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Kulturspaziergang

Derry /

Nordirland



Protestantische Prozession in Derry am 12. August 2023 | Foto: Zaubi M. Saubert



Als ich am 12. August diesen Jahres Derry erreiche, spüre ich gleich, hier ist heute etwas Besonderes los. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein, das Zentrum war weiträumig abgesperrt. Später, als ich mich der Brücke über den Fluss Foyle näherte, sah ich den Grund. Eine nicht enden wollende Prozession dutzender Kapellen in Galauniformen zog von der Ostseite der Stadt über den Fluss auf die Westseite und wieder zurück, den ganzen Tag lang. Die Straßen waren gesäumt von Menschen, es herrschte Festtagsstimmung. Während ich fotografierte, sprach mich einer in Galauniform an, ich befürchtete Ärger, doch das Gegenteil passierte: „I like your T-Shirt“, strahlte der Mann mich an und zeigte auf mein schwarzes Shirt mit den ineinander gesetzten Buchstaben DK, was für die amerikanische Punk Band Dead Kennedys steht. Ich war platt. Das so ein konservativer Royalist Gefallen an einer doch eher anarchistischen Punk Band fand.


Ein Blick ins Geschichtsbuch klärte mich Neuankömmling über die Hintergründe der Prozession auf. Im August 1698 endete die Belagerung Derrys durch die katholischen Iren. Und dieses Ende der Belagerung feiert die probritische, königstreue protestantische Minderheit noch heute, jedes Jahr. So auch am 12. August 1969. Nach der Ermordung zweier Katholiken durch die irische Polizei einige Tage zuvor war die Stimmung aufgeheizt und entlud sich in dreitägigen schweren Ausschreitungen, die allgemein als Beginn des irischen Bürgerkriegs angesehen werden, der bis 1998 etwa 3.500 Menschen das Leben kosten wird.

Die Ursachen des heutigen Nordirlandkonfliktes reichen weit zurück. Doch spätestens unter dem englischen König Heinrich VIII., der sich 1541 in Dublin vom Parlament zum Irischen König ernennen ließ, hatte sich die britische Krone die Insel endgültig einverleibt. England hielt Irland lange Zeit als Kolonie, siedelte gezielt protestantische royalistische Briten an, um die katholische Bevölkerungsmehrheit auf der Insel zu brechen. Die massive Unterdrückung durch die Briten äußerte sich in Diskriminierungen und purer Apartheid im Alltag, wie getrennte Wohnviertel, Schulen und Busse. Dazu kam die Vorenthaltung von Bürgerrechten, zum Beispiel im Wahlrecht. Wählen durfte nur, wer über Grundbesitz und Geld verfügte, wobei die katholischen Bauern schon lange vorher enteignet wurden. So durften nur fünf Prozent der katholischen Bürger in Irland wählen.

Das Aufbegehren mündete in der Zeit zwischen 1916 und 1923 in den ersten irischen Bürgerkrieg mit etwa 4.000 Toten und der Abspaltung der sechs nördlichen Provinzen vom übrigen Irland. In diesen überwiegend protestantischen Regionen setzte sich die Unterdrückung fort, was in den 1960er Jahren zum zweiten Bürgerkrieg führte. Die Opfer waren überwiegend Zivilisten. Erst 2005 legte die katholische IRA, die gegen die Unterdrückung durch die Krone und die protestantischen Briten kämpft, die Waffen nieder.

Seit dem Brexit wächst die Angst vor einem erneuten Ausbruch des Konfliktes.


Derry, von den Briten Londonderry bezeichnet, ist eine Stadt mit etwa 85.000 Einwohnern, überwiegend Katholiken, die fast direkt auf der Grenze zur Republik Irland liegt. Das Stadtzentrum hat wenig zu bieten. Die Geschäfte sind nicht attraktiv oder geschlossen, alles wirkt heruntergekommen und ärmlich. Gegen den Hunger gibt es fast nur fettige Fish & Chips Buden. Da kann auch ein großes Einkaufszentrum nicht über die Tatsachen hinwegtäuschen.



Die Guildhall in Derry | Foto: Zaubi M. Saubert


Interessant ist ein Spaziergang auf der fast komplett erhaltenen alten Stadtmauer aus grauschwarzem Stein, der einen schönen Blick hinunter in die „Bogside“, die katholische Seite Derrys gewährt und zum Tower mit dem Tower Museum führt. Gleich um die Ecke des Museums liegt das vielleicht schönste Gebäude der Stadt die Guildhall, das Rathaus [s. Foto oben]. 1887 im neugotischen Stil errichtet, besticht es von außen durch seine prächtige Erscheinung, von innen durch seine Buntglasfenster und die schön mit Holz ausgearbeiteten Gänge und Säle.

Gleich in der Nähe thront seit 1633 die protestantische St. Columb’s Cathedral auf einem Hügel über der Stadt. Unten am Fluss verbindet seit 2011 die Peace Bridge die beiden Stadtteile. Diese moderne S-förmige Fußgängerbrücke ist tags wie nachts ein architektonischer Hingucker. Damit sind die klassischen Sehenswürdigkeiten der Stadt Derry bereits abgearbeitet. Bis auf eine.

Die „Bogside“, das traditionelle katholische Arbeiterviertel der Stadt, zieht sich wie ein typischer britischer Reihenhausteppich die Hügel hinauf. Fährt man hinein in dieses Viertel gelangt man automatisch zur geschichtsträchtigen „Free Derry Corner“, wo der Besucher in großen Lettern liest: "YOU ARE NOW ENTERING FREE DERRY". Rund um diese freistehende Mauerscheibe steht das Bloody Sunday Memorial, sowie 13 Bogside Murals, bemalte Fassaden, die die geschichtsträchtigen Ereignisse von damals thematisieren.



Am 30. Januar 1972 fand hier eine friedliche Demonstration von unbewaffneten Katholiken gegen die britische Unterdrückung statt. An diesem Tag griff die britische Armee das erste Mal in den schwelenden Konflikt ein. Britische Fallschirmjäger einer Spezialeinheit eröffneten das Feuer auf die Menschen und töteten dreizehn von ihnen und verletzten weitere dreizehn schwer. Die meisten von ihnen starben durch Kugeln in den Rücken. Dieser schreckliche Tag ist als Bloody Sunday in die Geschichte eingegangen, musikalisch vertont von der Rockband U2 als Sunday Bloody Sunday.

Auf dieser geschichtsträchtigen Straße hatte 1972 das Massaker stattgefunden.


In einem Hof befindet sich heute das Museum of free Derry. Während der Besucher draußen die beiden letzten noch vorhandenen Einschusslöcher sehen kann, läuft es einem drinnen, eiskalt den Rücken runter, wenn man in die schrecklichen Geschehnisse von damals eintaucht.


Seitdem die IRA, die jahrzehntelang bewaffnet gegen die britische Besetzung Nordirlands kämpfte, 2005 ihre Waffen niederlegte, herrscht Frieden. Der politische Arm der IRA, die Sinn Féin, sitzt im Parlament. Doch seit dem Brexit und den Fragen der erneuten Grenzziehung zwischen Nordirland und der Republik Irland, also Großbritanniens und der EU, herrscht große Verunsicherung in der Bevölkerung.


In Belfast sah ich eine Hausfassade, auf der martialisch erscheinende Kämpfer verkünden: "Prepared for peace – Ready for war." Eine klare Ansage der probritischen Loyalisten.



Probritische Hausfassade in Belfast | Foto: Zaubi M. Saubert


Murals in Derry | Foto: Zaubi M. Saubert


Die Wohnviertel in Derry und besonders in Belfast sind streng nach der Religion getrennt. Nur 20 Prozent der Menschen leben in gemischten Vierteln. Man bleibt vielfach noch unter sich. Die protestantischen Viertel sind üppig mit englischen Fahnen und Girlanden geschmückt. Die Krönung von King Charles wird gefeiert, und an den Orten von Bombenanschlägen der IRA werden die Toten geehrt. In den katholischen Stadtteilen wird auf den Murals, den bemalten Hauswänden den Freiheitskämpfern gedacht, die im Kampf für die Unabhängigkeit von England ihr Leben gelassen haben.


Ich suchte diese neue alte politische Grenze zwischen den beiden Teilen Irlands und konnte sie wider Erwarten nicht finden.


Es gibt keinen Schlagbaum, keine Fahnen, nichts, was auf eine Grenze hindeutet. Doch, es gibt einen Hinweis. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung mit dem Zusatz „km/h“. Das ist eindeutig die EU. In Großbritannien gibt es diese Bezeichnung nicht, hier wird alles in Meilen angegeben. Auch wirkt es in der Republik Irland properer und wohlhabender als in Nordirland und in England ganz allgemein.


Die Tatsache der fehlenden haptischen Grenze macht Hoffnung darauf, dass das dünne Eis auf dem sich dieser Frieden befindet nicht wieder bricht.


Zaubi M. Saubert - 25. September 2023
ID 14400
Weitere Infos siehe auch: https://www.derrystrabane.com/


Post an Zaubi M. Saubert

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