Parallele
Universen
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Bewertung:
Favoriten heißt ein Stadtteil von Wien, der zu den sozialen Brennpunkten zählt und der entgegen seines Namens gar nicht favorisiert wird. Im Gegenteil wird vor ihm gewarnt, da er die Kriminalstatistiken von Wien anführt. Als die renommierte österreichische Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann eine Langzeitstudie über eine Volksschule (das Äquivalent für Grundschule in Deutschland) durchführen wollte, landete sie in der größten Einrichtung genau in diesem Problemviertel und nahm die Herausforderung an. Sie traf auf die junge Pädagogin Ilkay Idiskut, die gerade eine zweite Klasse übernommen hatte und sich mit unglaublichem Engagement für die unterprivilegierten Kinder einsetzte. Sie machte jeden einzelnen ihrer Schützlinge zu einem echten Favoriten und brachte den Kindern nicht nur den Lehrstoff bei, sondern auch einen sozialen und friedlichen Umgang miteinander. Beckermanns Film Favoriten lief auf der Berlinale 2024 im Wettbewerb Encounters und gewann den Friedensfilmpreis.
Frau Idiskuts unermüdlicher Einsatz stand in diametralem Gegensatz zu den schulischen Rahmenbedingungen. Schon zu Beginn des Schuljahres wurde das Kollegium darüber informiert, dass die Sprachförderung in dem betreffenden Jahr nicht stattfinden würde. Die Schulsozialarbeiterin war auf eine Mittelschule gewechselt, die Priorität hat. Deswegen blieb die Stelle für die Volksschule unbesetzt. Das Dilemma wurde komplettiert durch die Schulpsychologin, die wegen Schwangerschaft auch bald ausfallen würde. Das war eine Katastrophe bei dem extrem hohen Ausländeranteil, und die Familien stammen teilweise aus Krisen- und Kriegsgebieten. In Frau Idiskuts Klasse gab es keinen einzigen österreichisch-stämmigen Schüler und damit auch keinen deutschen Muttersprachler. Da die Eltern der Kinder im Regelfall die deutsche Sprache auch nicht beherrschen, waren die Schüler schon am Beginn ihrer Schulkarriere praktisch chancenlos, denn die Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Schulbesuch ist der Erwerb der Landessprache. Ohne allgemeine und ausreichende Sprachförderung konnte auch die Klassenlehrerin bei 28 Kindern nur bedingt helfen.
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In Frau Idiskuts Mikrokosmos herrschen überwiegend Gemeinschaft und Lernwille. Wenn Konflikte auftreten, werden die sofort besprochen und gemeinsam mit den Kindern gelöst. Das sind private kleine Streitigkeiten untereinander, aber manchmal auch Grundlegendes. Sie scheut sich nicht, mit den Kindern über Krieg, verschiedene Religionen und Geschlechter zu sprechen. Wenn Jungen der Meinung sind, dass Männer in Kleiderfragen über Frauen bestimmen sollten oder dass Handgreiflichkeiten in Ordnung sind, erklärt sie kindgerecht, warum das nicht gut ist. Sie selbst ist als Österreicherin mit türkischen Wurzeln ein gutes Beispiel für weibliche Selbstbestimmung und gelungene Integration.
Während in der Schule so ziemlich alles fremd für die Kinder ist, blühen die muslimischen Schüler bei einem Besuch in der Moschee auf. Da kennen sie sich schon aus und sind den serbisch-orthodoxen Kindern voraus. Katholiken gibt es keine in der Klasse, was bei einer Führung durch den Stephansdom herauskommt. Eine Skulptur des dornengekrönten und leidenden Jesus scheint die Kinder eher zu erschrecken. - Ein Besuch im Schwimmbad gehört zu den wenigen sportlichen Aktivitäten, aber die Lehrerin lockert im Klassenzimmer das viele Sitzen durch die Aufforderung zum Tanzen auf. Sie spielt Lieder ab, bei denen die Kinder gleichzeitig deutsche Vokabeln lernen, während sie sich dazu bewegen. Danach fällt das Stillsitzen wieder leichter.
Wenn die Schüler von ihren Eltern erzählen, dann sind viele Mütter Hausfrauen, die mehrere Kinder haben. Die Väter arbeiten als Taxifahrer, Pizzabäcker oder auf dem Bau. Einige von ihnen haben in ihrer Heimat gute Berufe gehabt, deren Abschlüsse in Österreich aber nicht anerkannt werden. Bei den Elternabenden lernen wir einige engagierte Elternteile kennen, die alles andere als bildungsfern, aber durch die mangelnde Sprachkompetenz sehr eingeschränkt sind. Wenn es um die Prognose für eine weiterführende Schule nach Abschluss der ersten vier Jahre geht, dann ist diese für die meisten Schüler schlecht. Nur einige wenige werden wohl die Voraussetzung für einen Besuch des Gymnasiums erfüllen. Die Pädagogin ist da sehr aufrichtig mit den Eltern und Kindern.
Im Lauf der vierten Klasse erfahren die Schüler, dass ihre Lehrerin schwanger ist und sie nur bis dreieinhalb Monate vor Ende des vierten Schuljahres von ihr begleitet werden können. Es ist klar, dass dies ein tränenreicher Abschied wird, aber da bahnt sich ein traumatisierender Umstand an...
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Wir gehen auf das Ende des Films ein, weil es ein Skandal ist. An ihrem letzten Arbeitstag vor der Verabschiedung in den Mutterschutz hat die Schulbehörde noch keine Nachfolge gefunden. Ilkay Idiskut kann die Klasse an niemanden übergeben und ist genötigt, die Kinder regelrecht im Stich zu lassen. Sie darf laut Gesetz keinen Tag länger arbeiten, obwohl laut Schrifteinblendung drei Tage später ein Nachfolger gefunden worden sein soll. Da muss selbst die wackere Lehrerin vor und mit den Kindern weinen, und es zeigt das Versagen des Bildungssystems, das auf Kosten unserer Zukunft kaputt gespart wird.
Das sind parallele Universen, die der Film zeigt, der sich zwar auf die positiven Aspekte des erfolgreichen Unterrichts von Ilkay Idiskut konzentriert, aber die Verantwortungslosigkeit und Unterlassungen der Entscheidungsträger nicht vertuscht. Es ist ein solcher Schlag ins Gesicht dieser „Heldin“ des Schulalltags, die unter unwürdigen Bedingungen arbeiten muss und dies nicht verdient, von der allgemein viel zu geringen Anerkennung für diesen schwierigen und doch so entscheidenden Berufsstand einmal abgesehen. Was das in den Kindern angerichtet haben mag, ist kaum abschätzbar.
In diesen prägenden Jahren könnten insgesamt die Grundlagen gebildet werden, um die fehlenden Fachkräfte von morgen auf den Weg zu bringen, die später dann auch Zertifikate bekommen, die in unseren Ländern gültig sind. Das würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rate an künftigen Sozialhilfeempfängern, aber auch an Suchtkranken und Kriminellen senken, weil diesen Kindern der Sprung aus diesen sozialen Brennpunkten heraus besser gelingen könnte.
Ilkay Idiskuts bezaubernde Schüler und Schülerinnen haben fast drei Jahre lang die Erfahrung machen können, von ihrer Klassenlehrerin mit Respekt, Menschenwürde und Gerechtigkeit behandelt zu werden. Das ist schon eine erstaunliche Leistung für eine einzelne Person. Trotz allem schreit der Schluss des Films nach einer strengen gesetzlichen Regelung für ausreichendes Personal, die nötigen Unterrichtsmittel sowie eine verpflichtende und intensive Sprachförderung, die unverzichtbar ist und von der auch so mancher Muttersprachler profitieren könnte.
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Die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut widmet sich jedem Kind einzeln | © Grandfilm
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Helga Fitzner - 17. September 2024 ID 14920
Weitere Infos siehe auch: https://grandfilm.de/favoriten/
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