Hommage
an die
Utopie
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Bewertung:
Der Züricher Künstler Harald Naegeli sprühte von 1977 zwei Jahre lang unerkannt Sprüche und Bilder auf Gebäude und Gegenstände in der tristen Betonwüste Zürich. Das war in der Anfangszeit der Street-Art, wie wir sie heute kennen, aber diese wurde nicht als Kunstform im öffentlichen Raum anerkannt, sondern galt als Sachbeschädigung. Diese Dichotomie begleitet Naegeli bis zum heutigen Tag. Bereits 1979 hatte der Schweizer Produzent Peter Spoerri die Idee, einen Film über ihn zu machen, doch die Ereignisse überschlugen sich. Naegeli wurde wegen Sachbeschädigung angeklagt, floh nach Deutschland, wo er auf Joseph Beuys traf, der ihn unterstützte. Als er mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wurde, stellte er sich und verbrachte die nächsten Monate in einem Schweizer Hochsicherheitsgefängnis in Winterthur, wegen des Sprayens von Strichen auf Wände wohl bemerkt. „Diebstahl an Leben“ nennt Naegeli diese Zeit, die er u.a. mit Tütenkleben verbrachte, in deren Innenleben er heimlich zeichnerische Botschaften anbrachte.
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Die französische Filmemacherin Nathalie David nahm Jahrzehnte später Spoerris Idee auf und kontaktierte Naegeli (Jahrgang 1939). Der sagte ab, weil er an fortgeschrittenem Krebs leidet. Er hatte viele Jahre in Düsseldorf gelebt, aber gegen Ende seines Lebens ist er dann doch in die Heimat zurückgekehrt. Dann ließ er sich von David doch überreden, sodass die Dreharbeiten 2019 mit dem mittlerweile 80jährigen beginnen konnten. Zurück in Zürich sprayte er weiter und bekam wieder Anklagen: „Bereicherung des öffentlichen Raumes durch Kunst ist verboten. Kritik am Kapitalismus ist verboten... Denken in Bildern ist verboten“, erklärt er im Film. Eine Sachbeschädigung beginge man, wenn man etwas in seiner Funktion zerstört oder unbrauchbar macht. Irgendwann hätte selbst die Justiz gemerkt, dass dieser Tatbestand auf Zeichnungen auf Beton nicht zutraf. Seit 2009 fügte sie also eine gesetzliche Bestimmung hinzu, die definiert, dass eine Sache als zerstört gelte, wenn sie nur verändert worden wäre, selbst wenn das nur im ästhetischen Sinne zuträfe. Naegeli sagt, dass es nicht zusammenginge, auf der einen Seite die Freiheit der Kunst zu gewährleisten, sich gleichzeitig aber an den Bedürfnissen des Kapitalismus auszurichten. Man solle doch lieber diejenigen belangen, die die Atombombe erfunden hätten oder die Naturzerstörung begingen. Der Staat meint, dass die Kunst begrenzt sein muss, Naegeli ist da gegenteiliger Ansicht.
Joseph Beuys hatte den Wert von Naegelis „Sachbeschädigungen“ schon am Anfang erkannt. David hat historisches Filmmaterial recherchiert, in dem Beuys sich vor der Kamera äußert:
„Naegeli schätze ich als Künstler, aber nicht als einen traditionellen Künstler, sondern als einen Künstler, der sich für die menschheitlichen Fragen interessiert. Also steht er jenseits von moderner Kunst. Was er macht, ist eine anthropologische Kunst, eine soziale Kunst... Seine Genialität liegt ja gerade darin, dass er die richtigen Formen zur richtigen Zeit am richtigen Ort gemacht hat. An keinem anderen Ort der Welt wäre diese Ausstrahlung von den Figuren ausgegangen. Denn diese Figuren tragen den Geist von Zürich. Bis ins Phonetische.“
Naegelis Anfänge lagen im Trend der Zeit. Immer mehr Menschen machten sich in Form von Graffiti Luft. Naegeli erinnert sich:
„Das war einfach eine unglaubliche Spannung in der Gesellschaft und in mir selber.Und dann aus der 68er Szene gab es einen Spruch: «Wer begriffen hat, aber nicht handelt, hat nicht begriffen.» Alle haben begriffen, aber handeln nicht. Jetzt handele ich aber! Dann habe ich zuerst auch die Sprühdose genommen und habe aber nicht Figuren gemacht, sondern Parolen. Auf Banken hab‘ ich geschrieben: Hilf Jesus Christus, ich liebe nur das Geld.Oder: Die Auto-Pest. Aber da konnte man sofort sagen: Ja ja stimmt oder nein, das ist Blödsinn. Dann war das fertig. Und da ich immer zeichnete, kam mir plötzlich die Idee, ich könnte eigentlich zeichnen... Und dann merkte ich, als ich die erste machte, das war so wie eine unglaubliche Energie, die aus mir herausgesprudelt ist. Sozusagen ein neues Leben mit einem Schlag.“
Naegeli hat an der Züricher Kunstgewerbeschule und der École des Beaux Art in Paris studiert, beherrscht also das Handwerk, aber dieser Hintergrund ist für ihn nicht wichtig, er nennt sich im Film „Wolkengänger, Zeichner und Utopist“. „Wir sind immer in einer Art Gefangenschaft“ meint er. Unter Utopie versteht er den Ausbruch aus dieser Gefangenschaft, aus diesen bürgerlichen Vorschriften.
„Ohne Widerstand, ohne Opposition, wäre die Kunst belanglos. Es wäre einfach nur eine affirmative Konsumangelegenheit und keine geistige Auseinandersetzung mit dem Leben.“
Unter den Unterstützern dieser Vorschriften befänden sich auch Wanzen, einem Insekt, dem er eine ganze Serie von Bildern gewidmet hat: Die „Wanze“ ist ein Symbol für die Überwachung, aber auch für Menschen wie Politiker, Banker, Unternehmer, die keine guten Absichten hätten. Naegeli sieht das aber gelassen: Alle seine negativen Erfahrungen hätten positive Aspekte hervorgebracht und seine Seele bereichert.
Als er 2020 nach Zürich zurückkehrte, war auch seine Heimatstadt von Einschränkungen, Geschäftsschließungen und Hygienemaßnahmen betroffen. Da begann er mit einer Neuauflage seiner Serie Totentanz und sprühte Sensenmänner in den öffentlichen Raum, die Anklage folgte prompt. - Er hat auch 47 VermieterInnen in Zürich je eine Zeichnung von sich geschenkt unter der Bedingung, dass sie InhaberInnen von geschlossenen Kleingewerben zwischen 2000 und 3000 Schweizer Franken Miete erlassen. Er ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft unbelehrbar. David hat anhand von Stadtplänen von Düsseldorf und Zürich dargestellt, wie übersät die Karten mit Punkten sind, an denen Naegeli gesprüht hat. Das ist schon sehr viel, wobei etliche davon auch wieder übertüncht worden sind.
Durch seine schwere Erkrankung kann er draußen nicht mehr sprayen, aber drinnen apokalyptische Zeichnungen anfertigen, zu denen er ohne die Krankheit nicht in der Lage gewesen wäre. Es geht ihm aber nicht um die Memento-mori-Botschaft, zu bedenken, dass man sterblich ist, sondern darum, das Leben zu achten. Der Körper verfiele, aber sein Kopf sei noch hell, die Hand sei noch wunderbar, aber die Zeit sei abgelaufen. Er hat sich bei „Exit“ angemeldet. Wenn er zu schlimme Schmerzen bekommt, macht er Schluss. (D. h. er nimmt aktive Sterbehilfe in Anspruch). „Ich will entscheiden, nicht andere.“
Nathalie David ist ein eindrückliches Porträt eines Mannes gelungen, der seinen Überzeugungen treu bleibt und sich nicht verbiegen lässt. Schönheit liegt im Auge des Betrachters, wie man weiß, und seine meist schwarzen Strichfiguren sind schlicht und für manche etwas verstörend, weil sich ihr Mutterwitz vielfach erst nach der Auseinandersetzung mit ihrem Inhalt erschließt. Sie sind nicht so eingängig wie die Graffiti von Banksy zum Beispiel. Heute ist Street-Art als Kunstform eigentlich anerkannt, auch die von Naegeli, der ein international angesehener Künstler ist. Warum er jetzt noch strafrechtlich verfolgt wird, ist nicht ganz nachvollziehbar. Was man allerdings dächte, wenn man einen seiner Totentänzer an der eigenen Hauswand abgebildet hätte, ist eine andere Frage. In der Dokumentation erleben wir Naegeli als einen eigensinnigen und mutigen Mann mit Humor und Herzenswärme, der sich gegen Fremdbestimmung wehrt, aber dies mit friedlichen und künstlerischen Mitteln.
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Harald Naegeli hat im Rahmen seiner Totentanz-Serie einen Sensenmann auf ein Denkmal gesprüht | © missingFILMs
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Helga Fitzner - 2. Dezember 2021 ID 13339
Weitere Infos siehe auch: https://www.missingfilms.de
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