20.000 Days On Earth über den Songwriter Nick Cave ist der Dokumentarfilm des Jahres
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Bewertung:
Dass ein Film über den 1957 geborenen Songwriter, Musiker, Zeichner und Autor Nick Cave ein uninteressanter Film werden könnte, wäre schwer vorstellbar gewesen. Denn der Frontmann der legendären Band The Bad Seeds, der sich gerne in einer Mischung aus Dandy, klassischem Gothic und katatonischem Frank Sinatra gibt, hat ja schon in seinen lyrisch-erzählerischen Rocksongs oft eine Menge mehr zu sagen als seine Kollegen und Kolleginnen. Aber vielleicht bedurfte es einer Künstlernatur – genauer gesagt derer zwei –, um dem mürrisch wirkenden Multikünstler Cave (Nomen est omen) nicht nur einige amüsante Anekdoten, sondern die Quintessenz seines Lebens zu entlocken. Das Künstlerpaar Iain Forsyth und Jane Pollard, die seit ihrem Kunststudium in London viele komplexe Video-Kunstprojekte zusammen entwickelt haben, hat es jedenfalls geschafft. Nick Cave hat den beiden Geistesverwandten wohl sehr vertraut, jedenfalls ist erstaunlich, wie der Mann mit der unbeweglichen Miene drauflosplaudert und das Herz auf der Zunge trägt. Bei Einspielproben zu dem letzten Album der Seeds und sogar bei der Sitzung mit einem Therapeuten lässt sich Cave filmen.
Bei der internationalen Premiere auf der diesjährigen BERLINALE und im Presseheft zum Film war zu lesen, dass die von intimer Vertrautheit geprägte Therapiestunde eines jener Szenarien innerhalb eines fiktiven Tagesablaufs im Leben von Nick Cave ist, die eigens für den Film herbeiinszeniert wurde. Das bedeutet, dass sich Nick Cave und "sein" Therapeut – der renommierte englische Psychoanalytiker Darian Leader – vorher nicht kannten. Die Annahme, dass „etwas Sinnstiftendes und Bedeutsames zum Vorschein kommen könnte“, erfüllte sich mehr als erhofft. „Letztendlich unterhielten sich die beiden für mehr als zehn Stunden“, sagt Iain Forsyth. Der Zuschauer erfährt von der behüteten, aber etwas langweiligen Kindheit Caves in der australischen Provinz, von Caves Suche Getriebenheit, die sich in einer rastlosen Kreativität Bahn bricht, seinem Hunger nach Lebensenergie und seinem Hang zur Selbstzerstörung, die zu einer jahrelangen Heroinsucht führt. Doch trotz aller persönlichen Bekenntnisse ist der Film an dieser wie auch den anderen Stelle(n) nicht wie eine Bühne für eine egomanische, selbstverliebte Rampensau. Stattdessen gelingt es dem stets selbstkritischen, reflektierten Cave in Kollaboration mit seinen Regisseuren, abseits der Persönlichen immer auch über die allgemeine condition humane und ihre Ausprägung im Leben von Künstlern zu thematisieren.
Dies geschieht auch bei einem amüsanten Gespräch zwischen Cave und seinem ältesten Mitstreiter bei den Seeds, Warren Ellis, dessen zugewachsenes Cottage im historischen Haus der Küstenwache von Seaford nachinszeniert wurde. Schließlich wurde gar ein Teil der tatsächlichen Sammlung von Caves Archivalien (Nick-Cave-Collection) von Melbourne in den Keller eines Restaurants in seiner Wahlheimat Brighton an der englischen Südküste verbracht, um dem Songwriter zweit Tage lang Zeit zu geben, anhand von Fotos und Dokumenten vor laufender Kamera eine Reise in seine Vergangenheit anzutreten. Auch dies funktionierte prima, und so erfahren wir u.a. eine denkwürdige Episode aus Caves Zeit in West-Berlin (seit 1981), die er in einer winzigen Wohnung eines Altbaus zubrachte. In Deutschland erlangt die Nachfolgeband der Birthday Party, die Bad Seeds ihren legendären Ruf als eine der originellsten und krachigsten Live-Punkbands, was Anfang der achtziger Jahre beim deutschen Publikum zu unappetitlichen Exzessen wie dem Urinieren auf offener Bühne führt, wie Cave anhand von Fotos berichtet.
Das Sahnehäubchen auf dem exzellent fotografierten (Kamera: Erik Wilson), teils fiktionalisierten bzw. gescripteten Dokumentarfilm sind aber die Gespräche, die Nick Cave mit wichtigen Menschen in seinem Leben am Steuer seines Autos führt, mit dem er während seines 20.001 Lebenstages von Ort zu Ort fährt – darunter Ex-Seeds-Mitglied Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten, Popstar Kylie Minogue, mit der Cave 1995 seinen größten Hit landete („Where The Wild Roses Grow“), und der Schauspieler Ray Winstone, ein guter Freund. „Das Auto ist eine Erweiterung von Nicks Kopf, in dem sich eine Art innerer Dialog mit anderen Menschen ergibt“, so Ko-Regisseurin Pollard. Allerdings sitzen diese Menschen tatsächlich im Auto und reden mit Cave – was zu den wenigen, komplett improvisierten Passagen zählt. Nur Caves hübsche (dritte) Ehefrau ist nicht vor der Kamera zu sehen. Auch wenn Cave manisch auf der Schreibmaschine hämmert, scheint er in einem ununterbrochenen Fluss der Gedanken zu waten und sich daraus die wichtigsten Geistesblitze für seine dramaturgisch strukturierten Songs heraus zu angeln (er verwirft viel).
20.000 Days On Earth ist ein ausgesprochen unpeinlicher, kurzweiliger und unterhaltsamer, weil genresprengender Dokumentarfilm über einen außergewöhnlichen Künstler, der wirkliches Talent und etwas zu sagen hat.
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20.000 Days On Earth | (C) Rapid Eye Movies
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Max-Peter Heyne - 17. Oktober 2014 ID 8174
Post an Max-Peter Heyne
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