„Eine andere Welt
ist möglich.“
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Bewertung:
Er sieht aus wie ein Alt-Hippie, gibt sich betont bodenständig, geht furchtlos gegen Neonazis vor und predigte als Stadtjugendpfarrer in Jena viele Jahre von der Kanzel. Lothar König wurde 1954 in Thüringen geboren, hat die DDR, die Wende und die Nachwendezeit bewusst mitbekommen - und sich eingemischt. 2019 ging er als Pfarrer in den Ruhestand, ist aber immer noch in gesellschaftspolitischer Mission unterwegs. Von einem Neonazi wurde er im Jahr 1997 mit einem Schlagring so schwer im Gesicht verletzt, dass er eine riesige Narbe über dem rechten Auge trägt. Er hatte Glück, dass sein Auge wieder geheilt ist.
Der Filmemacher von König hört auf ist sein Sohn Tilman König, der den Film anfangs wie einen Countdown sechs Monate vor der Pensionierung seines Vaters inszeniert hat. Die Jugendarbeit ist vielfältig, reicht von Kunstaktionen, Sport, Musik bis hin zum Zelten, und der Geistliche kümmert sich auch um gefährdete Personengruppen. Allein von seiner Physis her - er ist groß, kräftig, mit langen Haaren und beeindruckendem Rauschebart - hat er viel Platz unter seinen Fittichen und setzt sich für Migranten, Punker und andere Jugendliche ein, die den Neonazis ein Dorn im Auge sind.
Mit seinem Engagement für die Jugend wollte er „einen Probier-Ort mitten in der Gesellschaft gründen“. Dabei sieht er die Jugendlichen durchaus kritisch, beschwert sich über deren Desinteresse, weiß, dass sie schwierig sind, rügt sie wegen Regelstößen beim Sport und muss ihnen am Ehrentag seines Abschieds als Pfarrer sogar im Spaß drohen: „Wenn ihr mir besoffen in die Kirche kommt...“ - In der Nachwendezeit schien in den neuen Bundesländern die Zeit der Unterdrückung vorbei zu sein, und die lange aufgestaute Wut und Frustration schaffte sich vor allem bei der Jugend Raum. Da hatte König als Jugendpfarrer einiges auszuhalten.
Einige wandten sich dem zu, was vorher ideologisch geächtet war, dem Nationalsozialismus, andere machten sich z.B. als Punker Luft. Musikbands gewannen auf beiden Seiten Bedeutung. Die Neonazis texteten entsprechendes Gedankengut, die Linksorientierten das ihrige. Eine Neonazi-Band drohte König, eine Punk-Band verteidigte ihn, namentlich der Sänger Jan „Monchi“ Gorkow, der auch im Film vorkommt. - König hatte schon früh die Gefährlichkeit und das gewalttätige Potential der Rechtsextremisten erkannt und davor gewarnt. Den Mitgliedern der aus Jena stammenden NSU-Terrorzelle ist er vor deren Raubzügen, Anschlägen und Morden persönlich begegnet. Er stand in offensiver Opposition zur rechten Szene. Auf die Frage, ob er Angst vor einer möglichen Rache der Neonazis habe, antwortet König: „Die sind gut organisiert, die haben Todeslisten, die haben Waffen und die warten auf den Tag X.“
König weiß, dass er sehr unbequem sein kann. „Anecken ist in Ordnung, aber man muss auch anerkennen, dass man Grenzen hat.“ Dabei bezieht er sich auf die 10 Gebote insbesondere auf „Du sollst nicht töten“. Auch ein Nazi sei ein Mensch, und niemand habe das Recht ihn „kaputtzumachen“. Das sei die Grenze, die uns allen gesetzt ist, keine Menschen, egal welche, so zu Schaden zu bringen, dass sie dann nicht mehr leben.
König ist kein Pfarrer der salbungsvollen Worte. Beim Zelten erzählt er Jugendlichen von Adorno und dessen Aussage: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ König sieht das anders. Nach seiner Erfahrung gibt es immer noch Sachen, die Gutes in sich tragen. Von einer idealen Welt geht er dabei offensichtlich nicht aus, aber wohl von einer reparablen. Wir erfahren jedoch nicht, ob das z.B. ein Konzept der Jugendarbeit sein könnte, ob es Versuche gab, die gemäßigteren Jugendlichen so zu stärken, dass sie unempfindlich werden gegen einseitige Narrative und übergriffige Ideologien egal welcher Couleur, oder was in dieser unruhigen Nachwendezeit überhaupt möglich war.
Bei seinem Entpflichtungsgottesdienst im August 2019 blickt kurz durch, dass es auch anderes als den Kampf gegen Neonazis für ihn gibt: „Gnade uns Gott, wenn ich daran denke, was wir hier mit seiner wunderbaren Schöpfung anrichten, da gibt es nur noch die Hoffnung, dass mal ein Wunder geschieht.“ Doch er gibt auch einen hoffnungsvolleren Ausblick: „Eine andere Welt ist möglich.“ Draußen wird er mit einem Umzug, mit bengalischem Feuer, Spruchband und lautem Getöse verabschiedet, passend zu seiner Amtszeit, die alles andere als leise und unauffällig war.
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Die Dokumentation ist subjektiv und ähnelt einer Sammlung von Randnotizen. Sicher, Lothar König ist als Persönlichkeit zu komplex, um sein Wirken innerhalb von anderthalb Stunden zu erzählen. Doch leider gibt es Lücken in der Exposition, und man muss sich als Zuschauer etliches selber zusammenreimen, weil Tilman König einige Kenntnisse als vorhanden anzunehmen scheint. - Lothar König als Ehemann und Vater kommt praktisch nicht vor, allerdings ist seine Tochter Katharina König-Preuss in einigen Szenen zu erleben, die für Die Linke im Thüringer Landtag tätig ist. Aber sie wird gar nicht richtig vorgestellt. Es gibt zu viele Leerstellen, auch wenn es verständlich ist, dass sich der Rest der Familie im Hintergrund hält.
Das Lückenhafte gilt vor allem für die Prozesse gegen Lothar König, der Anklagen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung bekam und sogar wegen Landfriedensbruchs. Im Film sagt er, dass es ihm sehr, sehr schwer gefallen sei, der Einstellung des letzteren Verfahrens zuzustimmen. Die 3.000 Euro, die er bezahlen sollte, waren Nebensache. Aber mit ihm seien Polizisten freigesprochen worden, die gelogen hätten. Lügen gehörten zum Leben dazu, aber in manchen Fällen sei das ja lebensentscheidend. „Es klafft, wie eine offene Wunde“, meint er.
Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema findet im Film nicht statt, genauso wenig wie eine ausführlichere Reflexion darüber, ob sein offensives Handeln nicht zur Eskalation von Konflikten und zur Polarisierung beigetragen haben könnte oder aber absolut nötig war, um öffentliche Zeichen gegen rechts als Gegengewicht zu setzen. Das sind vielleicht Themen für einen neutraleren Filmemacher. Tilman König hat aber das gemacht, was ein Außenstehender nicht könnte und uns seinen Vater in seiner Kreatürlichkeit nahe gebracht.
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Der Stadtjugendpfarrer Lothar König in seinem Büro | © Weltkino Filmverleih
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Helga Fitzner - 16. November 2022 ID 13914
https://www.weltkino.de/filme/koenig-hoert-auf
Post an Helga Fitzner
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