PANORAMA
No U-Turn
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Bewertung:
Immerhin eine „lobende Erwähnung“ erhielt quasi als zweitbester Dokumentarfilm im BERLINALE-Programm (nach dem Film über den zivilen Widerstand gegen das Militärregime in Myanmar, Myanmar Diaries) der nigerianische Regisseur und Produzent Ike Nnaebue. Schon einige Male hat sich Nnaebue mit der Flucht und illegalen Migration seiner Landsleute Richtung Europa beschäftigt, so auch in seinem bekanntesten Film Sink or Swim (2015). Doch mit No U-Turn präsentierte Nnaebue erstmals einen Dokumentarfilm zu dem Thema und begab sich dazu auf die Spuren seiner eigenen Migrationsroute, die er Ende der neunziger Jahre absolvierte. Genauer gesagt: Der Regisseur unternimmt dieselbe Reise noch einmal und befragt dabei diverse Mitreisende, was sie über die Migration nach Europa denken oder warum sie sie selbst planen.
Der Trip per Bus geht von Nigerias Hauptstadt Lagos – die laut Prognosen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für Westafrika zur bevölkerungsreichsten Stadt der Welt werden könnte – quer durch West- nach Nordafrika, also durch die Staaten Togo, Benin, Burkina Faso, Mali, Mauretanien (wo Nnaebue nicht drehen darf und das er wegen der politisch-bürokratischen Hindernisse als einziges Land per Flugzeug durchquert) bis nach Marokko. Während sich die Bilder und Eindrücke aus den westafrikanischen Ländern ähneln, stellt der Sprung durch die riesige Wüste der Sahelzone auch einen erkennbaren kulturellen Wechsel dar: Casablanca und Tanger in Marokko sind durch arabische und europäische Einflüsse geprägt.
Eines aber begegnet dem hünenhaften, charismatischen Regisseur auf jeder seiner zahlreichen Stationen: die drängende Sehnsucht vieler junger Westafrikaner*innen nach einem besseren Leben, das sie sich im gelobten Europa erhoffen. So diffus die Vorstellungen von einer wirtschaftlich gesicherten Existenz bei den zur Migration entschlossenen Afrikanern auch sein mögen – die Sehnsucht und Fantasie wirkt bei vielen stärker als ihre durchaus vorhandene Skepsis und Angst. Insbesondere für junge Frauen ist die aufwendige und langwierige Reise von Mittel- und Westafrika mit wenig Geld und Gepäck ein äußerst riskantes Unterfangen: Schutzlos sind sie in der Fremde Misshandlungen und Vergewaltigungen ausgeliefert, die in großer Zahl vorkommen. Trotz dieser bekannten Gefahren machen sich seit einigen Jahren dennoch immer mehr junge Frauen auf denselben Weg wie einst Nnaebue, stellt der Regisseur aufgrund der Schilderungen fest, die er in lockerer Weise in sein filmisches Reisetagebuch eingestreut hat.
Obgleich nur ein Bruchteil des afrikanischen Kontinents durchquert wird, müssen für die Reise von der Metropole Lagos zur marokkanischen Küste müssen immerhin über 5.400 Kilometer zurückgelegt werden – was etwa der Entfernung von Berlin in die südägyptische Stadt Assuan entspricht. Die Anstrengungen dieses mehrtägigen Trips haben Nnaebue und sein Kameramann Jide Akinleminu quasi transzendiert und fokussieren sich auf markante Eindrücke am Wegesrand und vor allem auf die Interviews in den Städten, die auf der Reise angesteuert werden. Nnaebues Film ist in jeder Hinsicht dezent gestaltet und verharrt dank seines sanft fließenden Rhythmus, seiner ausgesuchten Gespräche und Bilder und vor allem dank des pointierten, sehr persönlich gehaltenen Off-Kommentars des Regisseurs nicht in einer deprimierenden Stimmung.
Übrigens wurde ausgerechnet die Hauptstadt Malis, Bamako, vor 22 Jahren für den Regisseur zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Dass dieses Land nach zwei Militärputschen und einer strittigen UNO-Mission, in die auch die Bundeswehr involviert ist, sich zurzeit wieder in einer sehr instabilen Situation befindet (was der Film nicht zeigt bzw. nicht angemessen zeigen könnte), verweist auf das Dilemma, das Nnaebues Film thematisiert: Solange die politischen und gesellschaftlichen Perspektiven für viele afrikanischen Staaten fragil sind, wird die jüngere Generation ihren Sehnsüchten folgen und in Europa ihr Heil suchen. Am Ende seines Films zeigt Nnaebue zwei junge Frauen, die mit ein wenig erbetteltem Geld, aber ohne jedes Gepäck mit dem Mut der Verzweiflung versuchen werden, die Meerenge nach Gibraltar zu durchqueren – der Ausgang der waghalsigen Aktion bleibt ungewiss.
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No U-Turn von Ike Nnaebue | (C) Jide Akinleminu
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Max-Peter Heyne - 19. Februar 2022 ID 13471
Der 24. PANORAMA-Publikumspreis für den besten Spielfilm geht an Baqyt (Happiness) von Askar Uzabayev. Bei den PANORAMA-Dokumenten gewinnt Aşk, Mark ve Ölüm (Liebe, D-Mark und Tod) von Cem Kaya. Die Preise werden von der Berlinale-Sektion PANORAMA gemeinsam mit radioeins und dem rbb-Fernsehen (Rundfunk Berlin-Brandenburg) verliehen.
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de
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