Gesalzenes Erbe
Unterwegs in Lüneburg, mit einem Zeitreisenden
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Foto (C) Helga Fitzner
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Wenn ein Zeitreisender aus dem 16. Jahrhundert zu Besuch ins heutige Lüneburg käme, würde er sich wundern: über die Elektrizität, die komischen pferdelosen Kutschen und den fehlenden Geruch menschlicher und tierischer Ausscheidungen. Trotzdem fände er sich in der Stadt weitgehend zurecht, denn Lüneburg wurde nie durch Kriege oder Großbrände zerstört, und deshalb sind die ursprünglich angelegten Straßenzüge weitgehend erhalten. Die Marien- und die Lamberti-Kirche würde er allerdings vergeblich suchen. Und da könnte er fast jeden Lüneburger fragen: Ja, die lagen im „Senkungsgebiet“. Da war nichts mehr zu machen, die mussten abgerissen werden, würde er hören. Mmh. Senkungsgebiet. Was mag das wohl sein? Mittlerweile ist unser Zeitreisender von Schaulustigen umringt, die ihn für einen der kostümierten Stadtführer halten und mit kleinen Platten vor dem Gesicht Lichtblitze in seine Richtung schicken. Außerdem muss er sich vor diesen pferdelosen Großkutschen in Acht nehmen, die sich in mitunter winzigen Abständen zu den Häuserwänden auf mysteriöse Weise ihren Weg durch die engen Gassen bahnen. Ein Mann in kurzen Beinkleidern und mit an den Seiten und am Hinterkopf rasierten Haaren hält die Frage nach dem Senkungsgebiet für ein Ratespiel. „Das hat mit dem Salzabbau zu tun“, sagt er laut in die Runde und schaut auf seine kleine Platte. „Durch das Abpumpen von Sole hat sich der Grundwasserspiegel gesenkt. Ganze Häuserreihen waren betroffen und teilweise nicht mehr bewohnbar.“
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Lüneburg ist nie von Kriegen oder Großbränden zerstört worden. Blick vom Wasserturm | Foto © Helga Fitzner
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Mit dem Salzabbau kennt sich unser Zeitreisender wieder aus. Denn er hat Lüneburg als Salz- und als Hansestadt in der Blütezeit erlebt. Die Salinen, in denen das "weiße Gold" gewonnen wurde, sorgten für beträchtlichen Wohlstand. Salz war über Jahrhunderte das einzige Mittel, um Lebensmittel haltbar zu machen, indem man sie einpökelte. Durch die über 100 christlichen Fastentage im Jahr, in denen kein Fleisch gegessen werden durfte, war der Fischkonsum entsprechend hoch. Lüneburg hatte lange Zeit das Monopol für das kostbare Salz im ganzen norddeutschen Raum inne und erfreute sich durch geschickten Umgang mit den jeweiligen Obrigkeiten lange einer großen Eigenständigkeit. Eine Gruppe kreischender Jungfrauen läuft eilig durch die Gassen. Sie müssen hastig aufgebrochen sein, da sie kaum bekleidet sind und auf lautstarker Suche nach einem Pockenmann. Einem solchen möchte er lieber nicht zu nahe kommen, und zielstrebig geht unser Zeitreisender in Richtung der Salinen weiter. Hier müsste eigentlich die erste Mauer sein, dann der Graben und dann die zweite Mauer. Die waren als Schutz vor Diebstahl und vor Bränden gedacht. Aber heute ist der Durchgang frei. Da wo früher die Salinen waren, steht jetzt das Deutsche Salzmuseum, das sich das Areal mit einem großen Marktgebäude teilt. Da steht alles einzeln verpackt auf Gestellen in einem Labyrinth herum.
Er geht lieber ins Salzmuseum, und da erkennt er wenigstens ein paar Sachen wieder. Zu seiner Zeit hatte es hier sehr viele Siedehütten gegeben, in denen das in Grundwasser gelöste Salz erhitzt und getrocknet wurde. „Unsere Sole“, erklärt eine Museumsführerin, „hatte eine Konzentration von 26 Prozent. Im Vergleich dazu: Meerwasser hat nur 3 bis 4 Prozent. Heute geht Salz zu 80 Prozent an die chemische Industrie zur Herstellung von Chlor, Natrium, Farben, Lacken und Plastik.“ Es wird also kaum noch gepökelt, denkt er sich, den Rest versteht er nicht. Da sieht er das Modell einer Solepumpe, die früher bei Tag und Nacht die Sole durch die ganze Stadt pumpte und damit den Arbeitsprozess beschleunigte. Und nun erfährt er auch, was Senkungsgebiet bedeutet. „Durch die Salzförderung sind Hohlräume entstanden. Dadurch sind Teile der Stadt in knapp 100 Jahren um 3 bis 4 Meter abgesunken“, erklärt die Museumsführerin.
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So sahen die bleiernen Siedepfannen auf ihren Öfen aus | Foto © Helga Fitzner
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Mit Schrecken vernimmt unser Zeitreisender, dass Blei giftig ist. Das war zu seiner Zeit nicht bekannt. Da es das Salz schön weiß machte, wurden damals Siedepfannen aus Blei bevorzugt verwendet. Er erfährt, dass es Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem Niedergang der Hanse kam. Dadurch war der Weg offen für billigeres Atlantiksalz aus Frankreich. Die einst reiche Stadt Lüneburg verarmte, da sie ihren Aufstieg einzig dem Salz verdankt hatte. 1980 wurde die letzte Siedehütte geschlossen. Der Zeitreisende muss die vielen Eindrücke verarbeiten und klettert auf den nahe gelegenen Kalkberg. Dort hat er eine schöne Aussicht auf die Stadt. Ihm fällt ein Turm in der Nähe der St. Johannis-Kirche auf, der ihm fremd ist. Er geht hin, um ihn sich näher zu betrachten.
Erbaut wurde der Wasserturm 1905, um dem steigenden Bedarf der wachsenden Bevölkerung nach Trinkwasser Rechnung zu tragen. Der Wasserbedarf stieg aber so rasant an, dass er schon wenige Jahre später nicht mehr gebraucht wurde, erfährt er. Heute kann man das zweite Stockwerk für Veranstaltungen mieten, was insbesondere für Hochzeiten gerne in Anspruch genommen wird, und von dort aus dem Fenster schauend kann er unten noch eine Braut mit ihrer Hochzeitsgesellschaft sehen, die sich in kleine pferdelose Kutschen zwängen. Auf den Tischen stehen winzige runde Kerzen, die ihn sehr belustigen. Aber das mit dem künstlichen Licht haben die gut gemacht, findet er. Er sieht eine kleine Kammer, deren Tür sich von alleine öffnet und schließt und die wie von unsichtbaren Händen getragen nach oben schwebt. Unser Zeitreisender nimmt die Treppe. In den Ausstellungsräumen auf den verschiedenen Etagen lernt er etwas über das „blaue Gold“ und ist ganz beeindruckt von der Wertschätzung für Wasser, wenngleich ihm Begriffe wie „Spülstopptaste“ und „Wasserhahnaufsätze“ wieder mal sehr fremd vorkommen. Er erreicht schließlich die Aussichtsplattform, und der Anblick berührt ihn. Ja, so ungefähr hat er Lüneburg zu seiner Zeit gekannt. Und es ist eine schöne, eine prächtige Stadt. Allein die vielen verschiedenen Giebel aus mehreren Jahrhunderten und die wunderbare Architektur erwärmen sein Herz. Er hört, dass der Wasserturm im Sommer freitags spät geöffnet ist, damit man den Sonnenuntergang genießen kann. Das gilt auch für Vollmondnächte, in denen auch noch Musik und Geschichten vorgetragen werden.
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Die nachgebauten Salzboote im Lüneburger Hafen | Foto © Helga Fitzner
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Nun aber will er seinen Lieblingsort aufsuchen. Er geht am Flüsschen Ilmenau entlang Richtung Hafen zum Stintmarkt, wo ihm wieder aufgeregte Menschen begegnen. Sie rufen „Rote Rosen“, obwohl keine zu sehen sind und halten sich diese Lichtblitze aussendenden Platten vors Gesicht. „Na, die Telenovela“, erklärt ihm eine Matrone auf sein fragendes Gesicht. Das hilft ihm nicht weiter. Er geht zum Kranhaus, das in voller Schönheit erhalten ist. Von dort hatte er früher immer zugesehen, wie die Waren mit dem Kran in die Boote verladen wurden. Er traut seinen Augen nicht, als er zwei Boote sieht. Die sehen genau so aus wie die, mit denen damals Salz transportiert wurde. Der Hafen ist auch das Kneipenviertel Lüneburgs, und das meiste ist noch erhalten. Ja, jetzt ist er irgendwie doch angekommen. Eine Dame in mittelalterlich anmutendem Gewand spricht ihn an: „Wenn Sie sich für Geschichte interessieren“, sie zeigt auf seine Kleidung, „ dann gehen sie doch ins Museum Lüneburg. Das ist in Richtung St. Johannis-Kirche.“ Bevor er sie fragen kann, ob sie auch eine Zeitreisende ist, biegt sie mit ihrer Gruppe schon um die Ecke. Als er an St. Johannis vorbeikommt, traut er seinen Ohren nicht. Er hört die Klänge einer Orgel aus seiner, der Renaissance-Zeit. Er geht hinein, setzt sich und kann nicht verhindern, dass ihm ein, zwei Tränen herunterkullern, so schön klingt das.
Das Museum Lüneburg liegt direkt um die Ecke und birgt viele unterschiedliche Sammlungen. Im Raum mit den Globen fühlt er sich heimisch. Er sieht historische Weltkarten, wie er sie gekannt hat, wissenschaftliche Instrumente und Beispiele der Kunst des Buchdrucks. Auch das Mobiliar sagt ihm sehr zu. Er sieht, wie ein alter Mann, der ein Gestell auf Rädern vor sich her schiebt, nickend vor einer Vitrine steht. Dort sind Kleidungsstücke und andere Gegenstände zu sehen, auf denen sich gegen „Atomkraft“ ausgesprochen wird. Auch der Name „Gorleben“ taucht auf. „Ich war jahrzehntelang Aktivist“, erklärt der Alte unaufgefordert. Er sei lange fort gewesen, erwidert der Zeitreisende. Ob der Herr ihm denn Atomkraft erklären könne. Der Alte kann, und dem Zeitreisenden schwirrt der Kopf. Aber er versteht so viel, dass da etwas gebaut wurde, ohne dass man sich Gedanken über die Folgen gemacht hatte. Und dass im Salzlager im nahegelegenen Gorleben jetzt etwas Giftiges gelagert wird und die Politik ratlos ist. „Das ist doch wie mit dem Salzabbau, dem Senkungsgebiet und dem giftigen Blei“, überlegt er. „Ja, nur viel, viel schlimmer“, nickt der Alte. „Ich muss los zum Aktivisten-Stammtisch im Seniorenheim“, entschuldigt er sich und schlurft ungebrochenen Geistes von dannen.
Auch für unseren Renaissance-Mann ist die Zeit zum Aufbruch gekommen. Wie magisch zieht es ihn nun zur Ausstellung mit historischen Uhren. Eine davon schlägt drei mal, und beim dritten Schlag ist unser Zeitreisender verschwunden.
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Damit endet unsere Stippvisite in Lüneburg. Wer keine pferdelose Kutsche besitzt, geht zum Bahnhof, von wo aus er einmal in der Woche mit dem historischen Heide-Express nach Bispingen in die Lüneburger Heide kommt. Die ganz Sportlichen können sich beim Fahrradverleih direkt neben dem Bahnhof vom engagierten Personal ein Fahrrad ausleihen, oder man fährt mit der Regionalbahn in die Heide.
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Helga Fitzner - 11. August 2016 ID 9471
Weitere Infos siehe auch: http://www.lueneburg.info/de/
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