Der Abschied
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Bildquelle: arte.tv
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1987, als sowohl im West- wie auch im Ostteil von Berlin die 750jährige Stadtgründung gefeiert wurde, ließ die DDR es, um bei all dem Wettbewerb der Jubiläen nicht aufs Kläglichste hintanzustehen, kulturell (und finanziell) so richtig krachen. Es gab Dutzende von Gastspielen mit westlichen Theatern, Opernbühnen und Orchestern, und auch etliche der damals (und bis heute) weltbesten Ballett- und Tanzcompagnien wurden eingeladen; manche Gastauftritte führten die Ensemble zusätzlich auch in die Pleißestadt - so kam es, dass ich (weil ich zu der Zeit am Becher-Institut in Leipzig immatrikuliert war) erstmals überhaupt sowohl Maurice Bejarts Ballet du XXe siècle (mit Malraux) als auch John Neumeiers Hamburg Ballett (mit der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler) live erleben konnte; es war unvergesslich. Neumeier zeigte auch seine abendfüllende Version von Bachs Matthäus-Passion, allerdings nur in der Deutschen Staatsoper Berlin, die wollte ich dann eigentlich auch noch sehen, aber irgendwie klappte es mit den Karten nicht...
Jetzt, mit 85 (!), verlässt der Maestro "seine" Truppe, der er 51 Jahre lang verbunden war. Vorigen Sonntag hatte Epilog, seine allerletzte Kreation (in seiner Eigenschaft als Intendant und Chefchoreograf des Hamburg Ballett) Premiere - in der kommenden Saison wird sie gleich achtfach wiederaufgeführt.
ARTE nahm den langen Abschied des aus seinem Amt von sich aus Scheidenden zum Anlass, um Andreas Morells schönen Dokumentarfilm John Neumeier - Ein Leben für den Tanz in seiner Mediathek zu veröffentlichen, dort kann er noch bis Ende September d.J. gestreamt werden:
"John Neumeier blickt auf über 60 Jahre in der Welt des Tanzes zurück. Erst als Balletttänzer, dann als Choreograph und später als Intendant des Hamburg Balletts. Er erarbeitete sich einen weltweiten Ruf als Choreograph, dessen Werk einerseits in der Tradition des klassischen Balletts steht und andererseits eine große Faszination für neue, zeitgenössische Formen hat. Für ihn zählt nicht allein die Perfektion des Tanzes, sondern vor allem das Menschliche: Die Beweggründe jeder einzelnen Figur, die er zusammen mit seinen Tänzern kreiert, ihre Gefühle und Abgründe. John Neumeier interessieren nicht 'tanzende Menschen, sondern Menschen, die tanzen'. Er möchte, dass jeder Zuschauer sich in seinen Stücken wiederfinden kann. Für den Film reist John Neumeier zu seinen Anfängen nach Milwaukee und Chicago. Ausschnitte zeigen prägende Arbeiten seiner Karriere und er wird sowohl bei Wiederaufnahme älterer als auch der Kreation neuer Stücke begleitet." (Quelle: arte.tv)
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Der Film beginnt mit Neumeiers Wiedereinstudierung seines Handlungsballetts Die Glasmenagerie (nach Tennessee Williams) in Chicago.
Dann begleitet das Filmteam Neumeier auf seine Erinnerungsreisen, zunächst nach Milwaukee, wo er geboren wurde und an der dortigen Marquette University (wo er zunächst Literaturwissenschaft studierte) seine ureigentliche Ballettbestimmung erkennen sollte - die prägende Figur, die das bei ihm dann auslöste, war Pater John J. Walsh, der das Universitätstheater leitete: Bei einem Tanztraining beobachtete er ihn zufällig und attestierte ihm tänzerisches Talent; das war der eigentliche Wendepunkt in Neumeiers noch allzu jungem Studentenleben...
Es geht weiter nach Northbrook, wo Sybil Shearer (1912-2005), eine der wichtigsten Vertreterinnen des US-amerikanischen Modern Dance, ein kleines abgelegenes Tanzstudio hatte, in dem sie mit gleichgesinnten jungen Tänzerinnen und Tänzern Choreografien erarbeitete; auch Neumeier zählte zu diesem auserlesenen Kreis; und 60 Jahre später wollte er noch einmal an den Ort zurück...
In Paris erleben wir ihn bei einer Neueinstudierung seines Nijinsky-Ballets Vaslav im dortigen Palais Garnier. Bei der Gelegenheit thematisieren die Filmemacher die lebenslange Beschäftigung und geradezu manische Hingezogenheit Neumeiers zu dieser vielleicht schillerndsten Tanzikone aller Zeiten - so gibt es beispielsweise in seiner Hamburger Wohnung mit 50.000 Bildern, Statuten und Objekten zur Geschichte des Balletts eine riesige Sammlung mit Erinnerungsstücken an Vaclav Nijinskij (1889-1950)...
Schließlich zeigt der Film das 1989 von ihm (nach dem Vorbild der Dresdner Palucca-Schule) gegründete "Ballettzentrum Hamburg - John Neumeier", wo er inmitten seines tänzerischen Nachwuchses zu beobachten ist.
John Neumeier prägt mit seinem Gesicht und seiner Stimme die 55 Minuten, die diese emotional sehr ansprechende und informativ sehr anspruchsvolle Dokumentation zeitlich in Anspruch nimmt.
Darüber hinaus geben sachverständige Zeitgenossen (die Tänzerin Heather Juergensen, die Theaterkritikerinnen Dorion Weickmann und Jacqueline Thuilleux, der Direktor des Pariser Balletts José Martinez sowie der Musikjournalist Manuel Brug) ihre persönlichen Eindrücke und Beobachtungen kund.
Es ist ein ruhiger und melancholischer Film geworden.
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Zu Neumeiers 50. Jubiläum zeigte das Hamburg Ballett The World of John Neumeier auf dem Rathausmarkt | Foto: Kiran West
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Andre Sokolowski - 5. Juli 2024 ID 14825
https://www.arte.tv
https://www.andre-sokolowski.de
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