Langer Atem
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Bewertung:
Als ich in Leipzig am Becher-Institut Literatur studierte, spielte Uwe Johnson (falls ich mich korrekt erinnert haben sollte) keine Rolle, jedenfalls nicht während der von mir belegten Seminare; das war in dem letzten dreijährigen Durchlauf (1985-88) so, noch vor der sogenannten Wende. Johnsons Name fiel mir erstmals auf, als er im Literarischen Quartett des ZDF von Reich-Ranicki, der sich mit dem Werk des Autors auszukennen schien, mitunter fiel; erst da bekam ich Wind von dem im pommerschen Cammin geborenen und nicht mal 50-jährig im englischen Sheerness on Sea gestorbenen Dichter, und so tat ich mir der Reihe nach drei Bücher von ihm kaufen: Ingrid Babendererde, Das dritte Buch über Achim und (1989 als Erstauflage im Aufbau-Verlag erschienen:) Eine Reise wegwohin. Ob ich sie je gelesen hatte, wüsste ich jetzt dem Gefühl nach nicht mehr ein-eindeutig zu behaupten; könnte sein oder auch nicht, oder ich hab' bis heute schlicht vergessen, falls ich es gelesen hatte, was ich da gelesen hatte. Merkwürdig, sehr merkwürdig, das geb' ich zu.
Jetzt kann man einen knapp 3-stündigen Dokumentarfilm über Johnson in diversen Programmkinos sehen, er heißt Gehen und bleiben und ist von Volker Koepp.
"Eine Karte von Mecklenburg hing in Uwe Johnsons letztem Arbeitszimmer im englischen Sheerness. Die Region seiner Kindheit, in die er nach der Auswanderung in den Westen nicht mehr zurückgehen und die er danach nur noch literarisch rekonstruieren konnte. Volker Koepps Film ist als Geobiografie angelegt, er reist mit Johnsons Texten zu den Lebensorten des Autors, findet Menschen und Landschaften, die mal einen engen, mal einen freien Bezug zum Werk und zur Person haben. Koepps und Johnsons poetische Projekte verbinden sich: Ihre Landschaften und Biografien kennen keine linearen Entwicklungen, in ihnen bleibt die Geschichte gespeichert und legt sich selbst immer wieder frei. Für Johnson sind beim Bad in der Ostsee die Toten anwesend, die nach der Versenkung der Cap Arcona 1945 in der Lübecker Bucht trieben. Eine Gesprächspartnerin von Koepp denkt bei Italienurlauben an heutige Fluchten über das Mittelmeer. Johnsons Trauer über den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in Prag spiegelt sich im aktuellen Angriff Russlands auf die Ukraine, der die Dreharbeiten bestimmt. Wenn ein Fluss langsam fließt, kann er bei etwas Wind die Richtung ändern und kommt wieder zur Quelle." (Quelle: berlinale.de)
Das Faszinierende des Films ist seine insgesamte Ruhe und Naturbelassenheit.
Ich sehe Landschaften, die ich sehr mag, vielleicht noch mehr als die mir eigentlich vertrauteren aus meiner Kindheit, welche ich in Thüringen verbrachte, es sind diese flachen Gegenden mit ihren "stillen" Wassern; Bodden, Meer und Fluss und Bach...
19 Menschen, die entweder mit Johnson bekannt waren oder von ihm gehört oder gelesen hatten oder sonstwie eine Beziehung mit oder zu ihm zum Ausdruck zu bringen bereit waren, werden in beeindruckenden Nahaufnahmen (Kamera: Uwe Mann) gezeigt. Dann reden sie, und während sie reden, erinnern sie sich an dies und das, alles in jeweils einem andern Umkreis zu dem Menschen und Dichter Uwe Johnson. Die meisten dieser 19 Interviewten kannte ich bis dahin nicht - "nur" diese hier kamen mir irgendwie bekannt vor, und ich recherchierte nachträglich dann über sie: die Dichterin und Übersetzerin Judith Zander, den Regisseur Hans-Jürgen Syberberg, den Journalisten und Theterkritiker Thomas Irmer (den seh' ich oftmals bei Premieren in Berlin) und freilich auch den in Mecklenburg (konkret in Güstrow) geborenen Schauspieler Peter Kurth, der eingangs über sich und seine Heimat berichtet und im weiteren Verlauf des Filmes einige Passagen aus den Jahrestagen des Dichters zitiert.
Es braucht gelassene Geduld und ein nicht ausschließlich auf Johnson fokussiertes Interesse, um die ganze lange Filmdauer unmüde durchzustehen. Mir gelang das eigentlich ganz gut.
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Verrückter Zufall:
Als ich meinem in Köln lebenden texanischen Freund (der z.Z. in El Paso bei seiner Familie zu Besuch weilt) über diesen Film, den ich gerade sah, kurz simste, schrieb der mir zurück, dass seine Tante Lili Simon, eine jüdischstämmige Germanistin und Theologin, mit Johnson befreundet gewesen war. Sie und der Benediktiner Athanasius Wolff veranstalteten Ende der 1970er thematische Tagungen im Kloster Maria Laach. Dort war dann auch mal Johnson eingeladen, der bei der Gelegenheit aus einem seiner Bücher las.
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Hans-Jürgen Syberberg in Gehen und bleiben von Volker Koepp | (C) Salzgeber
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Andre Sokolowski - 20. Juli 2023 ID 14298
Weitere Infos siehe auch: https://salzgeber.de/gehenundbleiben
https://www.andre-sokolowski.de
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