EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM
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„Du hast dich
nicht getraut,
es zu Ende
zu denken.“
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Bewertung:
Das Glück zu leben – The Euphoria of Being ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass man Erlebnisse in einem Konzentrationslager künstlerisch umsetzen kann, im Fall der ungarischen Regisseurin und Choreografin Réka Szabó werden sie vertanzt. Die Idee dazu bekam Szabó durch das 2011 erschienene Buch Die Seele der Dinge, das von der überlebenden Jüdin Éva Fahidi (* 1925) geschrieben wurde. Bereits 2015 begannen die Vorbereitungen mit der damals fast 90jährigen agilen Dame.
Die Dokumentation beginnt mit der Verlegung von drei Stolpersteinen vor Fahidis ehemaligem Wohnort im ungarischen Debrecen, die an ihre Eltern und 11jährige Schwester Gilike erinnern. Fahidi wohnt der Zeremonie bei, aber ins Haus will sie nicht gehen. 49 ihrer Familienmitglieder kamen während des Holocausts ums Leben, doch Fahidi ahmt ihre Mutter nach und weint nie. Sie sagt selbst, dass sie sich damit um eine Linderung bringt. Sie hat sich von Szabó zu einer Tanzaufführung überreden lassen, weil sie dadurch ihre Geschichte einer jüngeren Generation näher bringen kann. Die 60 Jahre jüngere ungarische Tänzerin und Choreografin Emese Cuhorka übernimmt dabei einen Teil der Umsetzung, doch auch die fast 90jJährige, die für ihr Alter erstaunlich gelenkig ist, tanzt mit. (Die Premiere fand an ihrem 90. Geburtstag statt. Es sollte ein einmaliges Ereignis sein, wird nun aber in Abständen immer wieder aufgeführt.)
Éva Fahidi brachte sich als junges Mädchen das Tanzen selber bei und erfand eigene Choreografien. Sie bekam nie Ballettunterricht, weil ihre Mutter immer gescherzt hatte, dass nicht einmal ein Dromedar sie heben könne, weil sie so groß ist. Sie tanzte nackt vor dem Spiegelschrank im Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Mutter bemerkte das, sagte aber nichts. Nacktheit galt in der Familie als etwas Natürliches. Szabó inszeniert das als eine Szene der Unbeschwertheit vor der Deportation, getanzt von Emese Cuhorka. Fahidis Träume auf ein Studium wurden jäh zerstört. Die Verhaftungen gingen in Ungarn sehr überhastet vor sich, dort wurden die Juden in derart kurzer Zeit verschleppt, dass die Baracken noch nicht fertig waren, und Eva deshalb auch keine Häftlingsnummer eintätowiert bekam. In den Gaskammern wurden so viele Menschen getötet, wie vorgesehen, aber die vier Krematorien kamen mit der Verbrennung der Leichen nicht nach. Sie wurden teilweise im offenen Feuer verbrannt und der Gestank war schlimm.
Fahidi sieht die Ereignisse heute sehr differenziert: Sie will nicht einmal eine Strafe für die, die das vor Ort gemacht haben. „Die hatten kein Hirn, die waren indoktriniert. Die glaubten, dass Juden das Deutsche Reich gefährden würden. Aber diejenigen, die sich das ausgedacht haben, die waren nicht dumm und wussten, wohin das führen würde. Das kann man nicht verzeihen“, erklärt sie. Nach der Befreiung nahm ein Onkel sie bei sich auf, denn sie war zwei Jahre lang krank, bis sie wieder auf die Beine kam.
Sie war mit ihrem Frau-Sein immer im Einklang gewesen, aber vor den Frauenkörpern im Konzentrationslager ekelte sie sich. Die waren schmutzig, stinkend und abstoßend. Und in der Enge wurde man immer wieder von diesen Körpern berührt. „Unsere Worte haben hier nicht ihre normale Bedeutung“, sagt sie. Das waren keine Menschen mehr, geschweige wurden sie als Frauen wahrgenommen. Bis heute kann sie Hässlichkeit nicht gut ertragen. Fahidi hat sich ihre Würde bewahrt (oder zurückerobert?) und ist auch ein wenig eitel. Sie hat sich Lidstriche und Farbe in die Augenbrauen eintätowieren lassen, weil gerade ältere Frauen oft mit verschmiertem Make-up herumlaufen. Das stört ihr ästhetisches Empfinden. Fahidi ist sich sehr bewusst, was sie mit ihrem alten Körper noch leisten kann und was nicht. Ihre Knochen sind schon so porös, dass sie sich schon kleinere Brüche zugezogen hat. „Es ist schlimm, wie schnell die Jugend vergeht. Es ist unmöglich, sich darauf vorzubereiten“, meint sie wehmütig.
Es gibt viele Überlebende, die an Survivor's guilt leiden, sich schuldig fühlen und fragen, warum sie überlebt haben und andere nicht. Fahidi dagegen findet, dass ihr die guten Dinge im Leben zustehen. „Man muss immer überzeugt sein, dass es gut ist zu leben.“ Sie lebt sehr bewusst. Die Tatsache am Leben zu sein, ist für sie an sich schon euphorisch. Und so erlebt man sie auch beim Höhepunkt des Films, der Ballettaufführung zu ihrem 90. Geburtstag. Sie tanzt mit – teilweise im Sitzen, zu einer atemberaubenden Choreografie, zu der Fahidi dann auch Texte liest. Die drei Ungarinnen haben etwas Ungewöhnliches und sehr Konstruktives auf die Beine gestellt.
Fahidi fragt sich und das Publikum, was die Juden daran gehindert hat, die Gefahr zu erkennen. Im Nachhinein sei das so einfach. Das sei die ewige Tragödie, dass man die Dinge nicht erkenne, die sich vor einem abspielen: „Eine absolute Idiotie.“ Sie spricht ihren Vater an, der sich als Zwangsarbeiter zu Tode schuften musste. Sie klagt ihn an, dass er Angst hatte, dass er feige war, dass er sich seine Frau und seine kleine Tochter nicht auf einem Leichenberg in einer Gaskammer vorstellen konnte. „Du hast dich nicht getraut, es zu Ende zu denken.“ Er habe das, was er sich mit seinen 49 Jahren aus dem Nichts aufgebaut hatte, nicht aufgeben wollen und deshalb seine Familie geopfert. Und: „Du hast dich selbst geopfert.“ - Als nach der Premiere die Anspannung von ihnen abfällt, weint Emese die Tränen, die Eva sich versagt.
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Réka Szabó (li.), Emese Cuhorka und Éva Fahidi bei den Proben | © Film Kino Text
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Die kognitive Dissonanz in jener Zeit war bezeichnend, und der weltweite Antisemitismus grassierte regelrecht. Viele Juden und Deutsche konnten sich nach dem Krieg das Ausmaß des Vernichtungsprogramms und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht vorstellen, dabei spielte sich die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung von der sozialen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Teilhabe direkt vor ihren Augen ab. Geschäftsaufgaben, Berufsverbote, Diffamierung, Hasspropaganda, irrationale Schuldzuweisungen, die Schaffung eines Feindbildes, die Behauptung, dass von Juden eine Gefahr ausginge, und Vieles mehr hätte alle eines Besseren belehren können. So mag es hart sein, dass Fahidi ihren Vater anklagt, dass er die fatale Auswirkung der politischen Maßnahmen nicht erkennen konnte oder ausblendete, aber genau das ist die wichtige Botschaft an die Nachgeborenen. Denkt es zu Ende und schaut genau hin. Totalitäre Regimes hat es nach dem Zweiten Weltkrieg zu Dutzenden gegeben, und sie werden immer noch etabliert. Es ist gut, dass die Welt sehr genau beobachtet, was derzeit in Afghanistan geschieht, aber unsere Rechte sollten überall behütet werden, weil sie ein kostbares Gut sind: Dann klappt das auch mit der Euphorie zu leben.
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Helga Fitzner - 29. September 2021 ID 13173
Weitere Infos siehe auch: http://www.filmkinotext.de/das-glueck-zu-leben.html
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