Der Film
der Stunde
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Bewertung:
1981, als es vor allem Regisseure aus der französischen Schweiz, allen voran Alain Tanner und Claude Goretta, waren, die dem Schweizer Film internationale Aufmerksamkeit und Ansehen einbrachten, überraschte ein Deutschschweizer mit einer Sensation. Sein Name ist Markus Imhoof, und der Film hieß Das Boot ist voll. Es ist ein abendfüllender Spielfilm, und er handelt von einem Thema, das in der Schweiz nach 1945 weitgehend verschwiegen worden war: vom Umgang des neutralen Landes mit Flüchtlingen aus dem Dritten Reich. Der viel zu jung verstorbene Niklaus Meienberg und Richard Dindo haben das Thema mit dokumentarischen Mitteln aufgenommen und in ihrer Heimat für beträchtliche Feindseligkeiten gesorgt, aber, wie wir aus dem Vergleich von Schindlers Liste oder der Fernsehserie Holocaust mit Nacht und Nebel, The Memory of Justice oder Shoah wissen: die Massenwirkung von Spielfilmen, die zur Einfühlung und zur Identifikation einladen, können Dokumentarfilme nicht erreichen.
Jetzt, 37 Jahre nach Das Boot ist voll, hat sich Markus Imhoof ein zweites Mal dem Thema der Flucht zugewandt, allerdings nicht rückblickend, historisch, sondern ganz und gar gegenwärtig, und er hat sich diesmal für eine, wenngleich komplexe, Dokumentation entschieden. Eldorado ist der Film der Stunde. Wer seinen Enkeln einmal beteuern wird, er habe nichts davon gewusst, hat es – mit Absicht? – versäumt, diesen Film anzusehen.
Wir erfahren ja, wenn wir nicht als Eremiten leben, von den Menschen, die den Weg nach Europa suchen, auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Folter, Hunger und Tod. Wir hören, dass sie zuhauf in den Fluten des Mittelmeers ertrinken, und ahnen, wie groß ihre Not sein muss, wenn sie dieses Risiko eingehen. Aber so recht können wir uns ihr Schicksal nicht vorstellen. Die menschliche Natur befördert Verdrängung des Unangenehmen, sie hindert die Phantasie daran, sich auszumalen, was zu schmerzhaft sein könnte. Markus Imhoof zwingt uns mit seinem Film, hinzuschauen. Diese Bilder brennen sich ins Hirn ein. Dabei verzichtet der Filmemacher auf anklagende Rhetorik. Die Szenen, deren Zeugen wir werden, sprechen für oder vielmehr gegen sich.
Imhoof verknüpft die aktuelle Reportage mit einer persönlichen Erinnerung: an die kleine Italienerin Giovanna, die seine Familie im Zweiten Weltkrieg bei sich aufgenommen hat. Er verknüpft das Private mit dem Politischen, die eigene Kindheit mit seinem Bewusstsein als 77jähriger, die Geschichte mit der Gegenwart. Was ihn die Menschen auf den Booten im Mittelmeer, in den unwürdigen Unterkünften oder bei Arbeitsbedingungen, die der Sklavenhalterei ähneln, angehen, ist klar. Dass auch wir ihm folgen können, die keine Giovanna geliebt haben, bleibt eine Hoffnung.
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Eine verängstigte Frau findet Trost durch die Mitarbeiter der Mare Nostrum | Foto: Peter Indergand, Majestic/zero one film
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Thomas Rothschild – 14. Oktober 2018 ID 10972
Weitere Infos siehe auch: http://www.majestic.de/eldorado/
Post an Dr. Thomas Rothschild
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