auskenne. Aber es ist nicht einzigartig. So unterscheidet sich etwa das so genannte Honoratiorenschwäbisch stärker vom Schwäbisch eines Daimler-Arbeiters als das Ulmer Schwäbisch vom Pforzheimer Schwäbisch, dessen sich in der Sendung Dieter Kosslick rühmte.

Ottakringerisch hat mit Burgtheaterdeutsch ebenso wenig zu tun wie das „Wienerisch“ von Helmut Qualtingers Herrn Karl mit dem „Wienerisch“ eines Karl Schwarzenberg, nämlich fast nichts. Diese Unterschiede aber sind von Belang für fast alle Aspekte, die im Nachtcafé angesprochen wurden: ob man wegen seines Dialekts benachteiligt werde, ob ein Dialekt als „schön“ empfunden werde, ob es sinnvoll sei, in der Schule im Sinne der kompensatorischen Erziehung auf Hochdeutsch zu bestehen. Es scheint nicht von der Hand zu weisen, dass jemand, der spricht wie Paula Wessely, im Berufsleben oder gar bei der Suche nach einem Bankkredit weniger Hindernissen begegnet als ein Native Speaker mit der Sprache einer Supermarktverkäuferin aus Floridsdorf. Wahrscheinlich wird ihm auch eher eine Parkstrafe erlassen.

Dass die Talkshow, inklusive des Tübinger Professors, dafür blind war, jedenfalls keinen Dialekt fand, es zu formulieren, dürfte symptomatisch sein. Geographische Unterschiede liegen den öffentlichen Debatten näher als soziale Unterschiede. Sie fordern nicht zum Handeln heraus. Das Saarland kann man ebenso wenig gegen Niedersachsen auswechseln wie die Wiener Innenstadt gegen die Leopoldstadt, die ehemalige „Mazzesinsel“, auf der anderen Seite des Donaukanals. Gegen die Bevorzugung von Menschen mit bürgerlichem oder aristokratischem Hintergrund vor Menschen mit proletarischem Hintergrund ließe sich eine Menge unternehmen. Aber wer will das schon? Selbst den politischen Repräsentanten des „Roten Wien“, oder was davon geblieben ist, steht das Burgtheater näher als der Karmelitermarkt. Man hört es an ihrer Sprache. Ist es ein Dialekt? Doch wohl eher ein Soziolekt.
Noch ist Zeit für ein Nachtcafé zum Thema: Soziolekt - angesagt oder peinlich? Wo oi wille isch, isch oi Weg.


Thomas Rothschild - 13. November 2022
2755

Eine Frage der Perspektive

Am Badischen Staatstheater Karlsruhe hat die Schauspieldirektorin und Regisseurin Anna Bergmann Tschechow verbessert. Sein erstes Stück heißt bei ihr nicht Iwanow, sondern Anna Iwanowa. Iwanows schwerkranke Frau, die er wegen ihres erhofften Erbes geheiratet hat und die seinetwegen vom jüdischen Glauben konvertiert ist, spricht bei Bergmann den Text Iwanows, handelt wie er und erschießt sich schließlich wie er in Tschechows zweiter Fassung. Iwanow hingegen spricht, lebt und stirbt in Karlsruhe wie anderswo seine Frau.

Laut Homepage des Karlsruher Theaters wirft Anna Bergmann „einen neuen Blick auf Tschechows erstes Theaterstück Iwanow und erzählt aus der Perspektive der in dieser Inszenierung weiblichen Titelfigur“.

Hier spielt also nicht, wie wir es mittlerweile gewohnt sind, eine Frau einen Mann und andersrum, sondern die Figuren ändern ihre Identität. Nicht die Darsteller*innen wechseln das Geschlecht, sondern die Rollen. Somit wird auch aus dem antisemitischen Mann eine antisemitische Frau und aus dessen weiblichem Opfer ein leidender Mann. Ist das die Perspektive der weiblichen Titelfigur? Irgendwie stellt sich das Gefühl ein, dass die Regisseurin Tschechow nicht verstanden hat. Und so ergeben sich aus der mechanischen Umkehrung der Geschlechterzuschreibungen allerlei Ungereimtheiten, jedenfalls wenn das Stück noch irgendetwas mit der sozialen Realität von Russland im 19. Jahrhundert oder auch nur der patriarchalischen Gesellschaft zu tun haben soll. Dabei legt Bergmann offenbar Wert auf die Lokalisierung in Russland. Ehe das eigentliche Stück beginnt, lässt sie die Schauspieler*innen in einer ausführlichen Ouvertüre zu Strawinskis Sacre du printemps, zum Schlager Moskauer Nächte und zu nervigem Sounddesign russisch sprechen.

Und was hat es eigentlich mit der Perspektive auf sich? Von wo aus schaut Anna Iwanowa auf das Geschehen? Schaut sie auch auf sich selbst? Mehr noch: ist „Perspektive“ für die dramatische Literatur, in der es, anders als in der Epik, normalerweise keinen Erzähler und keine Erzählerin gibt, eine geeignete Kategorie?

Anna Bergmann deklariert im Programmheft: „Frauen haben viel mehr Gründe als Männer, lebensmüde zu werden, an der Gemeinschaft und am Sinn des Lebens zu zweifeln. Frauen sind oft reflektierter, erkennen die Ursache für ihr Unglück und können vielleicht trotzdem nichts daran ändern.“ Manche würden sich darüber wundern, wie eilfertig Bergmann hier Sex und Gender, natürliches und soziales Geschlecht durcheinander wirbelt. Aber wenn man sie beim Wort nimmt, muss man doch zurückfragen: Wenn Frauen sich auf diese Weise von Männern unterscheiden, wenn sie reflektierter sind als Männer – reden und handeln sie dann nicht auch anders als Männer? Und wenn das der Fall ist – ist es dann nicht Unsinn, ihnen die Worte von Männern in den Mund zu legen, ihnen deren Handlungsweisen zuzuschreiben? Kurz: ist nicht Anna Bergmanns Konzept für Anna Iwanowa eine Fehlkonstruktion?

Offenbar nicht aus der Perspektive einer feministischen Regisseurin. Sie sieht von ihrem Standpunkt aus nur, was sie sehen will. Der Rest ist Blindheit.


Thomas Rothschild - 30. Oktober 2022
2754

Hitlers Sieg

Wenn ich es recht sehe, laden die meisten Grundschulen zum Schulbeginn, unabhängig von der konfessionellen Zusammensetzung der Schulanfänger*innen, zu einem christlichen Gottesdienst ein. Damit werden Kinder nicht-christlichen Glaubens oder ohne religiöses Bekenntnis – nach den jüngsten Statistiken die Mehrheit – stigmatisiert und ausgegrenzt, also ungleich behandelt, ehe sie noch den ersten Buchstaben gelernt haben. Dass der Gottesdienst nicht verpflichtend ist, ignoriert die Tatsache, dass soziale Normen, zumal bei Sechsjährigen, auch ohne Verpflichtung prägend sind. Ich kenne Mütter und Väter, die an das Jesuskind nicht mehr glauben als an Allah, Buddha oder Zeus, die aber unter dem gesellschaftlichen Druck mit den Schulanfängern den Gottesdienst besuchen. Wer will schon, dass seine Kinder bei den Lehrern als Außenseiter abgestempelt sind. Gibt es für diese Zustände eine juristisch plausible Begründung? Wenn nicht: hat irgendeine staatliche Institution etwas dagegen unternommen? Ich habe bis heute, Jahrzehnte nach meiner Schulzeit, den (katholischen) Religionslehrer nicht vergessen, der mich einst fragte, was mich davon abhalten solle, meine Eltern umzubringen, wenn ich nicht an die Hölle glaube.

Mit guten Gründen häufen sich die Artikel und die Podiumsdiskussionen über die Frage, ob man Frauen dazu zwingen dürfe, ein Kopftuch zu tragen. Die Antwort ist meist eindeutig. Man darf es nicht. Und wer es dennoch tut, ist hassenswert. Das sagt sich leicht, wenn die Verfechter des Kopftuchgebots im Iran oder in Afghanistan sitzen. Wo bleibt der Mut vor Kaiserthronen oder vielmehr vor Pfarreien, wenn sich die religiöse Gewalt gegen Kinder im eigenen Land richtet? Dafür bedarf es keiner Gesetze und keiner Strafandrohungen. Die Berufung auf die Tradition reicht aus. Diese Tradition hat freilich, was die katholische Kirche angeht, einen Namen. Er lautet Reichskonkordat, wurde 1933 zwischen Hitler und Papst Pius XI., zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan geschlossen und gilt, nur wenig modifiziert, weiterhin. Hindenburgstraßen werden, wenn auch zögerlich, umbenannt. Schulgottesdienste, also die Verhöhnung der Trennung von Kirche und Staat, wie das Reichskonkordat sie fordert, bleiben bestehen.

Wer ein Kopftuch trägt, muss auch im liberalen Deutschland mit Sanktionen rechnen. Wer dem Gottesdienst zum Schulbeginn fernbleibt, wird nicht bestraft. Er oder sie muss lediglich damit rechnen, behandelt zu werden, als trüge er oder sie eine unerlaubte Kopfbedeckung. Darüber werden keine Artikel geschrieben und keine Podiumsdiskussionen geführt. Hitler und der Vatikan haben gesiegt.


Thomas Rothschild - 6. Oktober 2022
2753

Unbehütet

Der Rasen auf dem Platz hinter dem Haus, in dem ich wohne, ist verdorrt. Ich will nicht behaupten, dass ich die Grünfläche normalerweise besonders beachte. Aber die Steppe, die sich da nun mitten in der Stadt braungelb erstreckt, konnte meinem Blick doch nicht entgehen. Schön ist sie nicht. Und ökologisch sinnvoll erst recht nicht.

Ein paar Straßen weiter, immer noch im Zentrum der mittelgroßen Stadt, befand sich seit jeher an einer Ecke ein gar nicht so kleiner Laden, in dessen Schaufenstern Hüte zu sehen waren und nichts sonst. Beim Vorbeigehen fragte ich mich stets, wie man vom Verkauf von Hüten leben kann. In der Regel sind es die Eigentümer, die bis ins hohe Alter und ohne Angestellte solche Geschäfte betreiben. Mir fällt ein Bäcker ein, dessen Kekse sich von Bahlsen unterschieden wie der Tag von der Nacht; ein Metzger, der noch wusste, wie man Rindfleisch tranchiert; und ein Knopfhändler, bei dem man Knöpfe jeder Form und jeder Farbe fand. Heute bin ich an dem Laden vorbeigegangen. Wo bislang die Kopfbedeckungen jeder Fasson lockten, waren die Fensterscheiben verklebt, und die Schilder von Handwerksbetrieben wiesen darauf hin, dass die Lokalität für einen neuen Mieter renoviert wurde.

Die Innenstädte versteppen wie der Platz hinter meinem Wohnhaus. Ja, was mich betrifft, kann ich gut ohne Hutgeschäfte leben. Ich trage keinen Hut. Aber es sind die vielen kleinen Läden, die noch vor gar nicht so langer Zeit die Städte heimelig machten, was ihnen Urbanität verlieh. Wer einmal durch die Außenbezirke von Paris oder Rom flaniert, weiß, was ich meine. Inzwischen sehen in Deutschland alle Stadtzentren und Fußgängerzonen gleich aus, weil die Politik den Begehrlichkeiten der Handelsketten bedingungslos nachgibt, statt mittelständische Kleinunternehmen wie ein Hutgeschäft in einer Weise zu fördern, dass sie ohne Selbstausbeutung überleben und Nachfolger für alte Geschäftsleute finden können. Sie passen nicht in eine Welt, in der nur nach dem materiellen Nutzen gefragt wird. Sie folgen der längst verschwundenen Kinos und Cafés in den Hades.

Man kann auch in der Steppe leben. Gemütlich ist es nicht.


Thomas Rothschild - 17. August 2022
2752

Start-up

Das Zauberwort heißt Start-up. Es bezeichnet eine Nebenlinie der Ideologie von der Überlegenheit des freien Unternehmertums und des ungefilterten Kapitalismus. Es verlängert die Legende vom Tellerwäscher, der es zum Millionär bringen kann, in die Gegenwart. Die Propagierung von Start-up-Unternehmen nimmt den Staat aus der Verantwortung. Nicht die Politik hat sich um den Abbau von Arbeitslosigkeit zu kümmern – jeder einzelne ist selbst dafür zuständig. Wenn er oder sie nur eine Idee habe und genug Fleiß und Initiative aufbringe, sei sein Glück garantiert und seine Zukunft gesichert.

Das Bild von der Start-up-Konjunktur ist in der Öffentlichkeit geprägt durch die Strategie der Politik und der ihr hörigen Medien, fast ausschließlich von den Erfolgen zu berichten, von einigen wenigen spektakulären Aufstiegsgeschichten. Die Pleiten und Tragödien sind, wenn überhaupt, allenfalls eine Fußnote im Lokalteil wert. Wer sich vorurteilsfrei ein wenig umsieht, begegnet an jeder Ecke jungen, wirtschaftlich unerfahrenen Menschen, die den Versprechen vertraut und sich Illusionen hingegeben haben. Viele von ihnen müssen oft schon nach Monaten resignieren, enttäuscht und nicht selten auf Jahre hinaus, manchmal sogar lebenslang verschuldet. Sie sind der Propaganda auf den Leim gegangen und müssen den Schaden allein ausbaden. Im Stich gelassen. Mit Hilfe können die armen Schlucker nicht rechnen. Sie sind ja keine milliardenschwere Bank und keine Luftfahrtgesellschaft. Warum haben sie sich auf Almosen unter dem Decknamen „Förderung“ verlassen? Wieso ist es ihnen nicht gelungen, Sponsoren zu finden. Selber schuld.

Der Traum vom schnellen Geld und vom Weg dorthin, der jeden offen stehe, ist nicht nur Betrug. Er ist Teil eines Systems, das die angeblichen Chancen des Individuums litaneiartig anpreist und dem der einzelne Mensch in Wahrheit egal ist. Darin besteht seine Unmenschlichkeit. Neu ist diese Erkenntnis nicht. Sie wird durch die aktuelle Start-up-Idealisierung lediglich in neuem Gewand bestätigt.

Ob die Menschen das begreifen, ehe sich die Tragödien vervielfachen? Es gibt wenig Hoffnung. Und derweil verkauft ein junger Mann neben überteuerten Schokoriegeln Briefmarken, weil die Post ihre Filialen schließt. Ob er damit genug verdient, um seine Miete zu bezahlen? Und wie lange? In der Statistik verbirgt sich sein Geschäft als Start-up. Ob ihn das satt macht?


Thomas Rothschild - 6. August 2022
2751

Libretti der Dummheit

In Mannheim hat der gefeierte belgische Regisseur Luk Perceval unter Zuhilfenahme von Texten der türkischen Schriftstellerin Aslı Erdoğan, die eigentlich damit nichts zu tun haben, Mozarts Entführung aus dem Serail ein neues Libretto verpasst. Das Gebräu aus Reinigungsfuror gegenüber vermeintlich schmutzigen Inhalten und Formulierungen, Aufmerksamkeit herausfordernder Originalitätssucht und Misstrauen gegenüber bewährten Überlieferungen schlägt zurzeit auf Deutschlands Bühnen Purzelbäume, die das kritische Publikum zwischen Verwunderung, Ärger und Verzweiflung hin und her reißen. Wer aufbegehrt, wird mit dem Vorwurf des Konservatismus zum Schweigen gebracht. Nun soll gar nicht geleugnet werden, dass es Zuschauer*innen gibt, die unempfänglich sind für alles Neue und stur darauf beharren, dass alles so bleibe, wie sie es gewohnt sind. Das freilich erhebt noch nicht jede Innovation in den Status der Genialität. Texteingriffe, Überschreibungen, Einfügungen von mehr oder weniger langen Zitaten sind für sich genommen weder unstatthaft, noch fortschrittlich. Aber ihre Schöpfe*innen – sprechen wir es aus – sind, wie alle Menschen, auch jenseits des Theaters, mal klüger und mal dümmer, manchmal sogar sehr dumm. Ist es also intelligent oder, na, sagen wir: oberflächlich, wenn man aus der Entführung mit dem Bassa Selim auch gleich den Orient, wie man ihn zu Mozarts Zeiten abgebildet hat, entfernt? Werden wir damit dazu erzogen, unsere türkischen Nachbarn mit dem ihnen gebührenden Respekt zu behandeln und nicht nur als Importeure von Döner?

Wir haben, auch ohne Perceval und Erdoğan, begriffen, dass Mozarts Türkei einem Klischee seiner Zeit, nicht der Wirklichkeit entsprach, wie die Götter in den antiken Dramen einen Glauben ihrer Zeit, nicht mehr und nicht weniger, widerspiegeln. Es ist so falsch und so richtig wie das Klischee von der männerverzehrenden „Zigeunerin“ Carmen oder vom heldenmütigen Germanen, der in Gestalt von Siegfried unbeanstandet über die Opernbühnen geistert. Fragt sich, ob wir darüber bei jeder heutigen Inszenierung belehrt werden müssen, oder ob uns nicht zugemutet werden kann, was jedes Kleinkind versteht: dass die Hexe nicht wirklich in einem Lebkuchenhaus wohnt und der Wolf die Großmutter nicht unverdaut im Bauch aufbewahrt, kurz: dass Literatur, Libretti inklusive, ihre eigenen Regeln hat und kein direkter Weg von der Fiktion zum alltäglichen Bewerten und Handeln führt. Man sollte Naivität nicht mit Moral verwechseln.

Thomas Rothschild - 29. Juli 2022
2750

Ingolstadt ist überall

Die dpa meldet unter der Überschrift Ingolstädter stimmen gegen neues Theater:

"Bei einem Bürgerentscheid haben sich die Ingolstädter am Sonntag gegen den Bau eines neuen Theaters entschieden. Wie die Stadt mitteilte, stimmten bei dem Bürgerentscheid 39,8 Prozent für das Projekt und 60,2 Prozent dagegen. Die Wahlbeteiligung lag bei 25,6 Prozent, es waren rund 100.000 Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen.

Die Stadt wollte neben dem bisherigen Stadttheater ein 'Kleines Haus' bauen, um dann bei der anstehenden Sanierung der Hauptbühne einen Ausweich-Spielort zu haben. Bislang waren 45 Millionen Euro dafür vorgesehen.

In einem zweiten Bürgerentscheid ging es um den Bau einer neuen Mittelschule für rund 580 Schüler. Bei der Frage 'Sind Sie dafür, dass die neue Mittelschule Nord-Ost südlich des Augrabens gebaut wird?' stimmten 49,6 Prozent mit Ja und 50,4 Prozent mit Nein.


(...)

Gegner beider Projekte kritisieren insbesondere, dass Grünflächen bebaut werden sollen. Bei dem geplanten Kammertheater wird zudem bemängelt, dass durch das Bauwerk die Luftzirkulation im Bereich der nahen Donau gestört und dadurch das Klima der Innenstadt verschlechtert werde."

Die Ökologisten bekennen Farbe. Keine Theater, keine Schulen. Grünflächen haben Priorität. Die Grünen auf der linken Seite des politischen Spektrums? Das Gerücht ist ebenso hartnäckig wie falsch und dient einzig und allein der propagandistischen Lüge, dass die Repräsentation in den Parlamenten ausgewogen sei. Wenn die Sorge um Kultur und Bildung unverzichtbarer Teil einer linken Politik ist, dann stehen AfD, CDU/CSU, FDP, große Teile der SPD und, wie man an dem aktuellen Fall einmal mehr sieht, die Grünen rechts von der Mitte.

Man gebe sich keinen Illusionen hin. Ingolstadt ist überall.

Thomas Rothschild - 24. Juli 2022
2748

Trauer zu spät

Es vergeht kaum eine Woche, in der mich nicht die Todesnachricht von jemandem erreicht, den ich einmal gut gekannt habe oder der für meine Biographie eine entscheidende Rolle gespielt hat. Zwar wurde mein Vater 16 und meine Mutter 15 Jahre älter, als ich jetzt bin, aber sie haben gesünder gelebt als ich. Realistischerweise muss ich damit rechnen, dass ich jederzeit sterben kann. Ich halte es für kindisch, das zu verdrängen, und den Trost eines Lebens nach dem Tod benötige ich nicht.

Ich fürchte den Tod nicht. Jedenfalls nicht mehr als Krankheit und Hilflosigkeit. Der Tod ist nicht so sehr für jenen, den er trifft, tragisch, wie für die Lebenden, die er hinterlässt. Der Verstorbene fehlt, jedenfalls meistens. Vor allem aber: mit ihm sterben auch die Antworten auf die Fragen, die man ihm gerne noch gestellt hätte.

Heute traf die Nachricht ein, dass Paul Stein – damals, als wir uns alle im Diminutiv ansprachen: Pauli Stein – am 9. Mai gestorben ist. Er war ein Jahr älter als ich und gehörte in den frühen sechziger Jahren zu meinem engsten Freundeskreis. Er war, jedenfalls nach dem frühen Tod von Ernstl Koplenig, der Intelligenteste unter meinen Freunden. Wir haben beide damals für eine Jugendzeitschrift geschrieben, und ich habe ihn stets um seinen virtuosen Stil, seine pointierten Formulierungen beneidet. So wie er, wollte ich texten können.

Keiner konnte in Discos, die damals noch Jazzkeller hießen, so gut und elegant tanzen wie er, vorwiegend mit der ebenfalls bereits verstorbenen Toni Spira. Darum beneidete ich ihn zwar nicht so sehr, aber bewundert habe ich ihn schon.

Als ich promovierte, wurden wir einander fremd. Ich konnte ihn nie fragen, woran das lag. Vermutlich war ich für ihn mit dem Abschluss des Studiums in der bürgerlichen Welt versackt. Er selbst ging mit seiner Frau für fünf Jahre nach China, wo er eine deutschsprachige Publikation redigierte.

Als er nach Wien zurückkehrte, lebte ich bereits in Deutschland. Pauli Stein ging verschiedenen Tätigkeiten nach, unter anderem als Außenlektor für Verlage, aber sie blieben – nach meiner Meinung – immer hinter seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zurück. Ob er es selbst so empfand, ob er darunter litt, weiß ich nicht. Wir hatten kaum noch Kontakt mit einander. Einmal nahm er mir eine veröffentlichte Kritik an Robert Schindel übel, mit dem er eng befreundet war. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag, zu den ich ihn eingeladen hatte, kam er nicht.

Im vergangenen Oktober wohnte ich ein paar Tage in einem Hotel ganz in der Nähe des Hauses, in dem er als Kind gelebt hatte, sowie seines Stammcafés, des Cafés Goldegg. Ich fand heraus, dass er nach wie vor dort wohnte, und überlegte, ob ich bei ihm anläuten solle. Dann aber hatte ich Angst, dass eine Begegnung unerfreulich sein und meine Erinnerungen torpedieren könnte, und verzichtete darauf. Im Geheimen hoffte ich, ihm auf der Straße oder im Goldegg über den Weg zu laufen.

Jetzt ist es zu spät. Hier stehe ich mit all den ungefragten Fragen, die ich ihm – und meinen Eltern, und den vielen verstorbenen Freunden und Bekannten – gerne gestellt hätte. Der Tod ist doch schlimm. Der Tod der anderen.


Thomas Rothschild - 18. Mai 2022
2747

Ja das Schreiben und das Lesen

Was in der Öffentlichkeit diskutiert wird, hängt weitgehend von der Größe und der Stärke der Lobbys ab, die an diesen Diskussionen interessiert sind, weil sie davon zu gewinnen haben. Seit Jahren hat der Feminismus die Diskurshoheit an sich gerissen, und zwar nicht die Fraktion des Feminismus, die einst Häuser für geschlagene Frauen eröffnet, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die Bezahlung von Hausarbeit und Kindererziehung gefordert hat, sondern jene Fraktion, die besonders artikuliert ist, die Mittel und den Zugang zu den Medien besitzt, um sich Gehör zu verschaffen, und vertraut ist mit den Methoden der männlichen Gegenspieler, deren Privilegien sie nicht etwa abschaffen, sondern sich aneignen möchte, die also keineswegs mehr (Verteilungs)Gerechtigkeit anstrebt, sondern die Partizipation an der herrschenden Ungerechtigkeit: die Fraktion des Großbürgertums. Mit unschöner Regelmäßigkeit wird nachgezählt, wie hoch der Prozentsatz von Frauen in Aufsichtsräten, Konzernvorständen, Präsidien ist. Die materielle und soziale Diskriminierung von Reinigungskräften, Fließbandarbeiterinnen, Supermarktkassiererinnen, Sekretärinnen interessiert kaum mehr. Sie eignet sich nicht für Schlagzeilen.

Zu den Topoi von Zeitungsartikeln, aber auch von Magisterarbeiten gehören seit langem Klagen über die Unterrepräsentation von Frauen in den Künsten, sowohl unter den Schöpfern, wie auch in deren Produkten. Es gibt jede Menge Statistiken über das Zahlenverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Protagonist*innen in der Literatur. Sie fallen, wenig überraschend, zu Ungunsten der Frauen aus. Wann aber wurde zuletzt nachgezählt, wie oft Menschen – Frauen wie Männer – im Mittelpunkt von Büchern stehen, die in Armut aufgewachsen sind, die schon als Kinder schwere körperliche Arbeit leisten mussten, die Bildung überhaupt nicht oder nur unter ungünstigsten Bedingungen erlangen konnten? Die Armen kommen in der Literatur, wenn überhaupt, fast nur als Nebenfiguren vor. Wo sind die bäuerlichen und proletarischen Pendants zu den Fausts und den Wallensteins, den Buddenbrooks und den Salinas, den Briests, den Bovarys, den Kareninas? Oliver Twist mag einem einfallen. Und darüber hinaus? Es gibt sie, die Armen und Unterprivilegierten als literarische Helden, aber die Liste ist kurz.

In dem Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz vom Ende des 18. Jahrhunderts kann man nachlesen (aber wer liest ihn noch?), was es für den Titelhelden bedeutet, Lesen und Schreiben zu lernen. Nicht weniger drastisch ist die Darstellung in Franz Michael Felders Autobiographie Aus meinem Leben. Mit ihr lässt sich das eben wieder gedruckte Buch Die Schwabengängerin von Regina Lampert vergleichen. Wer allerdings meint, die kaum vorstellbaren Leiden einer Kindheit in Armut gehörten der ferneren Vergangenheit an, lege sich Franz Innerhofers Schöne Tage oder Gernot Wolfgrubers Herrenjahre aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufs Nachtkästchen. In die selbe Kategorie fällt das 2009 erschienene Gasthauskind von Ingried Wohllaib. Und gerade erst vor zwei Jahren hat Christian Baron Ein Mann seiner Klasse veröffentlicht. Inzwischen hat diese Lebensbeschreibung sogar die Theaterbühne erreicht. Interesse ist offenbar vorhanden. Das kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Armen kaum ein Thema sind für Empörung, Manifeste und Quoten. Sie haben eben keine Lobby. Und wer, außer ihnen selbst, hätte Interesse daran, sie so wichtig zu nehmen wie die Zahl der Ministerinnen in einer Regierung. Die geführt wird von einer Partei, die sich einst als Vertreterin der Arbeiterklasse verstand. Lang, lang ist’s her.


Thomas Rothschild - 16. April 2022
2746

Deniz Yücel vs. 5 Präsidenten

Regula Venske, Vorgängerin von Deniz Yücel als Präsidentin des PEN-Zentrums Deutschland und Mitunterzeichnerin der Aufforderung an Yücel, zurückzutreten, bei ihrer Antrittsrede als PEN-Präsidentin: „Das Wort ist die Waffe, die die Herrschenden in autoritären Regimen weltweit am meisten fürchten." Na dann… Hoffentlich ist Putin davon beeindruckt. (Es wäre ja komisch, wenn es nicht so traurig wäre. Leider aber ist es typisch für den PEN, ob deutsch oder international: große Worte und keine Wirkung. Außer vielleicht bei befreundeten Kolleginnen in der F.A.Z.)


Thomas Rothschild - 27. März 2022 (2)
2745

Deniz Yücel, Edmund Burke und die Gleise nach Auschwitz

Deniz Yücel habe seine Befugnisse überschritten, als er in seiner Funktion als Präsident des PEN-Zentrums Deutschland bei einer Veranstaltung von Lit.Cologne seine eigene Meinung zu einer möglichen Reaktion auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine bekannt gab, befinden fünf Ex-Präsidenten der Schriftstellervereinigung und fordern Yücels Rücktritt. John Ralston Saul, der Präsident des Internationalen PEN in den Jahren 2009-2015, den die unmittelbare Vorgängerin Yücels Regula Venske verehrte und gegen jede Kritik bedingungslos in Schutz nahm, wofür er sie in das Präsidium von PEN International holte, hatte einen Lieblingstext, aus dem er gerne zitierte. Er stammt von dem Politiker und Philosophen Edmund Burke, ist eine Rede an die Wähler von Bristol aus dem Jahr 1774, und sagt, höchst zeitgemäß, im Wortlaut:


„Gewiss, meine Herren, es sollte das Glück und der Ruhm eines Volksvertreters sein, in engster Verbindung, völliger Übereinstimmung und rückhaltlosem Gedankenaustausch mit seinen Wählern zu leben. Ihre Wünsche sollten für ihn großes Gewicht besitzen, ihre Meinung seine hohe Achtung, ihre Interessen seine unablässige Aufmerksamkeit. Es ist seine Pflicht, seine Ruhe, seine Freuden und seine Befriedigungen den ihren zu opfern; und vor allem in jedem Falle ihre Interessen den seinen vorzuziehen. Doch seine unvoreingenommene Meinung, sein ausgereiftes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen sollte er weder euch, noch irgendeinem Menschen oder irgendeiner Gruppe von Menschen aufopfern; denn er leitet sie nicht von eurer Gunst her, noch aus dem Recht oder der Verfassung. Sie sind ein von der Vorsehung anvertrautes Gut, für dessen Missbrauch er voll verantwortlich ist. Euer Abgeordneter schuldet euch nicht nur seinen ganzen Fleiß, sondern auch einen eigenen Standpunkt; und er verrät euch, anstatt euch zu dienen, wenn er ihn zugunsten eurer Meinung aufopfert. [...]

Eine Meinung zu äußern, ist das Recht aller Menschen; diejenige der Wähler ist eine gewichtige und achtenswerte Meinung, die zu hören ein Volksvertreter sich stets freuen sollte und die er immer auf das ernsthafteste erwägen müsste. Doch verbindliche Anweisungen, erteilte Aufträge, die das Parlamentsmitglied blindlings und ausdrücklich befolgen muss, für die es seine Stimme abgeben und für die es eintreten soll, obgleich diese Instruktionen im Gegensatz zur klarsten Überzeugung seines Urteils und Gewissens stehen mögen, sind Dinge, die den Gesetzen unseres Landes völlig unbekannt sind und die aus einem fundamentalen Missverständnis der gesamten Ordnung und des Inhalts unserer Verfassung entspringen. Das Parlament ist kein Kongress von Botschaftern im Dienste verschiedener und feindlicher Interessen, die jeder als Vertreter und Befürworter gegen andere Vertreter und Befürworter verfechten müsste, sondern das Parlament ist die beratende Versammlung einer Nation, mit einem Interesse, dem des Ganzen, wo nicht lokale Zwecke, nicht lokale Vorurteile bestimmend sein sollten, sondern das allgemeine Wohl, das aus der allgemeinen Vernunft des Ganzen hervorgeht. Wohl wählt ihr allein einen Abgeordneten, aber wenn ihr ihn gewählt habt, dann ist er nicht mehr Vertreter von Bristol, sondern ein Mitglied des Parlaments. Falls der lokale Wähler ein Interesse verfolgen oder sich eine voreilige Meinung gebildet haben sollte, die ganz offensichtlich im Widerspruch zum wahren Wohl der restlichen Gemeinschaft stehen, dann sollte der Abgeordnete dieses Wahlkreises, so gut wie jeder andere, davon Abstand nehmen, diese Sonderinteressen durchzusetzen. [...] Ein gutes Mitglied des Parlaments zu sein, ist keine leichte Aufgabe; besonders in dieser Zeit, in der eine starke Neigung besteht, sich in einen gefährlichen Grad von sklavischer Willfährigkeit oder zügelloser Popularität zu stürzen. Umsicht mit Energie zu vereinen, ist absolut notwendig, aber äußerst schwierig. Wir sind jetzt Bürger einer reichen Handelsstadt, diese Stadt ist jedoch ein Teil einer reichen Handelsnation, deren Interessen verschieden, vielfältig und kompliziert sind. Wir sind Angehörige einer großen Nation, die selbst wiederum nur Teil eines großen Weltreichs ist, das sich [...] bis zu den entferntesten Grenzen in Ost und West erstreckt. Alle diese weit verbreiteten Interessen müssen bedacht werden, müssen verglichen werden, müssen, wenn möglich, in Einklang gebracht werden.“

(Edmund Burke: Speeches on the American War, Boston 1898. Übersetzung nach Otto Heinrich von der Gablentz: Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Politische Theorien Teil III. Westdeutscher Verlag. 3. Auflage. Köln und Opladen 1967, S. 82 f.)



Zur Sache selbst, deretwegen Yücel von den fünf fixen Präsident*innen der friedlichen Vergangenheit abgemahnt wird, die Erwägung nämlich, dass man Putin und seine Kriegsherren, notfalls mit Hilfe der NATO, in Schach halten müsse: auch ich bin zunächst erschrocken. Aber dann fiel mir ein, dass ich meine Großeltern nach der Rückkehr mit meinen Eltern aus dem Exil vielleicht kennen gelernt hätte, wenn die Alliierten die Bahnlinien nach Auschwitz bombardiert hätten. Dabei weiß ich, dass auch deren Armeen nicht aus lupenreinen Demokraten bestanden, dass sie der Aufrechterhaltung des Kolonialismus dienten und dass die Sowjetunion bereit war, einen Nichtangriffspakt mit dem Deutschen Reich zu schließen, wenn sich dieses Polen mit ihr teilen würde. Das hat dann nicht ganz so geklappt. Aber gekämpft haben die Alliierten nicht, um die Demokratie in Deutschland oder gar die verfolgten Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen zu retten, sondern um ihre eigenen imperialen Interessen zu verteidigen, nachdem es mit dem Münchner Abkommen schief gelaufen war. Dafür müssen wir ihnen dankbar sein, aber wir müssen nicht der Propaganda auf den Leim gehen und es idealisieren. Man muss auch kein Freund der NATO sein, um ihre Unterstützung ins Kalkül zu ziehen, wenn man damit Menschenleben rettet. Dass die Gleise nach Auschwitz nicht bombardiert wurden, hat man, als es zu spät war, als Fehler betrachtet. Hätten die fünf PEN-Präsidenten solch ein Bombardement verurteilt? Oder wollen sie jetzt warten, bis es wieder zu spät sein wird?

Der Pazifismus ist eine schöne Sache. Für jene aber, die Krieg und Verfolgung erleiden, kann er tödlich sein. Sich das einzugestehen ist eine Herausforderung.

Thomas Rothschild - 22. März 2022
2744

Eleganz

Ich schätze die Schweizer Schriftstellerin Ilma Rakusa seit vielen Jahren, wegen ihrer Übersetzungen, wegen ihres literarischen Geschmacks, wegen ihrer Essays. Jetzt hat sie innerhalb einer Reihe des Grazer Droschl Verlags ein schmales Büchlein über die Eleganz geschrieben. Zur Damenmode äußert sie sich so: „Das ‚kleine Schwarze‘, das – gut geschnitten, gut getragen – immer für Eleganz taugt, vor allem wenn Schuhe, Handschuhe und Tasche das Ihre beitragen.“ Ich muss bekennen: ich bin perplex. Auf mich wirkt dieses scheinbare Understatement nur affig. Mir ist bewusst: das Thema hat Konjunktur, es fügt sich bruchlos in die Rückkehr des Konservatismus und den Dégout gegen alles Plebejische. Es passt in eine Umgebung, in der sich der einst stolze Begriff des Proletariers zum herablassenden Proll gewandelt hat.

Wo von Eleganz gefaselt wird, ist an vorderster Stelle, wie bei Ilma Rakusa, von Kleidung die Rede. Der Inbegriff der Eleganz bei Männern sind Frack und Smoking. Ich habe offen gestanden nie begriffen, wieso ausgerechnet die Berufskleidung von Oberkellnern oder allenfalls von heftig gestikulierenden verschwitzten Dirigenten elegant sein soll. Wenn man aber solche Bedenken äußert, wird man sofort verdächtigt, Parkas, löchrige Jeans und Birkenstock Sandalen per Dekret verordnen zu wollen. Zwar habe ich auch gegen Parkas und Jeans nichts einzuwenden. Aber es geht mir gar nicht darum, eine Eleganz durch eine andere zu ersetzen, sondern durch Funktionalität. Dass ein Frack funktional sei, wird mir niemand einreden können. Parkas und Jeans sind es zumindest in bestimmten Situationen.

Was mir aber noch verwunderlicher erscheint als die neue Wertschätzung der Eleganz in der Kleidung, ist deren Gegenläufigkeit zur Schlamperei in der Sprache. Es erfordert offenbar weniger Aufwand und Intelligenz, sich einen angeblich eleganten Anzug oder ein elegantes Kleid zu kaufen, als Sätze zu bilden, die über die Komplexität eines Smileys oder stereotyper Wendungen aus dem Jugendjargon hinaus gehen. Freilich kann man nichts damit verdienen, dass man sprachlichen Stil anpreist. Man kann ihn nicht verkaufen wie teure Klamotten.

Ich gestehe: so sehr mir Kleidungsfragen am Arsch vorbei gehen, um eine der heute beliebten Phrasen zu gebrauchen, so sehr fasziniert mich, um ein Beispiel zu nennen, die Sprache von Arthur Schnitzler (und es ist kein Versehen, wenn ich nicht Stefan Zweig oder Franz Werfel an seiner Stelle nenne). Sie entspricht dem, was ich unter Eleganz verstehe, und ist zugleich funktional: Ihre Syntax macht Gedanken transparent, ihre Wortwahl ist zugleich verständlich und überraschend, ihre Melodie eignet sich die Schönheit von Musik an, ihre Ironie ist geistreich und schlagfertig zugleich. Und zwar nicht nur bei seinen liebenswürdigen, sondern auch und gerade bei den unsympathischen Figuren. Arthur Schnitzlers Erzählungen und Dramen machen deutlich, dass Literatur aus Sprache besteht, ja dass es die Sprache ist, was ihre Botschaften erst zu Literatur macht. Man kann im Alltag über die Kränkungen einer Frau oder über Antisemitismus sprechen – und man tut es ja pausenlos –, aber es bleibt, im Vergleich mit Frau Berta Garlan oder Professor Bernhardi Geschwätz ohne ästhetischen Mehrwert. Vielleicht klingt die folgende Replik in den Ohren derer, die mit der Sprache der Social Media aufgewachsen sind, gestelzt, aber sie ist, mit Verlaub, auch schön oder eben elegant: „Wenn ich Ihnen dafür dankte, Hochwürden, dass Sie unter Ihrem Zeugeneid die Wahrheit gesprochen haben, müsste ich fürchten, Sie zu verletzen.“

Ja, mag manche oder mancher einwenden, aber Schnitzler hat vor 100 Jahren gelebt. Richtig. Wenn jedoch Smoking und Abendkleid immer noch möglich sind und als elegant gelten – warum sollte das für die Sprache, für die Literatur verboten sein? Ich plädiere ja nicht dafür, daraus eine Regel zu machen. Aber als eine Alternative zur Schnoddrigkeit bis hin zur Sprachlosigkeit sollte die Eleganz in Erinnerung bleiben. Man sollte es, wie Arthur Schnitzler sagen würde, in Betracht ziehen.

Übrigens, es mag paradox erscheinen: am ehesten wurde diese Eleganz, zwischen Schnitzler und heute, in der DDR-Literatur bewahrt, bei Uwe Johnson, bei Peter Hacks, bei Jurek Becker, bei Fritz Rudolf Fries. Einfach so, ohne Schuhe, Handschuhe und Tasche.

Thomas Rothschild - 10. Dezember 2021
2743

Damerikanisch

Nein, ich bin kein Sprachpurist, ich weiß, dass sich Sprache verändert wie ein lebendiger Organismus und dass unser gegenwärtiges Deutsch vollgestopft ist mit Lehnwörtern aus anderen Sprachen, schon gar nicht fürchte ich um die nationale Identität durch die zunehmenden Anleihen aus dem Englischen – nein: aus dem Amerikanischen, die ein Reflex sind unserer freiwilligen Auslieferung an die US-amerikanische Film- und Fernsehindustrie. Es erscheint mir bloß einfach affig, wenn in synchronisierten Filmen Wörter und Redewendungen benutzt werden, die unverkennbar so fehl am Platz wirken wie ein Ostseehering im Schokoladenladen. Das Kriterium für die Sinnhaftigkeit von Anglizismen oder Amerikanismen scheint mir zu sein, ob sie etwas leisten, was ein vorhandenes deutsches Wort oder eine eingebürgerte deutsche Phrase nicht (besser) leisten kann.

Hier eine Auswahl von Beispielen:

- Hilf mir Gott
- gottverdammt
- Es ist hart (im Sinne von: es ist schwierig)
- Wie geht es Ihnen heute?
- Hat sie das? (als Reaktion auf: sie hat das oder das getan)
- Ich bin bestimmt nicht gut genug. – Du bist.
- Bist du in Ordnung?
- woke
- toxische Männlichkeit
- am Ende des Tages

Am Ende des Tages bleibt die Frage, was das verdeutschte „at the end of the day“ - ästhetisch, grammatisch, präzisierend - auszeichnet gegenüber, beispielsweise: letztlich, zu guter Letzt, letzten Endes. Es ist, verzeihen oder meinetwegen sorry, nur affig. Okay?

Thomas Rothschild - 20. November 2021 (2)
2742

Martin Pollack

Das PEN-Zentrum Deutschland vergibt ein Mal im Jahr den Hermann Kesten-Preis. Er zeichnet Persönlichkeiten aus, die sich im Sinne der internationalen PEN-Charta in besonderer Weise für verfolgte und inhaftierte Schriftsteller und Journalisten einsetzen. Als ich noch Mitglied des PEN-Präsidiums war, habe ich den österreichischen Journalisten und Schriftsteller Martin Pollack für diesen Preis nominiert. Mein Vorschlag hat im Präsidium keine Mehrheit gefunden. Inzwischen bin ich aus dem PEN ausgetreten, nachdem ich mit der pharisäerhaften Haltung der ehemaligen Präsidenten Josef Haslinger und Regula Venske und des heutigen Generalsekretärs Heinrich Peuckmann konfrontiert worden war. (Wer sich von der Berechtigung dieser Beschuldigung überzeugen möchte, kann über die oben [in der Grafik] stehende Mailadresse Beweisdokumente anfordern.)

Martin Pollack ist im deutschsprachigen Raum der wahrscheinlich beste Kenner der politischen Lage in Polen. 1944 in Bad Hall geboren, hat er in Wien und Warschau Slavistik und osteuropäische Geschichte studiert. Neben seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit hat er sich über Jahrzehnte hinweg durch Übersetzungen, Essays, Rezensionen und kulturpolitische Initiativen konsequent und kämpferisch für Verfolgte und gegen Unrecht, vorwiegend in Osteuropa, eingesetzt und entscheidend dazu beigetragen, dass polnische und andere osteuropäische Schriftsteller im Westen bekannt wurden. Sein Engagement galt insbesondere solchen Autoren, die in ihrer Heimat nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen publizieren konnten und schikaniert wurden. Es gibt keinen würdigeren Kandidaten für einen Preis, der den Namen Hermann Kestens trägt.

Jetzt hat Martin Pollack, dessen aufklärerischer Impetus und dessen politisches Verantwortungsgefühl nach Jahren einer schweren Krankheit dem geschwächten Körper standhalten, in der österreichischen Tageszeitung Der Standard einen Essay [Zur sadistischen Radikalisierung Polens ] veröffentlicht, der es nicht verdient, im Trubel der Vielschreiberei, zumal diesseits der Grenzen, unterzugehen. Deshalb hier der Link zu einer unverzichtbaren Information. Sage keine und keiner, sie oder er habe nicht gewusst, was sich, wenige Kilometer von der deutschen Hauptstadt entfernt, abspielt.

Thomas Rothschild - 19. November 2021
2741

Fristenlösung

Mit großer Eloquenz verdammen Politiker und Ärzte in Talkshows und anderswo die Impfverweigerer, die mit ihrem Verhalten nicht nur sich, sondern die Gemeinschaft gefährden. Mit dem gleichen rhetorischen Eifer werben sie für Boosterimpfungen. Ihr Wort in Gottes Ohr.

Eine schwedische Studie hat dieser Tage ergeben: „­Bei zwei Dosen Biontech war nach sieben Monaten kein Effekt mehr nachweisbar, bei Astrazeneca schon nach vier Monaten. Hier wurde aus dem erhofften Schutz sogar ein erhöhtes Risiko.“ Heißt: wer im Juli seine zweite Impfung mit Astrazeneca erhalten hat, ist gegenüber dem Corona-Virus genau so ungeschützt wie jemand, der sich gar nicht erst hat impfen lassen.

Die meisten Ärzte aber wissen nichts davon. Wenn man um einen Termin für eine Auffrischungsimpfung bittet, wird einem schulterzuckend mitgeteilt, dass die frühestens im Januar in Frage kommt. Mit anderen Worten: die für die Verteilung von Impfstoff Verantwortlichen setzen Impfwillige, die so genannten „vulnerablen“ Personen eingeschlossen, am ausgestreckten Arm der Infektion, der schweren Erkrankung und möglicherweise dem Tod aus. Sie predigen Impfung und trinken Wein.

Wer wird jene zur Verantwortung ziehen, die ihre Bürger für ein halbes Jahr in Sicherheit wiegen und in Wahrheit zwei Monate lang jenem Schicksal aussetzen, das die Impfgegner freiwillig auf sich (und andere) nehmen? Man dürfe in einer Demokratie niemanden zwingen, sagen diese, sich gegen Krankheiten zu schützen. Offenbar aber darf man jenen Gefährdeten, die Schutz erheischen, diesen verweigern. Ist es Dummheit, Zynismus oder Mordlust? So oder so: Wer die Impfung propagiert und nicht dafür sorgt, dass sie rechtzeitig verabreicht wird, ist um kein Jota vernünftiger als die Verschwörungstheoretiker und Medizinesoteriker. Von den charakterlichen Qualifikationen wollen wir gar nicht erst reden.

Thomas Rothschild - 18. November 2021
2740

Sagen und tun

Schon in jungen Jahren, als ich noch Schüler war, lernte ich, den Worten zu misstrauen, weil die Taten, die ihnen folgten, so häufig zu ihnen in Widerspruch standen. Nicht was jemand sagt, sondern was er tut, galt und gilt mir bis heute als maßgeblich. Später konnte ich feststellen, dass Sartre und lange vor ihm schon Descartes diesen Gedanken formuliert hatten.

Der Verdacht, der sich hinter dieser Unterscheidung verbirgt, ist deshalb so ungemütlich und entzieht sich einer moralischen Bewertung, weil die Unzuverlässigkeit dessen, was jemand sagt, nicht unbedingt auf einer Lüge beruht. In vielen, wahrscheinlich in den meisten Fällen glaubt er selbst an seine Rede. Wenn jemand einem Partner versichert, dass er oder sie ihn liebe, muss das nicht geheuchelt sein. Wenn er oder sie jedoch kneift, sobald es die geringste Schwierigkeit beim Liebesbeweis zu überwinden gilt, darf man daran zweifeln, dass es mit der Liebe weit her sei. Wenn jemand beteuert, er sei kein Rassist, aber die Straßenseite wechselt, wenn ihm in der Nacht ein Farbiger begegnet, sind an seiner Beteuerung Bedenken angebracht. Nicht, was ein Intendant oder ein Regisseur bei der Spielplanpressekonferenz oder im Programmheft verkündet, sondern was am Ende auf der Bühne zu sehen und zu hören ist, zählt. Wenn jemand erklärt, was er oder sie alles könnte, wollte, täte, es aber unterlässt, sobald es um die Realisierung geht, hat er andere und meist auch sich selbst getäuscht.

Man muss also niemandem eine böse Absicht unterstellen, wenn er sagt, was er nicht durch sein Handeln bestätigt. Man hat aber Gründe und jede Berechtigung zur Skepsis. Nicht die bewusste Lüge ist das Problem – sie kann mit etwas Findigkeit aufgedeckt und widerlegt werden –, sondern die Selbsttäuschung. Ihre Macht ist beinahe grenzenlos und allgegenwärtig. Sie bewirkt, dass Menschen die Unwahrheit sagen und die Wahrheit erst durch das offenbaren, was sie tun. Die Tat ist ehrlicher als das Wort. Damit muss man rechnen. Oder aber man setzt sich Enttäuschungen aus. Man sollte andere nicht für seine Leichtgläubigkeit verantwortlich machen, nicht in der Politik und nicht im alltäglichen und auch nicht im intimen Leben. Das mag die Kommunikation erschweren. Aber was nützt die flüssigste Kommunikation, wenn sie in die Irre führt?

Irgendwie muss ich das schon als Schüler, lange vor der Lektüre von Sartre und Descartes, geahnt haben. Dass es nicht dazu beigetragen hat, mir Sympathie zu gewinnen, ist mir klar. Wer will schon, zumal wenn er sich keiner Verfehlung bewusst ist, verdächtigt werden? So ist es halt, das Leben.

Thomas Rothschild - 8. November 2021
2739

Loblied auf die Dramaturg*innen

Dieser Tage erlebte Die Verurteilung des Lukullus von Paul Dessau und Bertolt Brecht mit 70 Jahren Verspätung ihre Stuttgarter Erstaufführung. Ein Ereignis, das sich mit dem aufwendig in Szene gesetzten und vom Publikum bejubelten Abend im wieder voll besetzten Haus nicht erschöpft.

Wer sich im Theaterbetrieb ein wenig auskennt, weiß, dass man Mitarbeiter*innen, die man, oft blindlings, als Dramaturg*in eingestellt hat, alsbald damit betraut, irgendwelche archivarischen Angelegenheiten zu regeln, weil sich herausgestellt hat, dass sie für originär dramaturgische Arbeit zu unbegabt, zu ungebildet, zu träge oder einfach zu dumm sind. Daneben aber gibt es Dramaturg*innen von außergewöhnlicher Intelligenz und Produktivität. Ihre Aufgaben haben sich seit der Nachkriegszeit fundamental geändert. Sie erfüllen eher den Status von Wissenschaftlern als von Kaffee zubereitenden Spielplananregern mit beschränkten Kenntnissen.

Zu ihren Verpflichtungen gehört in der Regel neben der Erstellung einer spielbaren Textfassung und Vorschlägen zur Konzeption mit Hilfe von Materialien die Redaktion des Programmhefts, das längst mehr ist als ein Werbeträger mit ein paar kümmerlichen Angaben neben den Fotos von Hüten und Damenwäsche und das sich an vielen führenden Theatern in den vergangenen 50 Jahren mehr und mehr zu einem Programmbuch ausgewachsen hat. So auch an der Stuttgarter Oper. Wer sich für die Vorgeschichte und die Aufführungsgeschichte der Verurteilung des Lukullus, für die komplexen künstlerischen, zeitgeschichtlichen und politischen Überlegungen des inszenierenden Teams, für die Besonderheiten von Paul Dessaus Komposition, aber auch für den historischen Lukullus interessiert, wird in dem umfangreichen und vorbildlich edierten Programmbuch fündig. Es hat den Charakter einer Monographie, die auch jenseits eines Opernbesuchs lesenswert ist. Dass das Libretto fehlt, dürfte an Problemen mit den Rechten liegen, die bekanntlich bei Brecht besonders vertrackt sind.

Es ist also an der Zeit, ein Loblied zu singen auf die (gescheiten) Dramaturg*innen, die für einen gelungenen Theaterabend nicht weniger wichtig sind als Schauspieler*innen und Sänger*innen, als Regisseur*innen und Bühnenbildner*innen, als Musiker*innen und – neuerdings – Videokünstler*innen. Sie sind auf der Bühne nicht sichtbar, das Ergebnis ihrer Arbeit ist es dort nur mittelbar, und so werden sie in Kritiken so gut wie nie auch nur erwähnt. Wenn sich Schauspieler*innen beklagen, dass die Analyse und Einordnung einer Inszenierung der Nennung ihrer Namen vorgezogen wird – was sollen dann die Dramaturg*innen sagen? Nicht selten geht auf ihr Konto, was Regisseur*innen zugeschrieben wird, aber wer weiß das schon? Und ihre Programmbücher kommen unter den Buchbesprechungen in den Medien nicht vor. Dabei sind sie oft nicht nur lesbarer, jargonfreier, sondern auch weitaus erhellender als die Veröffentlichungen vom Universitätspersonal oder gar als Dissertationen, die nicht wirklich dem Erkenntnisgewinn, sondern allein dem Erwerb eines akademischen Grads dienen.

Ein Problem allerdings besteht darin, dass kaum jemand Zeit und Gelegenheit hat, ein Programmbuch vor der Vorstellung zu studieren. Das aber wäre nötig, wenn es seine Aufgabe optimal erfüllen soll. Wie die Dinge liegen, müsste man nach der Lektüre des Programmbuchs eine zweite Aufführung besuchen, um von dem Wissen zu profitieren, das man nun erworben hat. Dann hätte man mehr von der Leistung der Dramaturg*innen und könnte sie gebührend würdigen. Sie hätten es verdient.

Thomas Rothschild - 2. November 2021 (2)
2738

Angebot und Nachfrage

Zu den Topoi der westlichen Berichterstattung über die Sowjetunion gehörten die Schlangen vor den Läden. Nicht die Nachfrage bestimmte das Angebot, sondern eine (schlechte) Planung. Was man benötigte, war oft nicht zu bekommen.

Hier und heute, in der Konsumgesellschaft, ist es umgekehrt. Man bekommt mehr, als man braucht. Wenn man früher seine Unterhosen, seine Socken, seine Hemden kaufte, wenn die alten verschlissen oder auch nur aus der Mode waren, erwirbt man sie heute ohne Sinn und Verstand, weil sie zu einem günstigen Preis angeboten werden. Nicht das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage bestimmt den Preis, sondern der Preis bestimmt die Nachfrage. Der neue Irrsinn heißt Schnäppchen. So häufen sich daheim die unbenötigten Waren, die sich Kunden und nicht zuletzt Kundinnen in einem irrationalen Kaufrausch haben aufschwätzen lassen. Der Kaufakt wird zum Selbstzweck. Er schafft jenes Glücksgefühl, das in einer menschlicheren Gesellschaft durch würdigere Angebote – Kunst, Wissen, Beiträge zu besseren Lebensverhältnissen – vermittel werden könnte.

Um 1968 gab es ein Bewusstsein für diese Problematik. Es ist verschwunden. Der Kapitalismus hat auch hier, wie auf allen Fronten, gesiegt. Jenen, die von diesen Umständen profitieren, ist es gelungen, den Massen einzureden, dass Kaufen einen Lebensinhalt bedeuten kann.

Es geht auch anders, aber so geht es auch. Ob wir damit den Idealen näher kommen, die Christen und Sozialisten einst geteilt haben, ist die Frage. Wenn in der Zukunft nach dem Menschenbild unserer Gegenwart gefragt werden will, wird es wohl heißen: angestrebt wurde der Mensch, der nicht in der Schlange stehen muss, weil er immer irgendwo Schmarren kaufen konnte, der billig, aber halt unnütz war.

Thomas Rothschild - 6. September 2021
2737

Kommunikation

In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts räsonierte der amerikanische Mathematikprofessor und geniale Liedermacher Tom Lehrer in der Abmoderation zu einem Song über Alma Mahler-Gropius-Werfel:

„Wenn wir gerade von Liebe sprechen, ein Problem, das dieser Tage immer häufiger wiederkehrt, in Büchern und Theaterstücken und Filmen, ist die Unfähigkeit von Menschen, mit Menschen, die sie lieben, zu kommunizieren: Ehemänner und Ehefrauen, die nicht kommunizieren können, Kinder, die nicht mit ihren Eltern kommunizieren können, und so weiter. Und die Figuren in diesen Büchern und Theaterstücken und so weiter, und im wirklichen Leben, möchte ich hinzufügen, verbringen Stunden damit, die Tatsache, dass sie nicht kommunizieren können, zu beklagen. Ich finde, das Geringste, was eine Person tun kann, wenn sie nicht kommunizieren kann, ist den Mund zu halten.“

Heute, ein halbes Jahrhundert später, aber innerhalb der Lebenszeit vieler Menschen, haben sich die Probleme geändert. Die Kommunikation scheitert nicht an der Unfähigkeit der Beteiligten, sondern an den Bedingungen. Wer heute einen Anruf betätigt oder eine Mail schreibt (Briefe dürften nur noch als Relikt der Vergangenheit in Erinnerung sein), wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf einen lebenden Adressaten treffen, sondern auf einen Automaten. Die Kommunikation ist Fiktion. Der Automat reagiert nicht, wie ein Mensch, auf die Ansprache, weil er nur für bestimmte Signale programmiert ist, er versendet vorgefertigte Partikel. Mit Kommunikation hat das so viel zu tun wie der Gebrauch einer Sexpuppe mit Liebe.

Das Telefon verweigert mir ungerührt die Vereinbarung eines Termins. Stattdessen verrät es mir, dass im Moment alle Leitungen besetzt sind, ich aber nicht auflegen soll, weil sich ein Mitarbeiter bei mir melden wird, sobald eine Leitung frei ist. Ich warte, beschallt mit Musik, die nicht unbedingt nach meinem Geschmack ist. Nach zehn Minuten erfahre ich, dass doch keine Leitung frei werde, ich solle es zu einem späteren Zeitpunkt erneut versuchen. So vergeht der Tag. Der Automat mutet bereits wie ein enger Verwandter an. Einen Termin freilich habe ich immer noch nicht.

Da will man sich in ein Konto einloggen und erhält, so gewissenhaft man die Vorschriften auch befolgt, vom Computer die herzlose Antwort: „falscher Benutzername oder falsches Passwort“. Widerspruch wird nicht geduldet. Da kann man den korrekten Namen und das richtige Passwort so oft eingeben, wie man will: der Automat kennt nur eine Reaktion. Konnte man seine Anfrage endlich doch deponieren, bekommt man die tröstende Auskunft: „Ein Mitarbeiter wird sich innerhalb von zwei Werktagen bei Ihnen melden.“ Zwei, drei, vier Werktage vergehen, aber kein Mitarbeiter meldet sich, kein Mensch mit Hirn und Herz mischt sich in die Diktatur der Automaten. Die Kommunikation funktioniert noch um Klassen schlechter als zwischen Tom Lehrers liebenden Menschen. Genauer: sie funktioniert gar nicht. Nie werden wir erfahren, ob der Automat die Nachricht überhaupt registriert, ober er sie an einen „Mitarbeiter“ weitergegeben hat.

Orwells 1984 war ein Idyll. Die menschenfreie Automatenwelt, die wir betreten haben und in der aufzugehen wir im Begriff sind, ist im Vergleich dazu die Hölle. Sollen wir sie beklagen wie Lehrers Figuren im Theater und im wirklichen Leben ihre Kommunikationsschwierigkeiten? Wird nichts nützen. „Falscher Benutzername oder falsches Passwort.“

Thomas Rothschild - 30. August 2021
2736

Der Unterschied zwischen Müller und Müller

Ich bin beeindruckt. Gerd Müller, der am Sonntag gestorben ist, hat in der Bundesliga 365 Treffer gelandet, so viele, wie das Jahr Tage hat. Für die DFB-Auswahl erzielte er in 62 Spielen 68 Tore. Wuschi!

Übertroffen wird er allerdings von Werner Müller, der am gleichen Tag das Zeitliche gesegnet hat, wie man den Tod so schön umschreibt. Er hat als Müllmann in seinen 51 Arbeitsjahren etwas mehr als 6 Millionen Mülltonnen geleert. Irgendwie wurde vergessen, das in den Schlagzeilen der Zeitungen und den Meldungen der Rundfunkanstalten zu erwähnen. Sein Rekord ist unkommentiert geblieben, jedenfalls jenseits der Stammkneipe, in der er und seine Kollegen sich zum abendlichen Bier trafen. Dabei könnte man ja zur Not ohne Gerd Müllers Tore leben. Ungeleerte Mülltonnen vor dem Haus hingegen würden einem sehr schnell stinken, im wörtlichen Sinne.

Unsere Welt ist ungerecht. Es gibt so viele Müllers, aber nur wenige werden beachtet. Weil sie Tore schießen, beispielsweise, statt Mülltonnen zu leeren, Kanäle zu reinigen oder Lebensmittel über den Scanner im Supermarkt zu ziehen – wie oft, wer zählt schon mit?

Fußball ist, je nach Quelle, die schönste oder die wichtigste Nebensache der Welt. Der Satz wird viel zitiert. Für eine Nebensache freilich, ob schön oder wichtig, wird ihm erstaunlich viel Aufmerksamkeit zuteil. Deutlich mehr als den Mülleimern von Werner Müller.

Es gibt außer dem Spruch von der Nebensache unzählige Aphorismen über den Fußball, zumindest ebenso viele, wie Gerd Müller Tore geschossen hat. Einer lautet: „Der Fußball ist einer der am weitesten verbreiteten religiösen Aberglauben unserer Zeit. Er ist heute das wirkliche Opium des Volkes.“ Er stammt von Umberto Eco. Und Dieter Hildebrandt, dieses Schandmaul, lästerte gar: „Der Fußballfanatismus ist eine europäische und sogar weltumspannende Geisteskrankheit.“ Da freilich verbietet sich jeder Vergleich. Einen Mülltonnenfanatismus gibt es nicht.


Thomas Rothschild - 17. August 2021
2735

Pirandello und die Experten der Wirklichkeit

Er ist noch nicht ganz von den deutschen Spielplänen verschwunden, aber Inszenierungen seiner Stücke sind rar geworden: einer der bühnenwirksamsten und geistreichsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Luigi Pirandello. An seinem Flirt mit Mussolini kann das nicht liegen. Anderen, auf und hinter der Bühne, hat man ihre mehr oder weniger ausgeprägte Neigung zu den Faschismen unterschiedlicher nationaler Färbung längst verziehen, wenn man sie überhaupt je als Makel empfand. Die Ursache für das Abhandenkommen Pirandellos dürfte anderswo liegen, im Bereich der Theatergeschichte eher als dem der politischen Geschichte: Er steht im diametralen Gegensatz zu den meist freien Gruppen, die heute den Ton angeben. Sie beschwören das Tatsächliche, die Expertise der Wirklichkeit, und misstrauen der Fiktion, dem Artifiziellen, all dem, was Kunst von der Tagesschau unterscheidet.

Weil diese Gegenwartsapologeten so nah wie nur möglich am Alltag sein wollen, geben sie vor, genau zu wissen, was der Fall ist. Ihre Sprache ist beherrscht vom Indikativ, von der apodiktischen Behauptung, von der Klugscheißerei. Zweifel sind ihnen zuwider. Von Brechts Dialektik des Lobs sowohl des Lernens wie des Zweifels ist bei ihnen, den Engstirnigen, nur die eine Seite hängen geblieben, das „Fang an! Du mußt alles wissen!/ Du mußt die Führung übernehmen“. Pirandello aber ist, genau anders rum, ein Experte der Ungewissheit. Seine Domäne ist die Mehrdeutigkeit. Nichts ist sicher in seinen Dramen, nicht die Identität der Figuren, nicht die Wahrheit ihrer Aussagen, nicht die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung, weder auf der Bühne noch davor. Nichts ist, was es scheint. Così è (se vi pare).

Pirandello steht zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht allein da mit seiner Skepsis. Man findet sie auch, wenngleich in anderer dramatischer Form und mit anderen ideologischen Implikationen, etwa bei Arthur Schnitzler. In welcher literarischer Gestalt aber auch immer: ist die Skepsis nicht die modernere, die den heutigen Gegebenheiten angemessenere Haltung im Vergleich zum selbstbewussten, irritationsfreien Dogma? Haben wir nicht mehr denn je Grund zu der Vermutung, dass die Dinge und die Menschen nicht sind, was sie zu sein vorgeben? „Fake“ ist das Wort der Stunde. Wer wäre sein Dramatiker, wenn nicht Pirandello?

Thomas Rothschild - 16. August 2021
2734

Was gar nicht geht

Es wird zwar in Deutschland noch nicht per Gesetz gefordert, aber immer mehr Stellenausschreibungen geben bei der Spezifizierung der gesuchten Bewerber m/w/d an. Wer „Diverse“ gegenüber Männern und Frauen, wie früher die Frauen gegenüber den Männern, diskriminiert, setzt sich der Gefahr eines Shitstorms oder noch empfindlicherer Sanktionen aus. Das kann man als Fortschritt im Kampf für mehr Gleichberechtigung ansehen. Aber. Aber?

Alexandra Dörrie, Geschäftsführerin der PR-Agentur Another Dimension, gibt auf Anfrage folgende Bewerbungstipps:

„Wir bevorzugen klassische Bewerbungen: ein richtiges Anschreiben, ein gut sortierter Lebenslauf und ein Passfoto, das sich sehen lassen kann. Natürlich hilft eine persönliche Empfehlung auch weiter.
Umgangssprache im Anschreiben oder Privatfotos in den Bewerbungen haben bei uns keine Chance. Wir hatten schon des Öfteren den Fall, dass Leute uns per E-Mail kontaktieren und dann kein richtiges Anschreiben oder ein Foto mitliefern. So etwas geht gar nicht.“


Was sagt ein Foto aus, das für die Besetzung einer Stelle von Belang wäre? Wenn es keine Relevanz besitzt – wofür wird es erwartet? Mit welcher Begründung will man rechtfertigen, dass der Verzicht auf einen Kontakt ohne Foto „gar nicht geht“? Wenn aus dem Foto keine für die Bewerbung maßgebliche Information abgeleitet wird, ist es überflüssig. Wenn es aber für die Entscheidung Bedeutung hat, kommt das einer Diskriminierung derer, m, w oder d, gleich, deren Aussehen nicht den Schönheitsvorstellungen des Personalchefs oder der Personalchefin entspricht. Was, wenn nicht dies, wäre Diskriminierung?

Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland besagt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Der Begriff „Rasse“ wird wohl demnächst aus dem Grundgesetz gestrichen. Ansonsten haben die Experten offenbar an der Formulierung nichts auszusetzen. Wahrscheinlich sind sie der Ansicht, dass es, da sich im Alltag kaum jemand um den Artikel schert und seine Verletzung eh nicht geahndet wird, nicht darauf ankommt. Oder will jemand allen Ernstes behaupten, dass in Deutschland niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt wird?

Der Versuchung, den Artikel 3 beim Wort zu nehmen, beugt unter anderem schon der so genannte Tendenzschutz vor. Er erlaubt es den Medien, Journalisten, deren politische Anschauungen nicht mit der Blattlinie übereinstimmen, zu benachteiligen, genauer: sie zu entlassen oder gar nicht erst zu beschäftigen. Man muss schon sehr naiv sein, wenn man dieser Alltagswirklichkeit mit dem Scheinargument begegnet, die Betroffenen könnten ja nach einer Alternative suchen, und daran glaubt, dass die Möglichkeiten für die öffentliche Verbreitung von politischen Anschauungen gerecht verteilt sei. Wie bemerkte doch Paul Sethe? „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“

Nun erfahren wir, dass nicht nur die Weltanschauung, sondern auch die im Foto dokumentierte Physiognomie darüber entscheidet, ob jemand eine Stelle bekommt oder nicht. Denn ohne Foto geht es gar nicht.


Thomas Rothschild - 8. August 2021
2733

Kannitverstan

Hotelportale sind ein Spiegel unserer Gesellschaft. Da beklagt sich ein Tourist aus Freiburg über „Seminargäste (das Haus bezeichnet sich ausdrücklich auch als Tagungshotel), die auch im Muscle-Shirt, kurzen Cargo-Hosen und Birkenstocksandalen die Scene beim Abendessen zusätzlich bereichern.“ Ein Leipziger beschwert sich, dass sich das Personal in einem tschechischen Hotel nicht in englisch verständlich machen kann. Ein Gast ist verstimmt, weil er nicht gefragt wurde, ob das Essen geschmeckt hat, ein anderer empört sich darüber, dass ihm der Wein nicht nachgeschenkt wurde, einem dritten wurde der Aufenthalt vermiest, weil der Kellner zu wenig devot war.

Was mich betrifft, möchte ich nicht in einer Unterkunft bleiben, in der „bessere Leut'“ oder solche, die wenigstens im Urlaub als solche gelten wollen, logieren, die sich an Birkenstocksandalen, der Zumutung, dass sie ihr Weinglas selber füllen oder einem Kellner, der auch einmal schlechte Laune haben darf, stören. Das Nörgeln scheint zum Ausweis von Vornehmheit geworden zu sein. Die selben Leute, die immer, aber wirklich immer etwas auszusetzen haben und ihre Distinktion durch Sonderwünsche dokumentieren, mit denen sie das Personal quälen, sind außerstande, Gespräche in einer Lautstärke zu führen, die den Nebentisch von der Teilhabe befreit, oder die Liegen am Swimmingpool als Angebot nicht für sie allein zu betrachten. Der Urlaub dient als Freiraum, in dem man Verhaltensweisen an den Tag legt, für die man daheim mit sozialer Ächtung rechnen müsste. Und weil der Urlaub zu ende geht, verlängert man sein Selbstgefühl der Überlegenheit, das ausschließlich auf Selbstüberschätzung beruht, in den Bewertungen der Hotelportale. Gewiss: es gäbe einiges zu kritisieren an der Geschäftspraxis der Tourismusindustrie. Das fehlende Amuse Gueule ist es nicht. Johann Peter Hebels Kannitverstan gelangt durch Missverständnisse zu einer richtigen Erkenntnis. Die Mäkeleien in den Hotelportalen sind ebenso wenig Gründe für die richtige Erkenntnis, dass Hotels verbesserungsbedürftig sind, wie das dämliche Lachen eines Armin Laschet ein Beleg ist für die zutreffende Erkenntnis, dass dieser Mann ungeeignet ist für den Job des Bundeskanzlers.

Thomas Rothschild - 21. Juli 2021
2732

Wohin ist der Klassenkampf verschwunden?

Heute lese ich in den Stuttgarter Nachrichten: „Darum brauchen wir eine neue Nomenklatur, wenn wir unsere sexuelle Orientierung treffend beschreiben wollen. Das ist kein Selbstzweck, sondern kann dabei helfen, Missverständnisse zu vermeiden und einen besseren Umgang miteinander zu pflegen.“

Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Artikel erscheint, eine Talkshow stattfindet, in der über Sprachregelungen zur sexuellen Orientierung, über Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern, die Plausibilität der Unterscheidung von Geschlecht und Gender reflektiert wird. Wann haben Sie zuletzt etwas über den verschleiernden Begriff „Arbeitnehmer“ gelesen? Wo findet sich ein Hashtag mit dem Outing von Menschen, die in die Arbeitslosigkeit gedrängt wurden, weil ihre „Arbeitgeber“ Misswirtschaft betrieben haben? Wo ist die Liste derer, die Werte produzieren, aber im Jahr dramatisch weniger verdienen als ihre vorgesetzten Manager im Monat? Wo stehen die Klagen von Sekretärinnen, die weitaus weniger Gehalt bekommen als Professoren und Professorinnen, die ohne sie aufgeschmissen wären, deren Abwesenheit beträchtlich drastischere Folgen hat als eine „Dienstreise“ ihrer Chef*innen und die nicht selten deutlich intelligenter sind als diese? Wo ist die Rede davon, dass die einen sich die bessere Krankenversorgung und die gediegenere Ausbildung leisten können als die anderen? Wer spricht noch von überhöhten Mieten, die ein Großteil der Bevölkerung nicht bezahlen kann? Wer zählt nach, wie viele Abgeordnete in den Parlamenten, von der CDU, von der FDP, von den Grünen und von einem maßgeblichen Teil der SPD, die Interessen der Unternehmer und wie viele die Interessen ihrer Angestellten verteten? Warum sind Begriffe wie „Ausbeuter“ und „Ausgebeutete“ aus dem Vokabular der veröffentlichten Meinung verschwunden, jedenfalls wenn es um Klassenzugehörigkeit geht?

Es ist nicht abwegig, wenn man zwischen der florierenden Geschlechterdebatte und der Eskamotierung des Klassenkampfes einen Zusammenhang sieht. Die Beliebtheit des Gender-Themas selbst bei jenen, die von ihm wenig zu gewinnen scheinen, verdankt sich genau dieser Tatsache: Es sollte die Wahrnehmung des Unterschieds von Arm und Reich, von Privilegiert und Benachteiligt, von Mächtig und Machtlos zum Verschwinden bringen, und es war und ist damit erfolgreich.

In der Sowjetunion gab es den Witz von dem amerikanischen Besucher, der sich über mangelnde Pünktlichkeit bei der Moskauer Metro beschwerte, worauf ihm sein sowjetischer Begleiter entgegnete: „Und bei euch werden die Neger verfolgt.“

Der Konflikt zwischen der herrschenden Klasse, die die Produktionsmittel kontrolliert, und der Arbeitsklasse, die durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft diese Produktionsmittel bedient, hat sich seit Marx nicht verändert. Die Expropriation der Expropriateure ist eine gerechte, aber bis heute unerfüllte Forderung geblieben. Sie wird im öffentlichen Diskurs nicht mehr erhoben. Warum? Weil es Wichtigeres gibt. Weil wir eine neue Nomenklatur brauchen, wenn wir unsere sexuelle Orientierung treffend beschreiben wollen.

Thomas Rothschild - 18. Juli 2021
2731

Der schlechte Ton

Vor ein paar Wochen titelte der Wiener Standard: „Wie wichtig ist uns Theater?“ Sie erraten es: die Frage ist rhetorisch. Dem Verfasser der Antwort ist Theater sehr wichtig. Kein Wunder. Er ist dem Theater nicht nur als Zuschauer, sondern auch als gut honorierter Mitarbeiter verbunden. Er sagt „uns“ und meint „mir“. Er meint sich selbst, aber er versteckt sich hinter einem Plural.

Zufällig gehöre ich zu dem Kollektiv, für das zu sprechen er vorgibt. Mir ist Theater wichtig. Deshalb lese ich Publikationen und Websites, die sich mit Theater beschäftigen, und weder Sportzeitschriften noch Klatschblätter. Und so stoße ich naturgemäß auf unzählige Klagen darüber, wie sehr das dem Coronavirus zum Opfer gefallene Theater fehlt. Was mich allerdings von dem Autor unterscheidet, der verkündet, was „uns“ wichtig ist, ist das Bewusstsein, dass ich mit meinen Vorlieben zu einer unmaßgeblichen Minderheit gehöre. Mir ist klar, dass es sehr viel mehr Menschen gibt, denen Fußball, Gummibärchen, Stundenhotels und vielleicht sogar Gottesdienste wichtig sind, und ich weiß, dass uns der Standard beredt von dieser Wichtigkeit überzeugen könnte, wenn ein Pfarrer oder ein Zuhälter anstelle eines Theaterliebhabers den Artikel geschrieben hätte.

Mehr noch: Es ist ein Vielfaches an Menschen, denen eine warme Mahlzeit am Tag, der Schutz vor Kriegen und Terror, genügend Medikamente gegen Seuchen und Krankheiten wichtiger sind als das Theater. Wir, die wir zu den Privilegierten gehören, die jammern dürfen, wenn die Bühnen ein paar Monate zusperren müssen, sollten uns in der realistischen Einschätzung der Dimensionen von Unglück und in Bescheidenheit üben. Wir werden Sympathie und Unterstützung von der Mehrheit der Bevölkerung, die sich unter anderem in den Kommentaren zum erwähnten Standard-Lamento Luft machte, nur gewinnen können, wenn wir uns selbst weniger wichtig nehmen und unsere partikulären Interessen nicht als allgemeine ausgeben.

Heute habe ich den Medien entnommen, was den Menschen über das Theaterpublikum hinaus tatsächlich wichtig ist und sie zu massenhaften Reaktionen provoziert: der Ton bei der Fernsehübertragung eines EM-Spiels. Es soll uns eine Lehre sein. Jedenfalls mir.

Thomas Rothschild - 12. Juni 2021 (2)
2730

Treppenwitz der Geschichte

Aus der Tschechischen Republik erreicht uns eine aktuelle Meldung:

„In Tschechien bahnt sich eine historische Wende bei der Namensgebung an. Das Abgeordnetenhaus in Prag stimmte am Mittwoch einer Gesetzesnovelle zu, welche Frauen die freie Wahl der männlichen oder weiblichen Form des Nachnamens ermöglicht. Bisher müssen Frauen – wie auch in anderen slawischen Sprachen – einen Familiennamen mit der weiblichen Endung ‚-ova‘ tragen. Wenn der Mann Novak heißt, dann tragen seine Frau und Töchter den Namen Novakova. Doch das könnte sich bald ändern: Für die Änderung stimmten 91 Abgeordnete; dagegen waren 33. Die zweite Kammer des Parlaments, der Senat, muss dem noch zustimmen.“

Sehen wir einmal davon ab, dass die dpa oder die Zeitungsredaktion entweder über keine diakritischen Zeichen verfügen oder zu unbedarft sind, sie anzuwenden. Die weibliche Endung mit dem langen a schreibt sich á, und Frau Novak war in Tschechien bisher eine Nováková. Der Treppenwitz dieser Meldung besteht darin, dass nun Frauen in Tschechien jenes sprachliche und schriftliche Signal abgeben können sollen, das sie als Frauen „sichtbar“ macht. Früher trugen in vielen Kulturen Frauen sogar den Vornamen ihres Ehemanns. So weit geht man in Tschechien nicht. Aber nach Jahren der verbissenen und anhaltenden Kämpfe um ein unterscheidendes I, * oder / im deutschsprachigen Raum sollen unsere Nachbarinnen auf jenes Differenzierungsmerkmal verzichten dürfen, das ihnen seit je zustand.

Zugegeben: sie werden nicht dazu gezwungen. Sie haben die freie Wahl. Dann aber kommen wir alle in Verlegenheit. Was wollen uns die Frauen von Petr und Pavel Novák mitteilen, wenn die eine Novák und die andere Nováková heißt? Dass sie ihren Gatten inniger oder weniger innig lieben? Dass sie eher dem Feminismus oder der Wahlfreiheit vertrauen? Oder wollen sie sich einfach über jene Deutsch*innen lustig machen, die unterstellen, die Sichtbarkeit und die Emanzipation der Frauen ließe sich durch ein I, ein * oder ein / garantieren. Vielleicht konzentrieren sich Frau Novák und Frau Nováková ja darauf, endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu erkämpfen. Es wäre an der Zeit. Das wäre tatsächlich eine historische Wende, in Tschechien und in Deutschland. Mit und ohne Akzent über dem a.

Thomas Rothschild - 3. Juni 2021
2729

Citizen Kretschmann

In dem Film Citizen Kane kauft der Eigentümer des Inquirer die gesamte Redaktionsmannschaft des konkurrierenden Chronicle ein. Sein Freund Jedediah Leland stellt dem Kollegen Bernstein eine rhetorische Frage: „Do we stand for the same things the ‚Chronicle‘ stands for, Bernstein?“ Bernstein antwortet: „Certainly not. Listen, Mr. Kane, he'll have them changed to his kind of newspapermen in a week!“ Darauf Leland: „There's always a chance, of course, that they'll change Mr. Kane, without his knowing it.“

In Baden-Württemberg hat man vor Jahren – es scheint wie eine Ewigkeit – die Grünen zur stärksten politischen Kraft und mit ihr Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten gewählt. Den Wahlsieg verdankten sie damals dem Widerstand gegen Stuttgart 21. Das ist längst vergessen. Der Slogan von einst – Wir bleiben oben – ist ein leeres Versprechen geblieben. Vom Stuttgarter Bahnhof steht nur noch ein Fragment, drum herum haben sich die Spekulanten breit gemacht, und eine Tunnellandschaft bahnt der Bahn einen Weg: unten. Der Popularität von Kretschmann hat es nicht geschadet. Er kann tun und lassen, was er will, das Wahlvolk zuckt nur mit der Schulter, wenn er dem bekannten Ausspruch Konrad Adenauers folgt: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern!“

Wie ein Jungverliebter gab Kretschmann flugs dem Werben einer CDU nach, der man manches nachsagen kann, aber gewiss keine grünen Neigungen oder eine Abwehr von Stuttgart 21, das sie schließlich eingefädelt hat. Jetzt hat ausgerechnet Hans-Ulrich Rülke, der Vorsitzende der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, die bislang nicht durch eine besondere Nähe zu den Grünen aufgefallen ist, Kretschmann für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht. Wer ist da weiser geworden? Die FDP oder Winfried Kretschmann?

„Stehen wir für die selben Dinge, für die die FDP steht, Trittin, Ströbele, Baerbock?“ „Gewiss nicht. Hören Sie zu, Herr Kretschmann, er wird sie innerhalb einer Woche zu Politikern seiner Art verändert haben.“ „Es gibt freilich immer eine Möglichkeit, dass sie Herrn Kretschmann verändern werden, ohne dass er es merkt.“

Thomas Rothschild - 1. Juni 2021
2728

Wie es sich fügt

„Der österreichische Nobelpreisträger Peter Handke ist in diesem Frühjahr von seiner Wahlheimat Paris nach Serbien gefahren und hat dort in Freundschaft und Ehrungen geschwelgt. Dreierlei nahm der 79-jährige Autor entgegen, einmal den Ivo-Andrić-Preis (benannt nach dem jugoslawischen Diplomaten und ebenfalls mit dem Nobelpreis gekrönten Schriftsteller), den ‚Orden des Karadjordje-Sterns der ersten Stufe‘ und dann noch den höchsten Orden der Republika Srpska. Das ist jener Teil Bosnien-Herzegowinas, der nach dem Jugoslawien-Krieg durch ethnische ‚Säuberungen‘ nahezu ‚rein‘ serbisch wurde und es, durch völkisch-nationalistische Politik, in weiten Teilen auch geblieben ist.
Handke teilt diesen Preis mit den schriftstellernden Kriegsverbrechern Ratko Mladić und Radovan Karadžić, beide zu lebenslanger Haft verurteilt, sowie dem serbischen Rechtsradikalen Vojislav Šešelj. Auch mit einem Denkmal zu seinen Ehren ließ der Dichter sich würdigen, eine traditionelle Darstellung des Dichters mit allerdings übergroßem Kopf.“
(Elke Schmitter auf Spiegel Online vom 21.05.2021)

Träger des Verdienstordens der Italienischen Republik (Auswahl): Willy Brandt, Ralf Dahrendorf, Hans Filbinger, Hans-Dietrich Genscher, Hans Globke, Kurt Georg Kiesinger, Henry Kissinger, Helmut Kohl, Norbert Lammert, Angela Merkel, Richard Nixon, Franz Josef Strauß, Wolfgang Thierse, Franjo Tuđman, Lech Wałęsa.

Elke Schmitter nennt ihre Kritik an Handke eine "Einordnung". Zur Einordnung der Träger des Verdienstordens der Italienischen Republik empfiehlt sich ein exemplarischer Besuch bei den Einträgen zu Franjo Tuđman oder Hans Globke, um sich zu vergewissern, mit wem Willy Brandt, Ralf Dahrendorf oder Angela Merkel ihn teilen. Manchmal hat man Pech mit seinen Nachbarn. Wenn es sich so fügt.

Thomas Rothschild – 26. Mai 2021
2727

Wofür man Verständnis zeigt

Der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici hat kürzlich erklärt: „Ohne Burgtheater wäre es finster um uns.“ Ob sich der Mitarbeiter der derart gepriesenen Institution nicht als befangen betrachten müsste, ist wohl Geschmackssache. In Österreich ist man da nicht zimperlich. In der Sache allerdings wäre eine Gedächtnisauffrischung hilfreich. Denn das Burgtheater hat eine längere Geschichte. In den Nachkriegsjahren vor Peymann und Benning war das Burgtheater ein Ort standesbewusster Dünkel, einer antiaufklärerischen Klassikerpflege und eines drögen Deklamationstheaters, das allenfalls von der Pariser Comédie-Française an Verstaubtheit übertroffen wurde. Es war über Jahrzehnte hinweg ein Ort der Sinnlichkeitsverweigerung und der Intellektfeindlichkeit, das sich zum Theater etwa eines Jan Grossman im benachbarten Prag verhielt wie Eugen Roth zu Allen Ginsberg. Wenn es irgendwo in Wien finster war, dann in dem nach den Beschädigungen durch den Krieg wiedereröffneten Kulturpalast am Ring. Es war in jenen Jahren vor allem Conny Hannes Meyer, der den durch maßgebliche Kritiker von den Bühnen ferngehaltenen Brecht studiert und mit seinen „Komödianten“ auf diese Hochburg des Bildungshochmuts reagiert hat.

Die Heroen der Stunde waren damals neben dem omnipräsenten Ewald Balser Werner Krauß, Rosa Albach-Retty, Paula Wessely, Paul und Attila Hörbiger, Fred Hennings, Viktor de Kowa. Für deren von Hitler und Goebbels gelobte und dekorierte Beiträge zur nationalsozialistischen Propaganda hat man nach 1945 auffallend mehr Nachsicht gezeigt hat als heute für die angeblichen oder tatsächlichen sexuellen Entgleisungen eines Klaus Dörr.

Es ist schon bemerkenswert, mit welchem Verständnis man Theaterleuten und anderen Künstlern begegnet, die sich dem Nationalsozialismus, nicht nur in Österreich, bereitwillig zur Verfügung gestellt haben, die ohne Widerspruch zusahen, als ihre jüdischen Kolleginnen und Kollegen entlassen, ins Exil gejagt oder ermordet wurden, und wie streng geurteilt wird, wenn jemand eines Vergehens verdächtigt wird, das mit Sexualität zu tun hat. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht etwa Gewalt, sondern „sexuelle Gewalt“ verteufelt wird. Wer sein Kind halb zu Tode prügelt, kann sich auf erzieherische Maßnahmen berufen. „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.“ Wer ihm aufs Geschlecht greift, muss mit der Hölle rechnen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: jede und jeder ist vor Gewalt, also auch vor sexueller Gewalt zu schützen. Kurios ist bloß, wie effizient die Gewalt verdrängt wurde, denen jene ausgesetzt waren, zu deren Ausgrenzung und Vernichtung Filme und Theaterstücke aufriefen, an denen Schauspielerinnen und Schauspieler beteiligt waren, darunter auch viele aus dem Burgtheater, ohne das es angeblich drumherum finster wäre.

Ein Klaus Dörr aber ist über Nacht zur Unperson geworden. Kann jemand sagen, wo er abgeblieben ist? Es gibt ihn nicht, und es darf ihn nie gegeben haben. So gnädig wie mit Werner Krauß oder Paula Wessely, die auf Hitlers Gottbegnadeten-Liste standen, wird mit ihm nicht umgegangen. Damit die Maßstäbe gewahrt bleiben. Innerhalb des Burgtheaters und in der umgebenden Finsternis.

Thomas Rothschild - 19. Mai 2021
2726

Mal andersrum

Die Häufung von alarmierenden Vorgängen haben das Thema der Willkür an den Theatern aufs Tapet gebracht. Schaupieler*innen, Regisseur*innen, Dramaturg*innen beklagen sich, spät aber doch, weil sich niemand für sie einsetzt, wenn ihre Verträge nicht verlängert werden und sie sich über Nacht ohne Engagements finden. Sie fühlen sich im Stich gelassen, mit gutem Grund, vom Publikum, von der Politik und insbesondere von jenen, die für die Herstellung von Öffentlichkeit zuständig sind: von den Medien.

Machtmissbrauch ist, wie der Fall Shermin Langhoff jüngst exemplarisch belegt hat, kein Privileg alter weißer Männer, und er ist nicht auf die Institution Theater beschränkt. Er ist überall dort anzutreffen, wo Abhängigkeiten bestehen: an den Schulen und Hochschulen, in den Redaktionen, an den Arbeitsplätzen. Wo Macht in den Händen Einzelner geballt ist, wird sie auch – nicht immer, aber gelegentlich – missbraucht. Und das beginnt nicht erst mit sexueller Belästigung.

Im Zuge der ökonomischen Probleme haben die Zeitungen und Rundfunkanstalten ihre so genannten „freien Mitarbeiter“ abgebaut. Da sie nie fest angestellt waren, braucht man ihnen nicht zu kündigen. Es gibt da nichts zu verlängern. Sie bekommen einfach keine Aufträge mehr. Und niemand fragt danach, wo sie abgeblieben sind, jene Kritiker und Berichterstatter, deren Beiträge man gestern noch regelmäßig lesen oder hören konnte, deren Namen man kannte. Alle gestorben? Oder von sich aus gegangen?

Nach und nach sind sie verschwunden, spurlos und unkommentiert. Ein Fall von vielen: Als die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten, später auch noch die traditionsreiche Esslinger Zeitung de facto fusioniert wurden, um seither nur noch zum Schein als eigenständige Printmedien zu überdauern, wurden sukzessive die Mitarbeiter eingespart, die zuvor aus Theater, Oper und Pop berichtet hatten. Früher haben, beispielsweise, sechs bis acht Mitarbeiter der Tageszeitungen im Stuttgarter Raum über Tanz und Ballett geschrieben. Heute hat sich die Redakteurin das Monopol gesichert und muss nur noch mit ihren Redaktionskolleg*innen, von denen einige so ehrgeizig wie sie und andere zu ihrem Glück faul sind, um den knappen Platz wetteifern. Ermutigt wird sie von einer Chefredaktion, die die fest Angestellten auffordert, selbst mehr zu schreiben und keine (zu honorierenden) Aufträge zu erteilen. Schon zuvor war die Zeitschrift der Kulturgemeinschaft, der Stuttgarter Besucherorganisation in der Tradition der Volksbühnen, mit ihren ausführlichen Besprechungen und Essays zu einem Ankündigungsorgan reduziert worden.

Und die Theater? Sie schweigen vernehmlich. Ein Protest, auch nur eine Nachfrage nach den verschwundenen Kritikern bleibt aus. Nicht zuletzt, weil man es sich, Machtmissbrauch hin oder her, nicht mit jenen verderben will, die geblieben sind. Sie haben schließlich eine, wenn auch begrenzte, Macht über jene, die sie kritisieren oder auch ignorieren. Die Mächtigen machen es unter sich aus.

Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wenn die Theaterleute hinnehmen, dass die freien Mitarbeiter in die Wüste geschickt werden, wenn sie gegenüber dem Machtmissbrauch in den Medien keinen unüberhörbaren Widerstand leisten, werden ihnen jene abhanden kommen, die sich für ihre Agenda stark machen und nicht nur für populistische Bestätigung des ohnehin Gängigen und gedankenlose Homestorys. Wir sitzen im gleichen Boot.

Thomas Rothschild - 9. Mai 2021
2725

Coach

Alle paar Jahre kommt ein Begriff in Umlauf und mit ihm ein Beruf. Seit ein paar Jahren gehören der Begriff des „Coaching“ dazu und mit ihm der Beruf des „Coaches“. Er hat den Platz des Psychotherapeuten eingenommen, mit dem nicht unwesentlichen Unterschied, dass die Berufsbezeichnung nicht geschützt ist. Jeder Scharlatan, jeder Hochstapler, jeder Betrüger kann sich Coach nennen. Trotzdem haben die Coaches in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens rasanten Zulauf. Vor einem Jahrhundert hat man sich über die Amerikaner mokiert, die wegen jedes Wehwehchens zum Psychiater oder zum Psychoanalytiker liefen wie einst brave Katholiken zur Beichte, die in Panik verfielen, wenn „ihr“ Analytiker mal indisponiert war. Heute erhoffen sich mitten in Europa immer mehr physisch und psychisch Überforderte von einem Coach jene Hilfe, die man in früheren Zeiten von der Oma oder einem guten Freund bekam, kostenlos. Die Coaches lachen sich ins Fäustchen. Ohne eine nennenswerte Ausbildung, für die Erteilung von meist lächerlichen Ratschlägen, die hinter jenen der lange Zeit aufgesuchten und verfolgten Kräuterhexen weit zurückbleiben, kassieren sie bis zu 1.000 Euro für die Stunde. Auch das im Grunde triviale englische Wort „Coach“ soll dem Pseudoberuf eine Aura verleihen, den das deutsche Wort „Begleiter“ nicht besitzt.

Man könnte darüber lachen. Ganz so unbedenklich freilich ist diese Entwicklung nicht. Da ist zunächst der ökonomische Faktor. Die Kosten für das Coaching werden weitergegeben, mit den Preisen für die Produkte und die Leistungen, die die gecoachten Frauen und Männer feilbieten. Wir alle bezahlen den Bluff. Schlimmer aber noch ist die Auswirkung auf die öffentliche Wahrnehmung. Da Coaching und Coaches existieren, glauben viele, es müsse etwas dran sein an diesem Voodoo, wie sie einst (und zum Teil heute noch) an Teufelsaustreiber glaubten, an Wünschelrutengänger, an Schuldnerberater und an Kulturmanager.

Wir leben in einer Zeit der abnehmenden Vernunft, des zunehmenden Aberglaubens, von dem die Hochstapler auf Kosten der Leichtgläubigen profitieren. Man könnte das Coaching ja unter der Kategorie harmloser Eulenspiegeleien abbuchen. Aber so harmlos ist es nicht. So lange irgendwer das Coaching als willkommene Leistung akzeptiert und direkt oder indirekt dafür bezahlt – indem er selbst einen Coach in Anspruch nimmt oder jemandem Kredit gewährt, weil er einen Coach vorweisen kann –, gehört das Coaching in die gleiche Kategorie wie eine medizinische Behandlung ohne medizinische Ausbildung oder das Eheversprechen einer verheirateten Person. Im letzten Fall spricht man von einem Heiratsschwindler. Vielleicht wäre die angemessene Bezeichnung für einen Coach: Beratungsschwindler. Und seine Opfer? Es drängt sich der Verdacht auf, dass die zunehmende Inanspruchnahme des Coaching beweist, was es angeblich bekämpfen will: dass unsere Gesellschaft immer meschuggener wird.

Treffen sich zwei Psychoanalytiker. Klagt der eine auf die Frage, wie es ihm gehe: „Ach, unser Beruf ist so deprimierend. Ständig hört man traurige Geschichten. Der eine Klient hat Minderwertigkeitskomplexe, der andere kommt mit seiner Familie nicht zurecht, der dritte will sich umbringen.“ Darauf der andere: „Wer hört schon zu, wer hört schon zu…“

Und was sagt ein Coach zum anderen?

Thomas Rothschild - 28. April 2021
2724

Dichterische Fantasie

Wenn Ihrem Club ein Mitglied durch Tod abhanden gekommen ist und Sie nicht recht wissen, wie Sie das an die Öffentlichkeit vermitteln sollen, können Sie sich dieses Textbausteins bedienen:

„Es erreicht uns die traurige Nachricht, dass unser langjähriges Mitglied (xxx) am (xxx) verstorben ist.
Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.“


Er ist eine Spende des PEN Zentrums Deutschland. Da die Altersstruktur des Vereins derart beschaffen ist, dass sich die Nachrufe häufen, findet niemand die Zeit, geschweige denn die Kompetenz und die Empathie, Worte zu entdecken, die dem jeweils Betrauerten angemessen und halbwegs glaubwürdig sind. Über Phrasen kommt man da nicht hinaus. Die schöpferische Beziehung des Dichtervereinsvorstands zur Sprache beschränkt sich darauf, gegebenenfalls die männlichen Pronomina durch weibliche zu ersetzen.

Seien wir ehrlich: Nirgends wird so sehr geheuchelt wie in Nachrufen. Das „de mortuis nilnisi bene“ ist eine unverblümte Aufforderung zur Lüge. Würde man diese Auswüchse rühmender Rhetorik wenigstens zu einem Zeitpunkt formulieren, zu dem sich der derart Gepriesene noch darüber freuen kann. So aber sind sie nicht mehr als ein Akt der Pietät, an den zu glauben einige Überwindung kostet. Besonders krass wird das Misstrauen gegenüber der institutionalisierten Heuchelei, wenn man weiß, wie der Tote, der sich nicht mehr wehren kann, über jene gedacht hat, die jetzt damit drohen, ihm „ein ehrendes Andenken bewahren“ zu wollen.

Die Glaubwürdigkeit wird durch eine versteinerte Sprache der Formeln endgültig torpediert. Da wird ein Pflichtprogramm absolviert. Die Phrasen entlarven die Pharisäer. Dass die Nachricht, die sie erreicht hat, „traurig“ sei, wird man ihnen abnehmen können, wenn sie wenigstens ab und zu zugäben, dass sie eine Todesnachricht gleichgültig belassen oder gar mit Freude erfüllt habe. Und dass sie jemandem „ein ehrendes Andenken bewahren“, soll als überprüfbare Aussage gelten, wenn sie benennen können, worin die Ehrung besteht, und beschwören, dass sie nach drei Monaten noch wissen, wie der Vorname dessen lautete, dessen Andenken sie bewahren wollten.

Ach, diese Scheinheiligern. Ach, diese armselige Sprache, die sie verrät.

Thomas Rothschild - 21. April 2021
2723

Sprachlich ausgeschlossen

Die Stuttgarter Nachrichten titeln mit einer Behauptung, die eine Antwort auf eine nie gestellte Frage suggeriert: Warum wir das Stuttgarter Frühlingsfest vermissen.

„Eigentlich würde an diesem Samstag das Stuttgarter Frühlingsfest beginnen. Wegen der Coronapandemie fällt es zum zweiten Mal aus. Warum wir es vermissen.
Tausende Menschen aus aller Herren Länder tanzen eng nebeneinander auf Bierbänken, das viel zu teure Bier fließt in Strömen und auf der Bühne wird der neuste Partyschlager gespielt, von dem man auch noch nach drei Maß Bier den Text im Kopf hat – das alles sind Szenen, die wir uns heute nur noch schwer vorstellen können. Zum zweiten Mal in Folge musste das Frühlingsfest auf dem Cannstatter Wasen abgesagt werden und wir müssen zugeben: Es fehlt uns.

Wir vermissen den Geruch von frischen Crêpes und Zuckerwatte, die Fahrt mit dem Riesenrad und auch ein bisschen die leidige Diskussion über Trachten, die so gar nichts mit der Tradition des Wasens zu tun haben. In unserer Bildergalerie haben wir ein paar Dinge zusammengefasst, die uns in den kommenden Wochen fehlen werden.“


Spricht hier das majestätische Wir des Autors Johannes Volz? Wohl nicht. Er meint uns alle, sich selbst an erster Stelle und dann alle Leser. Ich komme ins Grübeln. Weder vermisse ich das Stuttgarter Frühlingsfest, noch muss ich irgendetwas, geschweige denn, dass mir das Frühlingsfest fehle, zugeben. Weder vermisse ich den neusten Partyschlager, von dem man auch noch nach drei Maß Bier den Text im Kopf hat, noch den Geruch von frischen Crêpes und Zuckerwatte.

Einmal mehr fühle ich mich sprachlich ausgeschlossen wie bei dem Titel Deutschland trauert, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft ein WM-Spiel verliert, und ich kann beschwören, dass ich jede Menge Menschen kenne, die sich weder mit einem Wir identifizieren, das das Stuttgarter Frühlingsfest vermisst, noch mit einem Deutschland, das trauert, wenn Italiener besser Fußball spielen als Deutsche. Sie werden von den Stuttgarter Nachrichten in Geiselhaft genommen. Es ereilt uns allen, denen das Stuttgarter Frühlingsfest mitsamt dem Geruch von Zuckerwatte nicht mehr bedeutet als ein zugesperrtes Gasthaus an der nächsten Ecke, das Schicksal, das Feministinnen den Opfern des generischen Maskulinums zuschreibt: dass es all jene „unsichtbar macht“, die nicht zu der prädestinierten Gruppe – den Männern, den Frühlingsfestimmunen – gehören. Nur: warum ist das so? Warum wird diese Tatsache nicht kommentiert und skandalisiert wie ein „man“, bei dem auch Frauen „mitgemeint“ sind?

Weil das „Wir“ der Stuttgarter Nachrichten kein Versehen ist, sondern ein Ausdruck eines zunehmenden Populismus. Die Zeitung und ihr Autor rechnen mit einer Mehrheit, die tatsächlich das Frühlingsfest vermisst, wie sie ein verlorenes Fußballspiel betrauert. Sie biedern sich an und beschwören eine geschlossene Volks-, Frühlingsfest-und-Zuckerwatte-Begeisterten- oder Fußballfangemeinschaft. Wer nicht dazu gehört, existiert nicht, weder grammatisch, noch in der Berichterstattung. Oder dürfen wir demnächst mit dem Titel rechnen: "Warum wir weder den Lärm, noch das Verkehrschaos am Cannstatter Wasen vermissen“?

Thomas Rothschild – 17. April 2021
2722

Der Surrealist

Der Surrealismus gilt als „schwer verständlich“ und erfreut sich doch, zumindest in seiner Ausprägung als Malerei oder Grafik, großer Beliebtheit, auch beim kunstgeschichtlich ungebildeten Publikum. Ob Magritte oder Dali, Man Ray oder Max Ernst: Ausstellungen, die ihnen gewidmet sind, haben massenhaft Zulauf, und Reproduktionen ihrer Bilder finden als Kalender, Poster oder Postkarten reißenden Absatz. Gerade was die Interpretation erschwert – die Nicht-Übereinstimmung mit der Alltagsrealität, das Nebeneinander von nicht Zusammengehörigem, die Störung logischer Konventionen – wirkt zugleich komisch, amüsiert und regt die Vorstellungskraft an.

Max Ernst zählt mit Gewissheit zu den vielfältigsten und originellsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Die Spuren, die er hinterlassen hat, sind unübersehbar – bei Raoul Tranchirer alias Ror Wolf ebenso wie etwa bei der Wiener Schule des Phantastischen Realismus, bei Edward Gorey oder in Kostümen Achim Freyers.

Der Versuchung, das Surreale mit der Logik des Traums in Verbindung zu bringen, hat Max Ernst selbst Vorschub geleistet, etwa wenn er seinen zweiten Collageromane von 1930 Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel, zu deutsch Das Karmelienmädchen - Ein Traum nennt. Und es ist historisch auch wahr, dass die Surrealisten von der Psychoanalyse und deren Interesse für Träume beeinflusst waren. Aber in ihrer Häufung machen Max Ernsts Arbeiten doch deutlich, dass es sich nicht um eine mimetische Abbildung wirklicher oder denkbarer Träume handelt, sondern um die Umsetzung eines ästhetischen Prinzips, das, allein der Kunst verantwortlich, zum Traum lediglich Analogien aufweist, wie es die realistische Kunst zur Erfahrungswelt des Wachzustands oder die ungegenständliche Kunst zu Strukturen des mikroskopischen Bereichs tut. Fast wirkt der Hinweis auf den Traum wie ein Tröstungsversuch für jene, die sich mit der Autonomie der Kunst nicht abfinden mögen. Es bedarf keiner Bezugnahme zum Unbewussten, um die groteske Schönheit von Max Ernsts Vogelmenschen zu goutieren, die ja längst ebenso zum Fundus malerischer Figuren zählen wie mittelalterliche Dämonen oder barocke Engel. Im System der Kunst sind sie nicht weniger real als eine Obstschüssel oder eine Vase.

So ist es auch kein „Verrat“ an den surrealistischen Grundsätzen, wenn Max Ernst sich in manchen Arbeiten vom Gegenständlichen verabschiedet und ganz der minimalistischen Konstellation von Formen und Farben widmet – etwa in seinen Radierungen zu Gedichten Hölderlins aus dem Jahr 1961.

Ob der habituelle Verweis auf angebliche Verwandtschaften bei Filmregisseuren wie David Lynch und Alfred Hitchcock besonders zielführend ist, sei dahingestellt. Irgendwie verkommen solche Anbiederungen zum modischen Ritual. Wenn David Lynch mehr und mehr zum Allerweltsmaßstab und auch zum Vergleich herangezogen wird, wo von Edward Hopper die Rede ist, fragt man sich doch, was Hopper und Max Ernst eigentlich gemeinsam haben.

Heute vor 45 Jahren ist Max Ernst gestorben, morgen jährt sich sein Geburtstag zum 130. Mal.


Thomas Rothschild – 1. April 2021
2721

Das Ende des Genres

Der Film hat von seiner Geburt Ende des 19. Jahrhunderts an, schon in seinen mehr als 30 stummen Jahren, Genres herausgebildet. Zu den frühesten gehörte der Western, aber auch der Gangsterfilm konnte sich sehr schnell als Genre etablieren. Nicht auf Innovation kam es in erster Linie an, sondern auf die Virtuosität bei der Durchführung eines vorgegebenen Schemas, wie das in den anderen Künsten bis weit ins 18. Jahrhundert gang und gäbe war.

Der Genrefilm konnte sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts behaupten. Stets aufs Neue stellte er eine Herausforderung für Regisseure dar. Als sich das Ende des Westerns bereits ankündigte, sprach man vom Spätwestern. Manche Genres kamen hinzu, manche, wie etwa der Kriegsfilm oder der Katastrophenfilm, auch das Filmmusical standen nur für kurze Zeit im Vordergrund, andere, wie der Porno, überlebten im Verborgenen.

Heute existieren die Filmgenres, kaum als solche erkennbar, allenfalls in Überresten. Die Logik der Konsumgesellschaft verlangt immerfort Neues, Originelles. So wie der früher fast obligatorische Establishing Shot durch die eröffnende Detailaufnahme ersetzt wurde, die Ort und Art der Handlung offen lässt und eine Überraschung verspricht, so ist das Genre mehr oder weniger verschwunden. Mit dem Western ist auch der Western-Fan verschütt gegangen, der den Gang von John Wayne nachahmen konnte oder den Slang des typischen Bösewichts.

Mit den Genres freilich, und das ist fast noch bedauerlicher, ist auch ihr humoristisches Gegenstück verloren gegangen: die Parodie. Sie verlangt, um verstanden zu werden, ein vertrautes, allgemein bekanntes Muster. Wo es keinen Western mehr gibt, kann es auch keine Parodien geben wie Destry Rides Again, 4 for Texas oder Cat Ballou, wo der Gangsterfilm nicht geläufig ist, können auch Parodien wie The Ladykillers, Ocean's Eleven, Charade oder Robin and the 7 Hoods nicht funktionieren – allesamt Highlights des komischen Films.

Wer derlei bedauert, wird als rückwärtsgewandt und vergreist bespöttelt. Meinetwegen. Aber man nenne mir den Ersatz für die Verluste. Die Digitalisierung? Die Tricks aus dem Computer? Wie hätte man im Western gesagt? Scheiß drauf.

Thomas Rothschild - 17. März 2021
2719

Jenseits des Genderns

Was Angela Merkel und Olaf Scholz zum Weltfrauentag zu sagen vergessen haben:

„Soll die Frau volle gesellschaftliche Gleichberechtigung mit dem Manne erhalten - in Wahrheit und in der Tat und nicht bloß mit toten Gesetzestexten auf geduldigem Papier -, soll sie wie der Manne freie Entwicklungs- und Auswirkungsmöglichkeit für ganzes Menschentum gewinnen, so müssen zwei Hauptbedingungen erfüllt werden: Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist aufzuheben und durch das Gesellschaftseigentum zu ersetzen; die Tätigkeit der Frau ist der gesellschaftlichen Gütererzeugung in einer ausbeutungs- und knechtschaftslosen Ordnung einzugliedern. Nur die Verwirklichung dieser beiden Bedingungen schließt es aus, dass die Frau entweder als Weib und Mutter in der Familie in wirtschaftliche Abhängigkeit vom Manne gerät oder aber infolge des Klassengegensatzes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten als Proletarierin und Berufstätige im Betrieb unter die wirtschaftliche Knechtschaft und Ausbeutung durch den Kapitalisten fällt, dass durch einseitige, übersteigerte Anforderungen, sei es der Hauswirtschaft und Mutterschaft, sei es der Berufstätigkeit, wertvollste Kräfte und Gaben verkümmern und eine harmonische Vereinigung beider Pflichtkreise unmöglich gemacht wird. Nur die Verwirklichung dieser beiden Bedingungen verbürgt es, dass die Frau mit allseitig entwickelten Fähigkeiten und Kräften als gleichverpflichtet und gleichberechtigt Arbeitende, Schaffende in einer Gemeinschaft gleichverpflichtet und gleichberechtigt Arbeitender und Schaffender wirkt und dass Berufstätigkeit und Mutterschaft sich zum Ringe vollen Auslebens zusammenschließen.

Die Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung erweisen sich als ohnmächtig, der Gesamtheit der Frauen volles Recht und volles Menschentum zu gewährleisten. Gewiss kommt ihrer Durchsetzung die nicht zu unterschätzende grundsätzliche Bedeutung zu, dass die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat das alte Vorurteil von der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechtes offiziell auslöschen und mit der Gleichberechtigung des Weibes seine soziale Gleichwertigkeit anerkennen. Allein, in der Praxis läuft die Verwirklichung frauenrechtlerischer Forderungen in der Hauptsache darauf hinaus, die kapitalistische Ordnung zugunsten der Frauen und Töchter der besitzenden Klasse zu reformieren, während die ungeheure Mehrzahl der Proletarierinnen, die Frauen des schaffenden Volkes, nach wie vor als Unfreie und Ausgebeutete der Verkümmerung und der Missachtung ihres Menschentums, ihrer Rechte und Interessen preisgegeben sind.

Solange der Kapitalismus fortbesteht, bedeutet das Recht der Frau auf freie Verfügung über ihr Vermögen und ihre Person die letzte Stufe der Emanzipation des Besitzes und erweiterte Ausbeutungsmöglichkeiten der Proletarierinnen durch die Kapitalisten. Das Recht der Frau auf gleiche Bildung und Berufstätigkeit mit dem Manne läuft darauf hinaus, den Frauen der Besitzenden die so genannten höheren Berufsgebiete zu erschließen, damit den Grundsatz der kapitalistischen Konkurrenz auch hier zu unbeschränkten Geltung zu bringen und den wirtschaftlichen wie sozialen Gegensatz zwischen den Geschlechtern zu verschärfen. Sogar die wichtigste und weit tragendste der frauenrechtlerischen Forderungen - die der vollen politischen Gleichberechtigung der Geschlechter, insbesondere die der Zuerkennung des aktiven und passiven Wahlrechts - ist durchaus unzulänglich, den Frauen der Nichts- und Wenigbesitzenden in Wirklichkeit ganzes Recht und volle Freiheit sicherzustellen.

Denn bei dem Fortbestand des Kapitalismus ist das Wahlrecht nur zur Verwirklichung der lediglich formalen politischen, bürgerlichen Demokratie da, es besagt keineswegs tatsächliche wirtschaftliche, proletarische Demokratie. Das allgemeine, gleiche, geheime, direkte, aktive und passive Wahlrecht für alle Erwachsenen bedeutet nur die letzte Entwicklungsstufe der bürgerlichen Demokratie und wird zur Grundlage und zum Deckmantel für die vollkommenste politische Form der Klassenherrschaft der Besitzenden und Ausbeutenden. Diese Klassenherrschaft verschärft sich aber in der jetzigen Periode des Imperialismus, der revolutionären gesellschaftlichen Entwicklung - dem demokratischen Wahlrecht zum Trotz - zur gewaltigsten, brutalsten Klassendiktatur gegen die Besitzlosen und Ausgebeuteten. Dieses Wahlrecht hebt nicht das Privateigentum an den Produktionsmitteln auf und damit auch nicht den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat, es beseitigt mithin auch nicht die Ursache der wirtschaftlichen Abhängigkeit und Ausbeutung der ungeheuren Mehrzahl von Frauen und Männern durch die Minderheit der besitzenden Frauen und Männer. Es verhüllt nur diese Abhängigkeit und Ausbeutung durch den trügerischen Schleier der politischen Gleichberechtigung. Auch die volle politische Gleichberechtigung kann daher für die Proletarierinnen nicht etwa das Endziel ihrer Bewegung, ihres Kampfes sein. Für sie kommt der Besitz des Wahlrechtes und der Wählbarkeit nur als ein Mittel unter anderen Mitteln in Betracht, sich zu sammeln und zu schulen für Arbeit und Kampf zur Aufrichtung einer Gesellschaftsordnung, die erlöst ist von der Herrschaft des Privateigentums über die Menschen und die daher nach der Aufhebung des Klassengegensatzes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten die Gesellschaftsordnung freier, gleichberechtigter und gleichverpflichteter Arbeitender sein kann.“


(Quelle: Auszug aus einem Artikel von Clara Zetkin in Die Kommunistische Internationale, 1920/21, Nr. 15, S. 530-555)


Clara Zetkin, Kommunistin und Initiatorin des Weltfrauentags, 1920.


Thomas Rothschild – 8. März 2021
2718

Richards Erben

Der größte Schurke der Weltliteratur dürfte wohl Richard III. sein. Er scheut keine Verbrechen, um sein Ziel zu erreichen: König von England zu werden. Aber er ist auch ein Meister der Heuchelei. Um seinen innigsten Wunsch nicht aussprechen zu müssen, lässt er den Herzog von Buckingham den Bürgermeister von London und „das Volk“ dazu verführen, dass sie ihm den Königsthron aufdrängen. Mit der Bibel in der Hand – dem Inbegriff des Pharisäertums – erwidert er auf deren Bitten (in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel):

„Dankwert ist Eure Liebe; doch mein Wert,
Verdienstlos, scheut Eu'r allzuhoch Begehren.
Erst, wäre jede Hind'rung weggeräumt
Und wär' geebnet meine Bahn zum Thron,
Als heimgefallnem Rechte der Geburt:
Dennoch, so groß ist meine Geistesarmut,
So mächtig und so vielfach meine Mängel,
Dass ich mich eh' verbürge vor der Hoheit,
Als Kahn, der keine mächt'ge See verträgt,
Eh' ich von meiner Hoheit mich verbergen,
Von meines Ruhmes Dampf ersticken ließe.
Doch, Gott sei Dank! es tut nicht not um mich;
Und wär's, tät' vieles not mir, Euch zu helfen.
Der königliche Baum ließ Frucht uns nach,
Die, durch der Zeiten leisen Gang gereift,
Wohl zieren wird den Sitz der Majestät,
Und des Regierung uns gewiss beglückt.
Auf ihn leg' ich, was Ihr mir auferlegt,
Das Recht und Erbteil seiner guten Sterne,
Was Gott verhüte, dass ich's ihm entrisse.

(...)
Ach, warum diese Sorgen auf mich laden?
Ich tauge nicht für Rang und Majestät.
Ich bitt' euch, legt es mir nicht übel aus:
Ich kann und will euch nicht willfährig sein.“


Es gilt als abgemacht, dass Shakespeare von den Freiheiten der Literatur Gebrauch gemacht und sich Übertreibungen geleistet habe, die von der Wirklichkeit nicht eingeholt werden könnten. Ist das so?

Man sehe sich unsere Zeitgenossen an, die nach Herrschaft streben. Von Trump bis Putin, von Lukaschenka bis Orbán: sie machen sich gar nicht erst die Mühe, sich bitten zu lassen und so zu tun, als seien sie für das höchste Amt unfähig oder unwürdig. Sie nominieren sich ohne Wenn und Aber selbst und krönen sich mit den modernen Insignien der Macht. Sogar auf den Posten eines Wirtschaftsministers will ein Friedrich Merz nicht warten, bis ihn jemand dafür vorschlägt. Er bringt sich unverblümt selbst ins Gespräch. Und damit sie freie Hand haben, sorgen die potentiellen Autokraten mit Immunisierungen und maßgeschneiderte Gesetzen dafür, dass ihnen, sollte mit ihrer Herrschaft etwas schief gehen, für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Eben erst hat uns Nicolas Sarkozy vorgemacht, wie man im schlimmsten Fall Hausarrest bekommt, das Homeoffice, das von uns normal Sterblichen zurzeit erwartet wird, auch wenn wir uns nichts zuschulden haben kommen lassen.

Da kann man Richard III. fast ins Herz schließen dafür, dass er sich wenigstens die Mühe macht, sich zu verstellen. Gemessen an der selbstherrlichen Schamlosigkeit heutiger Aufsteiger kann man ihm fast Anstand attestieren. Na ja. Ein Schurke ist er trotzdem. Und wie soll man jene nennen, die aus ihren Ambitionen keine Mördergrube machen? Literatur und Leben: ein immer wieder lehrreiches Kapitel.

Thomas Rothschild – 4. März 2021
2717

Kult

In einem Verzeichnis der „besten ausländischen Restaurants“ in Deutschland ist von „Robert Mondavis Kultwein“ die Rede. Dabei bleibt es aber nicht. Ein Wiesbadener Asienrestaurant wird als „schicke Kultadresse“ ausgewiesen. Und von der Küche eines Frankfurter Vietnamrestaurants heißt es ebenso wie vom „tellerfüllenden Wiener Schnitzel mit Kartoffel-Gurken-Salat“ eines Hamburger Lokals, sie seien „kultverdächtig“ oder „fast schon kultverdächtig“. Fast? Verdächtig oder nichtverdächtig? Wie ist etwas fast verdächtig?

Aber um Genauigkeit, gar Schönheit der Sprache scheint es hier nicht zu gehen, wo nur die Schönheit der Schnitzel zählt. Die Sprache der Restaurantkritik ist ohnedies durch keine Satire zu überbieten. Das Wort „Kult“ kommt bekanntlich aus dem Bereich der Religion. Für den säkularen Bereich wurde es zunächst in Bezug auf den Film inflationiert. Casablanca, The Rocky Horror Picture Show, Blade Runner – so unterschiedlich diese Filme sind: da sie ihre Fangemeinde haben, figurieren sie als „Kultfilme“. „Kultverdächtig“ wäre somit etwas oder jemand, das oder der im Verdacht steht, es oder er könnte von vielen verehrt werden. Analog ließe sich von einem Menschen oder einem Bauwerk sagen, er oder es sei „bewunderungsverdächtig“, oder von der Gastronomiekritik, sie sei „stilblütenverdächtig“.

So weit sind wir noch nicht. Vorläufig müssen wir uns mit dem kultverdächtigen Wiener Schnitzel mit Kartoffel-Gurken-Salat begnügen.


Thomas Rothschild – 24. Februar 2021
2716

Der Normalfall

Der Spiegel gibt sich empört:

„Weltweit warten Menschen auf ihre Impfungen. Wer zuerst drankommt, entscheidet sich in der Regel danach, wie alt oder krank man ist, welchem Infektionsrisiko man ausgesetzt ist, ob man im Medizinbereich arbeitet oder nicht. Wie viel Geld jemand auf den Tisch legen kann für eine Impfung, ist – bisher – kein Kriterium.
Doch schon länger wird vor einem sogenannten Impftourismus und erkauften Sonderregeln für Superreiche gewarnt. Der Gefahr also, dass sich Leute den Zugang zu Impfdosen erkaufen und so die Warteschlange überholen. Dass nicht die zuerst drankommen, für die eine Coronainfektion besonders gefährlich wäre, sondern die mit den dicksten Brieftaschen.“


Ist es Heuchelei oder gar der dreiste Versuch einer Ablenkung von der Realität? Was das Nachrichtenmagazin da meldet, ist in der Tat schamlos. Nur eins ist es nicht: eine Nachricht. Es ist die Normalität.

Auf kaum einem Gebiet, vielleicht das Bildungswesen ausgenommen, ist die Ungleichheit so eklatant, die Brieftasche so ausschlaggebend wie auf dem der medizinischen Versorgung. Eine Mehrheit der Menschen auf dieser Erde hat gar keine Chance, die Hilfe eines Arztes und erforderlicher Medikamente zu bekommen, die für Reiche in den reichen Ländern selbstverständlich sind. Selbst in den reichsten Ländern dieser Welt, etwa in den USA, können sich große Teile der Bevölkerung die allernötigste medizinische Versorgung nicht leisten, während die Wohlhabenden mit einer geradezu luxuriösen Behandlung rechnen (!) dürfen.

Und bei uns, in Deutschland? Wer nicht das nötige Kleingeld hat – und das sind nicht wenige –, muss mit einem bescheidenen Zahnersatz ebenso auskommen wie ohne Brille oder Kontaktlinsen. Wer Geld hat, wird vom Chefarzt behandelt und im Krankenhaus in Einzelzimmern untergebracht. Viele Leistungen, etwa für Kuren, sind stark eingeschränkt im Vergleich zu den Angeboten für die Patienten mit den dicken Brieftaschen. Die dürfen Jahr für Jahr in Luxussanatorien Urlaub machen. Ob sie wirklich krank sind oder nicht. Schon Gstanzln aus dem alten Wien resignierten: „Wer a Geld hat, der reist ins Bad in Summa, / Und wer kans hat, schwimmt im Waschtrog uma; / Mir is’s alles ans, mir is’s alles ans, ob i a Geld hab’ oder kans.“

Wie so oft tut Der Spiegel in einem wahrscheinlich statistisch nicht relevanten Fall, eben des Impftourismus, als wäre er ein Robin Hood der Benachteiligten. Nur um darüber hinweg zu täuschen, was man jeden Tag beobachten und im globalen Maßstab wissen kann: dass die Ungleichheit die Grundlage unserer Gesellschaft ist. Das ist kein Unfall. Es ist gewollt wie der Profit von Reiseveranstaltern, die einen inkludierten Impftermin außer der Reihe anbieten. Für jene, die bezahlen können.

Und Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Großbritannien hatte einst mit seinem National Health Service ein vorbildliches und erstaunlich soziales Gesundheitssystem. Margret Thatcher begann damit, es abzubauen, und andere Staaten haben es ihr nachgemacht. Unter dem Damoklesschwert eines angeblichen Sozialismus siegen Sozialdarwinismus und das Recht des (finanziell) Stärkeren. Nicht erst seit Corona.

Thomas Rothschild - 13. Februar 2021
2715

Die Ewigheutigen

Man nennt sie, je nach Standpunkt, Konvertiten, Renegaten oder Häretiker. Die einst, während der 68er-Revolte, oder, schlimmer noch, im Glauben an den Kommunismus zu jenen gehörte, die den Mund am weitesten aufrissen und zu den dogmatischsten Vertretern der reinen Lehre gehörten, werden nicht müde, Reue zu bekennen, ihrer biographischen Vergangenheit abzuschwören und sich jenen anzubiedern, die sie einst bekämpft haben, in der Hoffnung auf den Lohn, der manchmal eintrifft, manchmal auch ausbleibt. Jene aber, denen sie mangelnde Lernfähigkeit attestieren, weil sie, durchaus selbstkritisch, weiterhin der Ansicht sind, dass die bestehende nicht die beste aller denkbaren Welten ist, die den Kapitalismus nach wie vor für inhuman und die Sozialdemokratie eines Schröder, eines Blair, eines Mitterand und ihrer Nachfolger für keine taugliche Alternative halten, denunzieren sie als Ewiggestrige.

Das böse Wort macht die Runde. Mit diesem Begriff, mit dem man lange Zeit jene bezeichnete, die nach 1945 dem Nationalsozialismus nachtrauerten, werden nun gleich doppelt jene diffamiert, die sich nicht der verordneten Ansicht anschließen, dass der Sozialismus ein für alle Mal ausgespielt habe.

Sehen wir einmal davon ab, dass der Sozialismus noch nirgends wirklich ausprobiert worden ist. Da, was jeder Sozialist wissen konnte, die Sowjetunion und ihre Kolonialstaaten niemals soziali­stisch waren, können sie jetzt nicht "postsozialistisch", sondern allenfalls präsozialistisch sein. Sehen wir einmal ab von dem Etikettenschwindel, der mit dem Wort Sozialismus betrieben wurde – von den Mächtigen in den angeblich sozialistischen Ländern ebenso wie von deren dezidiertesten Gegnern. Selbst wenn man der Meinung war, die DDR und andere Staaten des Warschauer Pakts seien sozialistisch gewesen, so kann doch die Zulässigkeit einer sozialistischen Utopie nicht abhängig sein von der Existenz eines sozialistischen Staates. Ist derjenige ewiggestrig, der sein Denken nicht der Macht des Faktischen unterordnet? Ist derjenige ewiggestrig, für den die DDR (etwa) über den Tag hinaus, an dem sie zu existieren aufhörte, als sozialistisch – oder eben als nicht sozialistisch – einzuschätzen war und ist? Darf für Sozialisten nicht gelten, was man Christen trotz Kreuzzügen und Inquisition, was man Sozialdemokraten trotz der Zustimmung der SPD zu den Kriegsanleihen im Jahr 1914, die maßgeblich für den Ersten Weltkrieg mitverantwortlich waren, trotz dem „freudigen Ja“ des späteren Bundespräsidenten Karl Renner zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, was man Grünen trotz halsbrecherischen Kompromissen mit umweltfeindlichen Projekten zum Erwerb und zur Erhaltung von politischer Macht zubilligt?

Zum Kotzen sind doch in Wahrheit die Ewigheutigen, die Konjunkturisten, die ihre Ansichten nach der Tagesmode ausrichten. Zum Kotzen sind die Ewigheutigen, für die der Sozialismus denkbar (sei es begrüßenswert, sei es bekämpfenswert) war, bloß weil es eine DDR gab, und die flugs in die Sprachregelung einstimmten, wonach die Freie Marktwirtschaft die konkurrenzlose Herrschaft nicht nur auf den Märkten, sondern auch in unseren Köpfen anzu­treten habe.

Dabei schrecken die Ewigheutigen vor den merkwürdigsten Volten nicht zurück. Mit dem Eifer von Gesinnungspolizisten schnüffeln sie hinter der angeblich mangelnden Gesinnung von Schriftstellern und Künstlern her, die in der DDR ihre Überlebenskompromisse gemacht haben, um zugleich zu postulieren, Gesinnung habe in der Kunst nichts zu suchen. Sie sind so heutig, dass sie sich in ihrer gerade aktuellen Meinung selbst nicht zurechtfinden. Aber auf Meinungen kommt es auch gar nicht an. Denn das ist die höhere Weisheit des Lobs auf die Gesinnungslosigkeit: dass man ewig heutig ist, wenn man sich auf die Seite der Sieger stellt. Da, in trauter wärmender Nähe zur herrschenden Macht fühlt sich neuer­ dings wohl, was die deutsche Intelligenz repräsentieren möchte. Auch eine Möglichkeit. Eine heutige.

Thomas Rothschild - 26. Januar 2021
2714

Hinweis

Man muss ja nicht um jeden Preis aussprechen, was andere schon besser, genauer und pointierter gesagt haben. So lange freilich Redakteure und feste freie Mitarbeiter in den bezahlenden Medien davon profitieren, werden sie weiterhin daherschwadronieren, als besäßen sie ein Denkvermögen. Nicht das Plagiat ist das Ärgernis, sondern die Geschwätzigkeit, die uns wertvolle Lebenszeit stiehlt. Weil es aber ein Manko wäre, wenn ein wirklich brillanter journalistischer Beitrag einer Autorin, die mir bislang nicht aufgefallen ist und auf deren Text ich nur durch Zufall gestoßen bin, in den Abgründen des Internets verloren ginge, sei heute anstelle einer eigenen Herzensergießung auf einen Link verwiesen. Wer ihn anklickt [s. auf 54books.de], wird es nicht bereuen: Früher einmal hieß es in so einem Fall: „Den Namen wird man sich merken müssen.“ Es wäre schon etwas gewonnen, wenn man den von Christina Dongowski genannten Namen in den Kontext rückte, den sie so treffend charakterisiert. Der folgende Satz jedenfalls hat das Zeug zu einem „Klassiker“ des politischenAphorismus: „Bloß gehört die schlichte Erkenntnis, dass Leute, die freiwillig Nazi-Kunst machen, auch Nazis sind, eben noch immer nicht zu den Basics deutscher Debatten.“


Thomas Rothschild - 16. Januar 2021
2713

Internationale Küche

In Restaurantführern trifft man oft auf eine Kategorie „Internationale Küche“. Das kann nicht mehr sein als ein Verlegenheitsbegriff für all jene Restaurants, die sich in spezifischere Abteilungen – schwäbische, italienische, chinesische, makrobiotische Küche etc. – nicht einordnen lassen. Er kann zweierlei meinen: jene überall in der Welt anzutreffende Einheitsküche, der nationale und regionale Besonderheiten abhanden gekommen sind – also etwa Hamburger, Kebab oder Spaghetti Bolognese –, oder er kann als Oberbegriff die diversen nationalen Küchen (in der Regel: ohne die eigene, hier also ohne die deutsche Küche, wenn es denn eine gibt) vereinen.

In beiden Bedeutungen gehört die internationale Küche längst zum gastronomischen Alltag. Es bedurfte nicht der Globalisierung, um den Big Mac zum Vergleichsmaßstab der Lebenshaltungskosten zu machen. Es gibt ihn eben überall, und er hat überall seine Klientel. Andererseits gehören die Zeiten der Vergangenheit an, als Deutsche, wo sie auch hinkamen, nach Bratwurst und Sauerkraut Ausschau hielten. Mit italienischen, jugoslawischen und chinesischen Restaurants fing es an – vorausgegangen waren Szegediner Gulasch, Serbisches Reisfleisch oder Palatschinken aus der benachbarten österreichischen Monarchie –, und heute ist die Schwellenangst vor fremdartigen Genüssen weitgehend verschwunden. Reisen tun das Ihre, das Angebot an Zutaten und Gewürzen in Spezialläden und auf Märkten ermöglicht auch daheim den Umgang mit exotischen Rezepten. Die Wiedervereinigung hat den alten Bundesländern auf dem Umweg über die DDR die russische Soljanka eingebracht, und die Karriere der Sushi-Lokale, wo noch vor gar nicht langer Zeit roher Fisch als eklig galt, grenzt an ein Wunder.

Wir wollen noch gar nicht so weit gehen zu behaupten, dass die Bekanntschaft mit fremden Küchen die Völkerfreundschaft und damit den Frieden fördere. Man kann auch jemandem auf den Schädel schlagen, dessen Brühe man genießt. Aber sie schmecken einfach gut, die Gerichte, die nach und nach auf deutschem Boden heimisch wurden, die scharfen thailändischen Suppen, die diversen Varianten des Borschtsch aus Russland, Polen und Rumänien, die spanische Paella und das kreolische Jambalaya, die indischen Tandoori-Gerichte, die Somloer Nockerln aus Ungarn und die vorderasiatisch-osteuropäische Halva. Mousaka und Dolmades, Käsefondue und Nasi Goreng stehen schon länger auf dem Speiseplan der Deutschen. Es müssen nicht immer Maultaschen und Linsen mit Saiten und Spätzle sein.

Vielleicht aber bedarf es der heimischen Küche, damit das, was wir nun internationale Küche genannt haben, seinen besonderen Reiz entwickelt. Seinerzeit war schon eine Pizza etwas Besonderes. Heute, da jede Hausfrau mit Balsamico und mit Curry umgeht, als wären es Rapsöl und Salz, sind Gerichte aus fernen und nicht so fernen Ländern nicht exotischer als Sirtaki oder Reggae.

Als sich in den siebziger Jahren auch in Deutschland herumgesprochen hatte, dass Essen mehr sein könne als Sättigung, da war für die deutschen Spitzenköche die französische Küche das Vorbild, die, im Gegensatz etwa zur bäuerlichen, vom Nährwert bestimmten italienischen Küche, dem aristokratischen Genuss raffinierten Geschmacks dient. Es waren dann wiederum die Franzosen oder auch André Jaeger von der Fischerzunft in Schaffhausen, die Einflüsse der fernöstlichen Küche aufnahmen und kreativ weiterentwickelt haben. Der Begriff „Crossover“ ist auch bei uns längst in der Gastronomie ebenso gebräuchlich wie in der Musik.

Heute reicht der verführerische Geruch von Ćevapčići auf dem Holzkohlengrill oder das im Wok geschüttelte süßsaure Schweinefleisch nicht mehr aus, um die Gelüste nach internationaler Küche zu befriedigen. Da sie omnipräsent ist, fällt sie kaum noch auf. Dass zahlreiche preiswerte Restaurants und die Mehrheit der „Ausspeisungen“ in Sportvereinen oder Waldheimen mittlerweile von Immigranten betrieben werden, verdankt sich weniger der Aufgeschlossenheit bei den Essgewohnheiten als der ökonomischen Lage. Diese Betriebe können nur noch unter den Bedingungen der Selbstausbeutung überleben. Allmählich bekommt deutsche Küche oder was man dafür hält Seltenheitswert, weil sich kaum jemand den anstrengenden und riskanten Verhältnissen in der Gastronomie aussetzen möchte, wenn er nicht unbedingt muss.

„International“ ist kein Qualitätsbegriff. Aber internationale Küche gibt es mittlerweile in exquisiter, den Ansprüchen hoher Kochkunst entsprechender und in miserabler Ausführung. Von Konstanz bis Binz gibt es Restaurants der besten Sorte, die man nicht nur wegen der Atmosphäre besucht (die man freilich wiederum nicht verachten sollte: manche Lokale sind gerade deshalb beliebt und verströmen internationalen Flair nicht allein vom Herd aus).

All dies mag in Zeiten der pandemisch gesperrten Restaurants wie eine Reminiszenz an eine bessere Vergangenheit klingen. Sie wird wiederkehren. Vorläufig aber möchte ich die geschätzte Leserin und den geschätzten Leser nicht ohne eine Kostprobe der delikaten Gault & Millau-Prosa entlassen:

„Die Gerichte im Astra haben schon fast einen asketischen Charakter, sind linear und puristisch. Das Gebotene erinnert an Kompositionen, die man sonst in prämierten Restaurants europäischer Hauptstädte zu finden weiß. Die Menüs tragen eine klare Handschrift und sind Zeugen souveräner Aromen und Lektionen wohl durchdachter kulinarischer Arrangements. Die am Punkt gebratenen Jakobsmuscheln wurden begleitet von leicht gerösteten Romanasalat und Blaubeeren. Verschiedene Texturen von Mais kommen als Gemüse, Chip, gebraten und als Creme auf den Tisch, begleitet von gebratenem Steinbutt. Spätsommer ist Wildzeit und dies wird auch im Astra beherzigt mit Hirschfleisch und – sehr ungewöhnlich – einem eingelegten Eigelb samt Wildkräutern. Einer französischen Tradition entsprechend wird auch eine obligatorische kleine Käsevariation eingeschoben.“ Diese stilistischen Eskapaden sind zwar nicht so linear wie die Gerichte im Astra, aber sie sind, einer Gault Millau-Tradition entsprechend, Zeugen souveräner Gehirnerweichung.

Thomas Rothschild - 15. Januar 2021
2712

Die Schamlosigkeit unter Freunden

Der ORF veröffentlicht seit bald 18 Jahren eine Bestenliste, die das Modell der sehr viel älteren SWR-Bestenliste kopiert. So manche(r) mag sich darüber wundern, dass sich die beiden Listen Monat für Monat so sehr unterscheiden, wieso es kaum zu Überschneidungen kommt. Das Rätsel ist schnell gelöst. Einige von den (österreichischen) Juroren der ORF-Liste nominieren ausschließlich oder bevorzugt österreichische Autorinnen und Autoren. Wenn das gewünscht würde, müsste man die Liste – im Unterschied zur Liste des SWR – Liste der besten Bücher von Österreichern nennen. Das aber ist nicht der Fall. Auf der Homepage steht eindeutig: „Die besten Bücher des Monats“.

Im Januar 2021 ist Die unaufhörliche Wanderung von Karl-Markus Gauß laut ORF-Liste das beste Buch. Besser als Gustave Flaubert und Richard Ford, besser als Ali Smith und Ivo Andrić. Thomas Kling oder Maria Stepanova, die auf der gleichzeitig veröffentlichten Bestenliste des SWR stehen, haben es in Österreich gar nicht erst auf die Liste geschafft. Gibt es dafür benennbare Gründe? Gauß ist ohne Zweifel ein lesenswerter Autor, anerkannt auch in Deutschland, aber der Beste oder auch nur einer der zehn Besten im Vergleich mit den Neuerscheinungen der vergangenen Monate aus aller Welt?

Der Siegername freilich überrascht nicht. Mit beachtlicher Zuverlässigkeit gelangen die Bücher von Karl-Markus Gauß auf die ORF-Bestenliste und klettern bis auf den ersten Platz. Dazu sollte man allerdings wissen: Karl-Markus Gauß ist Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik. Er entscheidet, wer in dieser Zeitschrift publizieren darf, er hat die Macht, zu bestrafen und zu belohnen, und er macht Gebrauch davon. Von den sechs Juroren, die Karl-Markus Gauß aktuell nominiert haben, sind drei regelmäßige Mitarbeiter von Literatur und Kritik, ein vierter leitet eine befreundete Literaturgesellschaft.

Solch eine Nominierung hat das Gschmäckle von Provinzialismus und Nepotismus. Dass Korrumpierbarkeit zum österreichischen Nationalcharakter gehört, weiß man nicht erst, seit ein H.C. Strache nach Ibiza reist. Das Schlimmste ist, dass die Beteiligten noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben. Sie halten vielmehr jene, die Hemmungen haben, für Trottel. Schamlosigkeit ist in Österreich so alltäglich wie der Veltliner und das Wiener Schnitzel. Und so empfiehlt die ORF-Bestenliste nicht die besten Bücher, sondern die ziemlich besten Freunde. Wäre ich Gauß, würde ich mich gegen solche „Gefälligkeit“ verwahren. Aber ich habe Österreich vor 53 Jahren verlassen. Die Gepflogenheiten meiner Heimat sind mir fremd geworden. Die ORF-Bestenliste erinnert mich ein Mal im Monat an sie.

Thomas Rothschild - 8. Januar 2021
2711

Weihnachten

Er gehört zu Weihnachten wie das Amen zum Gebet: Frank Capras Film It's a Wonderful Life (Ist das Leben nicht schön?) von 1946. Er handelt von George Bailey, der vom Selbstmord abgehalten wird durch den Engel Clarence, der ihn davon überzeugt, wie viel Gutes er für andere getan hat.

Das Negativ zu diesem Rührstück liefert ein anderer Weihnachtsklassiker, A Christmas Carol von Charles Dickens. Diese Erzählung handelt von dem verabscheuungswürdigen Geizhals Ebenezer Scrooge, dem Geister vor Augen führen, wie viel Leid er anderen zugefügt hat, und der unter dem Eindruck dieser Visionen der gute Mensch wird, der George Bailey immer schon war.

Dieses Muster ist in der Literatur vor und nach Dickens unzählige Male abgewandelt worden, meist mit dem Subtext, dass Geld nicht nur nicht glücklich, sondern hässlich und böse macht. Zu den bekanntesten Exemplaren gehören die Besserungsstücke von Ferdinand Raimund, Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär und Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Noch Ingmar Bergmans vielleicht bester Film Wilde Erdbeeren variiert dieses Schema und nähert es dem 20. Jahrhundert an, indem er die mahnenden Geister oder Allegorien durch aufklärerische Träume ersetzt.

Was Autoren so oft und so lange umtreibt, müsste doch, so sollte man meinen, Gewicht haben. Das Gegenteil ist der Fall. Die genannten Beispiele und viele mehr beweisen nur die Wirkungslosigkeit der Künste. Hat auch nur ein Mensch unter dem Eindruck von Raimund, Dickens oder Bergman darauf verzichtet, Geld anzuhäufen, und sich stattdessen dem Wohlergehen seiner Mitmenschen verschrieben? Hat die Bosheit durch den Einfluss von Literatur abgenommen? Kennt man jemanden, der sich gesagt hätte, so wie Ebenezer Scrooge, wie Fortunatus Wurzel, wie Herr von Rappelkopf, wie Professor Isak Borg vor ihrer Läuterung waren, möchte ich nicht sein, und auch danach gehandelt hätte?

Zu Weihnachten geben wir unseren sentimentalen Empfindungen nach. Vor dem Fernsehschirm oder beim Vorlesen unter dem Christbaum. Und danach: weiter wie bisher. Wer an die erziehende Wirkung der Künste glaubt, mag sympathisch sein. Auf alle Fälle ist er naiv.

Thomas Rothschild - 18. Dezember 2020
2710

Die Qual der Wahl

"Die Südwest-Grünen küren Winfried Kretschmann mit 91,5 Prozent zu ihrem Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2021. Sollte er erneut gewählt werden, will der Regierungschef den Klimaschutz, die Sicherung des Wohlstands sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt ins Zentrum seiner Arbeit stellen." (StN.de v. 12.12.2020, 11:04)

"Scholz schlug schon einmal seine Eckpfeiler für den Wahlkampf ein: gute Arbeitsplätze, der Kampf gegen den Klimawandel und mehr Respekt in der Gesellschaft. Als weitere Kernthemen nannte er auch die Digitalisierung, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie ein einiges Europa." (tagesschau.de v. 12.12.2020, 14:00)

"Bundeskanzlerin Merkel sichert ärmeren Ländern weitere finanzielle Unterstützung für den Kampf gegen den Klimawandel zu. Alle Staaten müssten notwendige Klimaschutz-Investitionen finanzieren können, sagte die CDU-Politikerin in einer Video-Botschaft für den digitalen UNO-Klimagipfel. Der eigentliche Weltklimagipfel fällt dieses Jahr wegen der Corona-Pandemie aus."(deutschlandfunk.de v. 12.12.2020)


"Die Einigung der Europäischen Union auf ein gemeinsames Klimaziel für 2030 begrüße ich ausdrücklich, denn Klimaschutz gelingt nur gemeinsam. Um das Ziel zu erreichen, den Ausstoß von Treibhausgasen um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu senken, müssen nun alle Mitgliedsstaaten an einem Strang ziehen. Die EU sollte gemeinsam einen Fahrplan vorgeben, wie wir dieses Ziel erreichen. Dabei muss gewährleistet sein, dass die Wirtschaft nicht überfordert wird, sondern ihren Beitrag leisten kann. Baden-Württemberg hat dabei die Stärke einen globalen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten." (Daniel Karrais, der energiepolitische Sprecher der FDP/DVP-Fraktion und Mitglied im Ausschuss für Europa und Internationales; auf fdp-dvp-fraktion.de v. 11.12.2020)

Warum die Grünen die Wahl des Stuttgarter Oberbürgermeisters spektakulär verloren haben? Deshalb. An der Kandidatin hat es nicht gelegen. Und wenn nicht einmal 10 Prozent der Parteitagsdelegierten Einwände haben gegen einen Spitzenkandidaten, dem neben dem Klimaschutz, der einst die exklusive Domäne der Grünen war, nur Sicherung des Wohlstands und gesellschaftlicher Zusammenhalt einfallen, gibt es eigentlich keinen Grund, diese Partei zu wählen. Das können alle Parteien rechts der Mitte – siehe oben – eben so gut.

Thomas Rothschild - 12. Dezember 2020
2709

Das Wunder Digitalisierung

Das Zauberwort heißt „Digitalisierung“. Wer es beschwört, wähnt sich an der Speerspitze des Fortschritts. Jede technische Erfindung ruft die Gläubigen auf den Plan. Ob sie von Nutzen ist, ob sie den Segen der Menschheit befördert, oder ob sie lediglich den Umsatz steigern soll oder gar schädlich ist, wird nicht gefragt. Hauptsache: dabei sein bei der Verbreitung und Durchsetzung und sich möglichst einen öffentlichkeitswirksamen oder einkommensträchtigen Platz sichern. Um nicht missverstanden zu werden: dies ist kein technikfeindliches Plädoyer. Unzählige Erfindungen, von der Eisenbahn bis zur Computertomographie, haben das Leben der Menschen verbessert und erleichtert. Aber das lässt sich nicht verallgemeinern. Es lassen sich jede Menge technischer Neuerungen nennen, die zumindest ambivalent sind oder, im schlimmsten Fall, die Menschen bedrohen. Eine differenzierte Sichtweise freilich verbietet sich jenen, die sich wichtig machen, indem sie als Propheten einer neuen Technik auftreten.

Die Digitalisierung leistet in erster Linie Beschleunigung. Sie setzt fort, was das analoge Fernsehen mit Direktübertragungen in seinen jungen Jahren begonnen hat. Sie beschleunigt und vereinfacht die Verbreitung von Informationen verschiedener Art, von Zahlen, Texten, Bildern. Aber es bedurfte nicht der Digitalisierung, um Börsenkurse an Spekulanten, Wettervorhersagen an Kapitäne oder Selfies (die bloß anders hießen) an die Freunde weiter zu geben. Sie hat den Vorgang bloß weniger aufwendig und für jeden (technischen) Idioten bewältigbar gemacht. Der Fortschritt, den sie gewährt, gleicht dem Fortschritt beim Übergang von der Feder zur Schreibmaschine, von der Filmkamera auf dem Stativ zur Handkamera oder vom Durchschlagpapier zum Fotokopierer.

Zu den Argumenten der Digitalisierungsbefürworter gehört die Behauptung, sie würde die zwei- oder mehrkanalige Kommunikation befördern. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn man früher eine schriftliche Anfrage an eine Behörde oder einen Dienstleister stellte, bekam man im schlimmsten Fall keine Antwort. Heute erhält man in der Regel eine Antwort. Aber sie ist mit einem Tastendruck auf den Computer generiert, vorgefertigt und außerstande, auf die eigentliche Frage einzugehen. Häufig entsteht der Eindruck, dass die Frage gar nicht erst gelesen wurde, sondern ein Stichwort beim Überfliegen zur Wahl der Taste geführt hat. Von Kommunikation keine Spur.

Und wie ist das im speziellen Fall des Theaters? Dort wird der Begriff der „Digitalisierung“ sekundiert durch ein zweites Zauberwort, durch „Streaming“. Es gibt Medien, die für die Leinwand oder den Bildschirm konzipiert sind, nämlich Film und Video. Wenn sich Theater von diesen Medien nicht unterschiede, wäre es überflüssig. Streaming verhält sich sowohl zum lebendigen Theater wie zum Film wie Telefonsex zu lebendigem Sex. Es ist bestenfalls Ersatz. Und wie wirkt sich das auf die angebliche Demokratisierung der Kommunikation aus? Auf einen Stream können Zuschauer, wenn das so eingerichtet wurde, mit Mails oder mit Chatbeiträgen reagieren. Die aber bekommen die eigentlichen Akteure, die Schauspieler, wenn überhaupt, erst im Nachhinein zu sehen. Was einen großen Teil des traditionellen Theatervergnügens ausmacht und es vom Kinobesuch unterscheidet, ist die Spontaneität, mit der die Menschen auf der Bühne auf die Reaktionen der Menschen im Zuschauerraum ihrerseits reagieren können. Von Theaterleuten hört man immer wieder, wie sehr sie, bewusst oder unbewusst, auf leise oder laute Äußerungen aus dem Publikum reagieren. Genau das ist der Grund, weshalb sich eine Inszenierung von Aufführung zu Aufführung unterscheidet.

Die Digitalisierung hat für das Theater die gleiche Bedeutung, die die Erfindung der Drehbühne oder des Mikroports hatte. Ob, was sie an Neuem hervorgebracht haben, die Qualität und die Langlebigkeit von Hamlet, Drei Schwestern oder Warten auf Godot hat, muss erst noch bewiesen werden.

Im Übrigen kann ein Rückblick den Skeptikern der Digitalisierung Mut machen. Just zu einem Zeitpunkt, da die CD dem Streaming das Feld räumt, erlebt die Vinylschallplatte eine Renaissance. Die Zwänge, die uns die gegenwärtige Krise auferlegt, haben den Digitalisierungs-Fans scheinbar Auftrieb gegeben, aber ihren Ansprechpartnern oder vielmehr Mailadressaten auch die Augen geöffnet. Es stellt sich die Frage: Wenn man das potentielle Publikum ans Streaming gewöhnt – was sollte es künftig noch ins Theater locken? Nicht erst das Virus gefährdet eine Kulturtechnik, die ihre Mängel, aber auch ihre Verdienste hat. Ich imaginiere eine Zukunft, in der die Menschen daheim vor ihren Bildschirmen sitzen und ein paar Verrückte klandestine Theateraufführungen von Geheimgesellschaften besuchen. Dort treffen sich dann Peter Stein und Rimini Protokoll wie die Opiumraucher mit den Transvestiten. Brave New World.


Thomas Rothschild - 10. Dezember 2020
2708

Korrektur

Theatergänger und Schauspieler kennen das Phänomen. Das Lob des guten Menschen, allen voran des Gottessohnes Jesus Christus, mag in der Sonntagsmesse seinen Platz haben. Auf der Bühne sind es in der Regel die Schurken, die das Publikum faszinieren (und von den Schauspielern bevorzugt gespielt werden). Von Richard III. bis Puntila, von Mephisto bis zu Jack dem Ripper, von Lady Macbeth bis Claire Zachanassian sind es die Bösewichte beiderlei Geschlechts, die unser voyeuristisches Vergnügen anstacheln, auch wenn wir ihnen im wirklichen Leben ungern begegneten.

Aber es gibt sie auch in der Weltliteratur, die liebenswerten Männer und Frauen, die das Herz erwärmen, ohne dass sie deshalb fade wären. Das verdankt sich in der Regel kleinen Unzulänglichkeiten, mit denen sie ihre Autoren ausgestattet haben und die sie erst richtig menschlich machen. Erinnern wir uns an Samuel Pickwick von Charles Dickens, an den Fürsten Myschkin von Fjodor Dostojewski, an Tatjana Larina von Alexander Puschkin, an Pierre Besuchow und Natascha Rostowa aus Tolstois Krieg und Frieden, an Gorkis und Brechts Pelagea Wlassowa. Sie passen nicht in das Schema von dem tyrannischen Mann und der unterdrückten Frau, denen das gegenwärtige Interesse gehört, als müsste mit jeder Magisterarbeit und jedem Feuilleton nachgewiesen werden, was ja zutrifft, was wir aber auch wissen: dass wir seit Jahrhunderten in einer patriarchalischen Gesellschaft leben. Auch Samuel Pickwick ist von ihr geprägt, aber man täte ihm und Dickens unrecht, wenn man ihn darauf reduzierte. Gerade die Zuneigung zu dieser aimablen und schrulligen Figur ermöglicht das Lächeln über ihre Schwächen, das frei ist von Spott und Bitternis.

In der Gegenwartsliteratur sind solche Männer und Frauen selten geworden. Über ihr lauert, nicht ohne Berechtigung, der Kitschverdacht. Und doch: selbst bei einem Sarkastiker wie Thomas Bernhard findet man liebenswerte (und kauzige) Männer nach dem Vorbild von Glenn Gould oder Paul Wittgenstein, und Erich Hackl ist geradezu abonniert auf bewundernswerte, größtenteils starke Frauen.

Erich Kästners berühmte Gedichtstrophe hat ja nichts von ihrer Gültigkeit verloren:

"Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
´Herr Kästner, wo bleibt das Positive?`
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt."


Aber dieser realistische Blick impliziert kein Verbot von literarischen Figuren, denen unsere Sympathie gehört. Vielleicht benötigen wir sie, die heutigen Pickwicks und Nataschas, gerade, weil wir in den Nachrichten Trump und Orbán verdauen müssen. Als Korrektur. Wenigstens ab und zu.


Thomas Rothschild - 4. Dezember 2020
2707

Kämmerlings, setzen!

In der Welt am Sonntag tönt der Mitarbeiter der Literarischen Welt Richard Kämmerlings: „Isaak Babel wurde zum Whistleblower der Reiterarmee, der Kriegsverbrechen trotz notdürftiger Fiktionalisierungen offenlegt.“ Das ist, freundlich formuliert, schlicht gedacht. Es ist aber darüber hinaus eine niederträchtige Schmähung eines Schriftstellers, den man mit gewissem Recht den bedeutendsten Verfasser von Kurzprosa im 20. Jahrhundert nennen darf. Nichts an Babels Reiterarmee ist „notdürftig“. Was der deutsche Leser auf Grund der früheren Übersetzungen noch übersehen mochte, ist seit Peter Urbans Übertragung auch für ihn zumindest erahnbar: Babel war ein Sprachkünstler, wie es selbst außerhalb Russlands kaum einen zweiten gibt, und was ein Kämmerlings, bei dem man ausnahmsweise bedauert, dass sich Wortspiele mit Eigennamen verbieten, für „notdürftige Fiktionalisierung“ hält, ist Literatur im strengsten Wortsinn. Isaak Babel zum „Whistleblower“ zu reduzieren, als hätte er sich vorgenommen, mit seinen Geschichten die Welt aufzurütteln, gleicht dem dreisten Versuch, Tolstoj als Kriegskorrespondenten oder Kämmerlings als Literaturkritiker zu kategorisieren. Babels Reiterarmee zeichnet sich gerade durch ihre Ambiguität aus, durch einen Stil, der den Autor von einem Snowden oder Assange, wie immer man zu ihnen stehen mag, nicht weniger unterscheidet als der Verstand einen tatsächlichen Literaturkritiker wie, sagen wir, Heinrich Vormweg von einem Welt-Schwätzer wie Richard Kämmerlings. Womit wir allerdings nichts Neues entdeckt und verraten haben. Wir können also noch nicht einmal Anspruch auf das Attribut des Whistleblowers erheben.

Thomas Rothschild - 25. November 2020
2706

Der Schmied statt dem Schmiedl

Als die Sowjetunion noch existierte, erzählte man sich einen Witz. Als die Partei mit den ökonomischen Problemen des Landes nicht zurecht kam, empfahl jemand, einen berühmten Rabbiner aufzusuchen und um Rat zu fragen. Also ging eine Delegation des Zentralkomitees zu dem Mann und sagte: „Rebbe, es steht schlecht um unsere Wirtschaft, was sollen wir tun?“ Der Rabbiner antwortete: „Es gibt zwei Lösungen für das Problem, eine natürliche und ein Wunder.“ Da sagten die Genossen: „Wir sind eine atheistische Partei, da kommt nur eine natürliche Lösung in Frage. Wie wäre die?“ „Die sähe so aus“, sagte der Rabbiner. „Das Zentralkomitee setzt sich zusammen, ein Engel steigt vom Himmel herab und erleuchtet die Versammelten.“ „Das ist die natürliche Lösung?“, wunderten sich die Gäste. „Und wie wäre das Wunder?“ „Das Wunder“, sagte der Rebbe, „wäre, wenn das Zentralkomitee selbst eine Lösung fände.“

An diesen Witz musste ich denken, als die Grünen nun beschlossen haben, für die zweite Runde im Wahlgang für den Stuttgarter Oberbürgermeister nach dem Rückzug ihrer Kandidatin Veronika Kienzle keine Empfehlung für den gegen den Willen seiner eigenen Partei angetretenen Sozialdemokraten Marian Schreier abzugeben, der gegen den CDU-Kandidaten Frank Nopper antritt. Nopper hatte im ersten Wahlgang deutlich mehr Stimmen erhalten als alle seine Kontrahenten. Eine Chance hätte einer von ihnen, wenn überhaupt, allenfalls, wenn sich die Gegenstimmen auf einen Alternativkandidaten bündeln ließen. Nun gibt es aber noch Hannes Rockenbauch von der Wählergruppe Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS). Rockenbauch hat sich als Aktivist von Stuttgart 21 einen Namen gemacht und beharrt als einziger der OB-Kandidaten nach wie vor auf der Opposition gegen dieses Mammutvorhaben. Rockenbauch sitzt als Sprecher des Fraktionszusammenschlusses von SÖS, Linken, Piraten und Tierschutzpartei im Stuttgarter Gemeinderat. Er vertritt in fast allen politischen Fragen eine Position, die noch vor wenigen Jahren die Position der Grünen war. Die hätten nun Gelegenheit gehabt, da keine grüne Kandidatin mehr zur Wahl steht, seine Kandidatur zu unterstützen. Das freilich wäre ein Wunder.

Indem Veronika Kienzle und ihre Partei auf eine Empfehlung verzichten, steht so gut wie fest, dass Stuttgart einen CDU-OB bekommt. Dass die Grünen dafür wesentlich die Verantwortung tragen, ist wiederum kein Wunder. Die CDU ist ihnen längst näher als die ökologisch-soziale Gesinnung, die einmal die ihre war. Man muss schon sehr genau hinschauen, um politische Standpunkte zu entdecken, die den grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann und den grünen Noch-OB von Stuttgart Fritz Kuhn von ihren CDU-Vorgängern unterscheiden. Kretschmann rühmt seine Partei schon seit Jahren dafür, dass sie in der Mitte angekommen sei, und plädiert für einen „neuen Konservatismus“, und das eben beschlossene neue Grundsatzprogramm der Grünen weist darauf hin, dass die Partei entschlossen ist, diesen Weg in verstärktem Maß weiter zu gehen. Was also sollte sie, wenn sie schon selbst keine Chancen hat, davon abhalten, einem CDU-Oberbürgermeister gegenüber einem Hannes Rockenbauch den Vorzug zu geben, der sie nur ständig daran erinnern würde, was sie einmal repräsentiert haben, als sie noch wehrlos, aber nicht ehrlos waren?

Die Grünen sind angekommen. Der Igel CDU ist allerdings schon da. Warum sollten die Stuttgarter im ersten Wahlgang den Schmiedl wählen, wenn sie den Schmied haben können? Es wäre ein Wunder.

Thomas Rothschild - 23. November 2020
2705

Und wieder zweierlei Maß

Zur Erinnerung: zahllose Autorinnen und Autoren des Rowohlt Verlags protestierten gegen die Veröffentlichung der Autobiographie von Woody Allen, gegen den Missbrauchsvorwürfe erhoben wurden. Ein paar Monate später: zahllose Autorinnen und Autoren protestieren gegen die Nicht-Veröffentlichung eines Romans von Monika Maron, die einen Essayband im rechtsradikalen Umfeld publiziert und mehrfach Meinungen geäußert hat, die man schwerlich anders als rechtsextrem klassifizieren kann. Kurios ist es jedenfalls, wenn die Teilnahme von rechtsradikalen Verlagen an der Frankfurter Buchmesse getadelt wird, es aber ohne Folgen bleiben soll, wenn man sich als Autor zu ihnen bekennt.

Ja was nun? Es gehört zur Freiheit der Rede und zur Freiheit der Kunst, dass man auch unbequeme und anstößige Ansichten öffentlich äußern kann. Es gehört auch zur Freiheit der Rede und zur Freiheit der Kunst, dass ein Verlag entscheiden kann, was er veröffentlichen möchte und was nicht. Einer Monika Maron stehen tausende Autorinnen und Autoren gegenüber, deren Manuskripte von Verlagen abgelehnt werden und deren Namen wir nie erfahren. Dass Maron zum Stamm von S. Fischer gehört, verpflichtet den Verlag ebenso wenig, ihr bis zum Lebensende die Treue zu bewahren, wie Autorinnen und Autoren zu einer lebenslangen Bindung an einen Verlag verpflichtet sind. Man kennt die Beispiele von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die, kaum dass sie Erfolg hatten, dem Kleinverlag, der sie entdeckt und gefördert hat und angewiesen ist auf Einkünfte aus Büchern von arrivierten Autoren, den Rücken kehren und zu einem kapitalkräftigen Verlag wechseln, der effizientere PR anbieten kann.

Immerhin: es gibt diese Kleinverlage, noch, und es gibt in unseren Breiten eine beachtliche Anzahl von größeren Verlagen. Monika Maron ist das beste Beispiel für die Tatsache, dass eine – zumal etablierte – Schriftstellerin in kürzester Zeit einen anderen Verlag findet, wenn ihr ihr Stammhaus die Zusammenarbeit kündigt. Wenn Hoffmann und Campe jetzt die Vorwürfe zu hören bekommt, die sich S. Fischer ersparen wollte, mögen die Autorinnen und Autoren, die Kommentatorinnen und Kommentatoren in den Medien Gründe zur Verteidigung finden, die mindestens so überzeugend sind wie die Gründe für eine Ablehnung von Woody Allens Autobiographie.

Thomas Rothschild - 15. November 2020
2704

Zugehörig

Der Schriftsteller Arthur Schnitzler schrieb einmal: „Ich fühle mich mit niemandem solidarisch, weil er zufällig derselben Nation, derselben Rasse, derselben Familie angehört wie ich. Es ist ausschließlich meine Sache, mit wem ich mich verwandt zu fühlen wünsche; ich anerkenne keine angeborene Verpflichtung in dieser Frage.“ Dass man selbst entscheidet und sich nicht von seiner Umwelt aufschwätzen lässt, wem man sich zugehörig zu fühlen habe, wäre schon ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem Status quo. Aber gehen wir einen Schritt weiter. Warum muss man sich überhaupt einem Kollektiv zugehörig fühlen? Woher stammt dieser scheinbar unwiderstehliche Drang, sich einer Nation, einer Rasse, einer Familie verwandt zu fühlen? Ist es nicht auch dort, wo man keine Verpflichtung anerkennt und selbst entscheidet, mit wem man sich verwandt zu fühlen wünscht, der gesellschaftliche Druck, der einem solch eine Entscheidung abverlangt?

Der Fortschritt im Sinne der Vernunft und der Aufklärung bestünde darin, dass man sich frei macht von dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, zu wem auch immer, dass man sich vom internalisierten Herdentrieb löst, kurz: dass man auf der Differenz zwischen Menschen und Graugänsen insistiert. Das pädagogische Ziel bestünde darin, schon bei Kindern die Ich-Stärke zu fördern, die Fähigkeit zu „einsamen“ Entscheidungen und das Vertrauen auf die eigene Intelligenz. Dies ist kein Plädoyer für einen Individualismus der Rücksichtslosigkeit. Aber man muss sich nicht als Teil eines Kollektivs verstehen, um die Rechte anderer zu respektieren. Man muss seine Verantwortung nicht delegieren, sich weder eine Parteidisziplin, noch eine geheuchelte Loyalität aufdrängen lassen, um unheilvolle Kontroversen innerhalb der Gemeinschaft zu vermeiden oder auch nur zu verringern. Die Problematik, die zwischen den Weltkriegen brisant war, hat unter anderem Bertolt Brecht bei den Fassungen seines Stücks Mann ist Mann umgetrieben. Wo man sich über die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv definiert, durch seine Nation, seine Rasse, seine Familie oder auch durch seine Anhängerschaft für einen Fußballverein, seine politische Gruppierung, seine Vorliebe für irgendwelche Hobbys, ist die Möglichkeit des Konflikts mit anderen Kollektiven und jenen, die sich ihnen ihrerseits zugehörig fühlen, vorprogrammiert.

Es wäre schon ein Fortschritt, wenn man sich den Wunsch nach Zugehörigkeit als Schwäche eingestände. Leider sind wir noch weit davon entfernt. Wenn jemand die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv mit mehr oder weniger guten Gründen aufkündigt, begibt er sich im Normalfall nicht in die Selbstbestimmung, sondern in eine neue Zugehörigkeit. Das ist das Muster, das der Konvertit und der Renegat vormachen. Er tauscht die eine Glaubensgemeinschaft gegen eine andere aus. Nur selber denken kann und will er nicht. Sein Verhalten taugt nur zur Verlängerung eines Missstandes. Der autobiographische Roman von Arthur Schnitzler trägt den Titel: Der Weg ins Freie. Er ist noch lange nicht beschritten.

Thomas Rothschild - 12. November 2020
2703

Wider den US-Kolonialismus

Noch nie hat sich der Satz von Wim Wenders, dass die Amis unser Unterbewusstsein kolonialisiert haben, so sehr bewahrheitet, wie in unserer Gegenwart. Mit dem Streaming hat sich dieser beklagenswerte Zustand intensiviert. Woche für Woche empfehlen Zeitungen und Zeitschriften als willfährige Kolporteure des Status quo und der Profitinteressen die angeblich „besten Serien“, die man im Programm der Fernsehanstalten aufsuchen oder sich bei Netflix & Co. herunterladen kann. Kritiklos nehmen sie hin, dass neben den meist minderwertigen deutschen Elaboraten – Babylon Berlin ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt – fast ausschließlich Importware aus den USA zur Verfügung steht. Als gäbe es zwischen Tokio und Vancouver, zwischen Johannesburg und Oslo keine Filme und keine Fernsehserien. Das dänische Borgen war auch in dieser Hinsicht die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Man nenne einen einzigen triftigen Grund, weshalb, um ein Beispiel zu nennen, zwei grandiose Literaturverfilmungen des Russen Vladimir Bortko niemals im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, ja nicht einmal für DVD synchronisiert oder deutsch untertitelt wurden: Dostojewskis Idiot von 2003 und Bulgakows Meister und Margarita von 2005. Beide Serien halten sich mit je zehn Episoden von insgesamt rund neun Stunden eng an die sehr unterschiedlichen literarischen Vorlagen, sind aber zugleich filmisch anspruchsvoll und schauspielerisch den deutschen Serien in einem Maße überlegen, das einen Vergleich eigentlich verbietet. Die Romane, die ihnen zugrunde liegen, gelten zu Recht als Meisterwerke der Weltliteratur. Wie sollten die Serien also „zu russisch“ oder gar unverständlich sein, um in Deutschland ein Publikum zu finden? Die Amis haben unser Unterbewusstsein kolonialisiert. Und wenn nun jemand einwendet, er wolle keine Fernsehserien aus dem Land Putins sehen, sei daran erinnert: der Präsident der USA heißt Donald Trump. Jedenfalls bis morgen.

Thomas Rothschild – 2. November 2020
2702

 



 
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