Dei' Mudder
sei Gesicht
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Seit einem Jahr praktiziert die Bundespolizei im Berliner Bahnhof Südkreuz ein Pilotprojekt zur digitalen Gesichtserkennung. Rund 100 (!) Kameras im Bahnhofsgelände erfassen die Gesichter von Passanten, die anhand einer hochentwickelten Software mit denen von 300 freiwilligen Probanten abgeglichen und auf Wiedererkennung überprüft werden. So können die Behörden feststellen, ob der Software-Filter fein genug arbeitet, um dem angestrebten Ziel des Auftraggebers Bundesregierung – nämlich der schnelleren und effektiveren Erkennung von Terrorverdächtigen und der Abwehr gewalttätiger Verbrechen – näher zu kommen. Das Projekt war von Anfang an umstritten und ist in den Augen der Gegner ein Schritt in Richtung eines nicht kontrollierbaren Überwachungsstaats, der Daten über die Physis seiner Bürger sammelt, ohne dass die Öffentlichkeit genau erfährt, was damit geschieht. Bundesregierung und Polizei kontern mit der Aufgabe des Staates, die Sicherheit der Bürger zeitgemäß zu gewährleisten.
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Der renommierte Dokumentarfilmer Gerd Conradt (Starbuck Holger Meins, Video Vertov), der mit dem Kurzfilm-Klassiker Farbtest Rote Fahne (1968) den revolutionären Geist der so genannten 68er Bewegung kongenial versinnbildlichte, nahm das Südkreuz-Projekt zum Anlass für eine weitergehende Betrachtung über die Bedeutung des Gesichts, genauer gesagt: der mimischen Fähigkeiten des Menschen, im digitalen Zeitalter. Conradt nimmt an einem Präsentationstermin der Polizei teil, die um Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit bemüht ist, und zeigt Protestaktionen der Gegner jeglicher Erfassungstechnologie im öffentlichen Raum, darunter den Aktionskünstler Padeluun. Er ist einer der führenden Aktivisten des Vereins Digitalcourage e.V., die sich schon seit 1987 „für Grundrechte und Datenschutz“ und „eine lebendige Demokratie“ einsetzt, in der Daten über Bürger nicht „als Marketingobjekte, Manövriermasse beim Abbau des Sozialstaates oder als potentielle Terroristen behandelt werden“. Conradt spricht außerdem mit der Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär (CSU), die die offizielle Meinung der Bundesregierung wiedergibt und mit dem Charme der Naivität die Risiken eines Missbrauchs von staatlicherseits erfassten Daten herunterspielt.
Doch gottlob hält der dialektisch geschulte Conradt (bitte googeln, Kids!) sich nicht lange mit den Pro- und Contra-Argumenten für eine digitale Gesichtserfassung auf, die ja außerhalb des staatlichen Rahmens von Privatunternehmen weiterentwickelt wird und in anderen Ländern der Welt bereits in vollem Gange ist, sich also als angewandte Kulturtechnik nicht mehr aufhalten lässt. Stattdessen trifft der Regisseur auch Kulturwissenschaftler (Sigrid Weigel), Medientheoretiker (Peter Weibel vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe) und Medienkünstler (wie Julius von Bismarck), befragt sie zu deren Erkenntnissen über die Magie und Vielfalt der mimischen Fähigkeiten des Menschen und ihre Meinung zu den Gefahren der digitalen Transformation einer sehr ausgeprägt menschlichen, individuellen Art der Kommunikation.
Alle Befragten - außer Frau Bär - sehen den Erkenntnisgewinn und die kriminalistische Effektivität der Digitalisierung von Gesichtern skeptisch, vermeiden aber plumpen Alarmismus. Besonders aufschlussreich ist auch das Gespräch mit Holger Kunzmann, der sich als "Face Codierer" intensiv mit der Analyse digitaler Daten bei der Gesichtserkennung beschäftigt hat. Sie basiert im Wesentlichen auf den Darstellungen von menschlichen Gesichtsausdrücken durch den amerikanischen Psychologen Paul Ekman. Er hat schon Anfang der 1970er Jahre die menschliche Mimik kategorisiert und mit dem „Facial Action Coding System“ (FACS) die Grundlage für die Software-Anwendungen bei der Gesichtserkennung geschaffen. Kunzmann betont ebenso wie der Künstler Julius von Bismarck, dass die alltäglichen mimischen Ausdrücke beim Menschen so gut wie nie eindeutiger Natur sind, also auch exakte Aufschlüsse nicht bieten können, sondern die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit von Gefühlen wiederspiegeln. Schließlich konfrontiert Conradt die Interviewpartner noch mit künstlerischen Clips der 70er und 80er Jahre, in denen Gesichtsausdrücke modelliert wurden.
Der Erkenntnisgewinn der Interviews mag zum großen Teil weder neu noch umfassend sein. Aber diesen Anspruch hat Gerd Conradt gar nicht, der das weite Feld der Überwachung durch digitale Gesichtserkennung nicht komplett beackern, sondern Denkanstöße liefern und zur kritischen Reflexion ermuntern möchte. So fügt er auch die Büste der ägyptischen Herrscherin Nofretete – vielfach das „schönste Gesicht der Welt“ genannt – in den Themenkomplex ein. Manchem mag das ein Zuviel an heterogenem Material sein. Aber es ist allemal anregender als die schematischen Raster der FACS, mit denen unsere Gesichter in Bahnhöfen kategorisiert werden.
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Face_It! | (C) missingFILMs
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Max-Peter Heyne - 25. Juli 2019 ID 11587
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