Schweineleben
unplugged
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Bewertung:
Mit Gunda ist dem russischen Dokumentarfilmer Viktor Kossakovsky ein Geniestreich gelungen, der sich wünschenswerterweise als bahnbrechend erweisen wird. Der Dreh schien unter einem guten Stern zu stehen, denn als Kossakovsky in Norwegen nach seiner Hauptdarstellerin suchte, brauchte er nur eine Stalltür zu öffnen, und da kam sie ihm schon entgegengelaufen. Es war sofort klar, dass er nicht weiter suchen musste. Die Schweinefrau Gunda ist einfach toll und trägt tatsächlich über die Hälfte des Films. Eigentlich ist Kossakovskys Vorgehensweise eine Frechheit: Es gibt keinen Kommentar, keine Untertitel, keine Musik oder andere Ablenkungen; wir schauen im Prinzip einer Sau und ein paar anderen Tieren bei ihrem Leben zu. Das ganze auch noch in Schwarz-Weiß. Die einzigen Challenges sind die Herausforderungen, die deren Leben mit sich bringt. Sonst nichts.
Gunda gebärt gerade um die zwölf Ferkel. Die ersten kämpfen schon um ihren Platz an den Zitzen, während ihre Geschwister noch im Mutterleib sind. Am Ende ist Hochbetrieb an der „Milchbar“, und man kann vor lauter Gewusel kaum zählen, wie viele es sind. Vermutlich zwölf. Eigentlich sind genug Zitzen da, aber das Gedrängel ist gewaltig, da geht es den Schweinen wie den Menschen. Irgendwo im Stroh regt sich etwas. Ein Mickerling. Ein Ferkelchen, das zu schwach für den Kampf um die Nahrung ist. Gunda tötet den Mickerling selbst. Es wird nichts erklärt, man muss selbst darauf kommen, dass das gnädiger ist als der Hungertod. Danach legt sie sich erschöpft hin. Wie bei allen Kindern wird gerauft, gequiekt und gekuschelt. Eines der Ferkel ist kleiner als die anderen und kommt nicht hinterher. Da geht Gunda schon mal zurück und hilft ein bisschen nach. Ansonsten gedeihen ihre Rangen gut, auch wenn der „alleinerziehenden“ Schweinemutter manchmal die Augen zuzufallen drohen. Aber sie wacht getreulich über ihre Ferkelschar. Gunda lebt auf einem norwegischen Bauernhof, wo es ihr und ihrem Nachwuchs vergönnt ist, artgerecht zu leben.
Den Hähnen, die auf einem englischen Gnadenhof ankommen, sieht man ihr Martyrium an. Einige haben schon einen Teil ihres Federkleids verloren und machen den Eindruck von Kriegsheimkehrern. Sie verlassen den Transportkäfig nur zögerlich, setzen langsam einen Fuß vor den anderen, weil sie Gras noch nicht kennen: Federvieh im Wunderland. Sie haben tatsächlich erstaunte Gesichter, laufen vorsichtig wie auf Watte, einer fängt schon mal an zu picken, aber so ganz haben sie ihre natürlichen Instinkte noch nicht entdeckt. Sie erschrecken sich bei Naturgeräuschen, wie Vogelstimmen und trauen der Sache noch nicht. Auch das Krähen klingt kläglich. Einer von ihnen hat nur ein Bein, klettert aber nach einigem Überlegen doch herum. Er ist der Columbus unter den Hähnen und versucht sogar den Zaun des Geländes zu überwinden. Dabei kann er eigentlich froh sein, aus der Massentierhaltung gerettet worden zu sein. - Auf einem anderen Gnadenhof kommt eine Herde Rinder an. Die laufen und springen begeistert auf der Wiese herum. In den zahlreichen Nahaufnahmen sieht man aber auch ihnen die vergangenen Qualen an.
Inzwischen ist Gundas Rasselbande herangewachsen und hat ordentlich an Gewicht zugelegt. Das ist gar nicht gut für sie, denn schon nähert sich ein Transportfahrzeug...
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Nach diesen eindrücklichen Dokumentarfilmaufnahmen kann keiner mehr sagen, dass Tiere Freude, Leid und Schmerz nicht fühlen könnten. Dieser filmische Beweis gelingt dem Regisseur ohne Schlachtszenen oder irgendwelche Grausamkeiten, die an den Tieren verübt werden. Durch die konsequente Schnörkellosigkeit kann man sich ohne Ablenkung auf die Tiere und ihre Gemütszustände einlassen. Kossakovsky erklärt:
„Unsere gesamte Behandlung von Tieren beruht auf einem Missverständnis. In einigen Ländern sagt das Recht ganz deutlich, dass Tiere nicht fähig sind zu leiden – das ist förmlich ins Recht eingewoben. Das ist absurd. Jeder, der mit Tieren zu tun hat, weiß, dass sie Gefühle und Bewusstsein haben. Wir wissen, dass das stimmt, haben aber stillschweigend zugestimmt, unser empirisches Wissen außer Acht zu lassen. Stattdessen verweigern wir den Tieren ihr natürliches Leben.“
Der Film endet mit Gunda, die nach ihren Ferkeln sucht. Kein Kommentar. Keine Schrifttafeln. Nichts weiteres. Den Rest muss man sich selber denken. Dabei ist das bei Haustieren völlig klar. Hunde, Katzen und Co. sind empfindende Wesen, nur bei den Tieren, die auf unserem Teller landen, wird das oft nicht so gesehen. Kossakovsky hat Buch, Regie und Schnitt selbst übernommen und sich die Kameraarbeit mit dem Norweger Egil Håskjold Larsen geteilt. Als einer der ausführenden Produzenten ist der US-amerikanische Schauspieler Joaquin Phoenix mit an Bord, und ja, beide Kossakovsky und Phoenix sind seit ihrer Kindheit Veganer. Das ist für viele keine Option, aber eine artgerechte Tierhaltung haben auch die Tiere verdient, die wir verzehren.
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Gunda erkundet mit ihren Kleinen den Hof | © Filmwelt Verleihagentur / Sant & Usant/ V. Kossakovsky/ Egil H. Larsen
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Helga Fitzner - 18. August 2021 ID 13085
Nachtrag
Gunda ist schon in „Rente“ und wird auch nicht mehr zur Schweinefleischproduktion verwendet. Der Besitzer des Bauernhofes hat entschieden, sie nicht zum Schlachter zu schicken. Also darf sie weiterleben, bis sie eines natürlichen Todes stirbt. Gunda hat noch eine Lebenserwartung von 20 bis 25 Jahren.
Weitere Infos siehe auch: http://www.filmweltverleih.de/cinema/movie/gunda
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