Das Tönnies-Drama
und Die heilige
Johanna von den
Schlachthöfen
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Bewertung:
Der Schlachtereikonzern Tönnies erzeugte, als sich das Corona-Virus vor über einem Jahr auch in Deutschland auszubreiten begann, besonders auffällige Negativschlagzeilen:
Behördlich angeordnete Massentests im Juni ergaben, "dass sich im Tönnies-Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück von 6.139 getesteten Tönnies-Werksmitarbeitern 1.413 Arbeitnehmer infiziert hatten, ebenso wie weitere 353 Personen im Umfeld dieser Beschäftigten, insgesamt also 1.766."
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"Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie in der Tönnies-Fleischfabrik ermittelt(e) die Staatsanwaltschaft Bielefeld wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Körperverletzung und Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz.
CDU-Landrat Sven-Georg Adenauer ordnete einen Produktionsstopp an. Die Schlachtungen waren zwar eingestellt, aber das Fleisch von bereits geschlachteten Tieren durfte noch verarbeitet werden. Außerdem wurde eine mindestens 14-tägige Quarantäne für alle 7.000 Mitarbeiter inklusive der Führungsetage samt Clemens Tönnies angeordnet, für einige der nicht positiv getesteten Tönnies-Mitarbeiter galt eine Arbeitsquarantäne; das heißt, sie durften sich nur zwischen ihrem Wohnort und der Arbeitsstätte bewegen. Schulen und Kindertagesstätten wurden im Kreis Gütersloh bis zu den Sommerferien 2020 geschlossen."
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"Als mögliche Gründe für die zahlreichen Infektionen nannte ein Sprecher von Tönnies die Rückkehr von Arbeitern nach Heimaturlauben in Bulgarien und Rumänien und die notwendige Kühlung in Bereichen des Unternehmens. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet übernahm zunächst, ohne dafür Belege zu haben, die Behauptung von Tönnies zum Ausbruch und sagte '… weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt'. Diese Aussage löste in der Öffentlichkeit Kritik aus, teilweise auch Empörung."
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"Am 17. Juli, kurz nach der Wiedereröffnung gab es vor dem Tönnies-Konzern eine Kundgebung gegen die dortigen Produktionsbedingungen mit ca. 600 Teilnehmern. 250 Landwirte taten dagegen kund, dass sie die Wiedereröffnung des Unternehmens begrüßen.
Den Mitarbeitern wurde im Vorfeld empfohlen, bei Erkrankung ihren Wohnort aufzusuchen. Ihnen wurde nahegelegt, über die Situation zu schweigen und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Subunternehmen drohten ihnen mit Kündigung. Der Kreis Gütersloh warf der Tönnies Holding vor, bei der Weitergabe der Wohnadressen der betroffenen Arbeitnehmer nicht kooperiert zu haben. Unternehmenschef Clemens Tönnies bestritt das und verwies auf datenschutzrechtliche Probleme, da die betroffenen Arbeitnehmer über Werkvertrag von Subunternehmern bei Tönnies eingesetzt werden. Nach schriftlicher behördlicher Anforderung erhielt Tönnies von den Dienstleistern die notwendigen Daten."
(Quelle: Wikipedia)
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Das Pandemiegeschehen legte also auch die erschreckenden Arbeits- und Wohnbedingungen der überwiegend ausländischen Beschäftigten offen - es schrie geradezu nach Aufklärung, es forderte - auch unter massivem Druck der Öffentlichkeit - eine Beseitigung der skandalösen Zustände. Am 1. Januar 2021 trat dann das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Arbeitsschutzkontrollgesetz in Kraft. Es verbietet seither "Werkverträge in Schlachtung und Zerlegung", d.h. "Verbot des Einsatzes von Subunternehmen im Kerngeschäftsbereich (Betriebe des Fleischerhandwerks sind ausgenommen)", und es stellt "Mindestanforderungen für Gemeinschaftsunterkünfte".
Auf diese Art von Recht & Gesetz konnten sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Tatort und zur Tatzeit - und als Yulia Lokshina ihren später preisgekrönten Dokumentarfilm Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit drehte - nicht berufen. Doch auch so war, ist und bleibt ein insgesamter Makel unserer Gesellschaft, dass "wir" die, die für "uns" jene Drecksarbeiten machen, wofür "wir" uns absolut zu schade sind, nicht sehen, weil "wir" sie nicht sehen wollen; das ist menschenverachtend!
Der Film hat drei Erzählstränge, die parallel laufen:
Erstens: die Besichtigung des Tönnies-Werksgeländes, freilich außerhalb seines Betriebszaunes, und wie die Leute dort zur Arbeit gehen oder von der Arbeit kommen.
Zweitens: die Begleitung Inge Bultschnieders, einer Aktivistin, die seit mehr als acht Jahren gegen Tönnies Front machte, und wie sie sich mit Jarek, Mihaela oder Remigijus in derem Wohn- und Lebensumfeld trifft, mit ihnen spricht, ihnen bei der Bewältigung behördlicher oder persönlicher Probleme hilft, ihre Geschichten beiläufig erfährt und sie uns ausschnittweise mitteilt.
Drittens: das Aufzeigen und Miterleben eines Münchner Schülertheaters, das unter Anleitung des Schauspielers Alexander Klessinger Brechts Heilige Johanna von den Schlachthöfen durchforstet und erprobt.
Zu Beginn des Filmes sieht man "unbekümmerte" Schweine, die an einem an einer Kette befestigten Gummiball herumspielen; das lenkt sie von ihrer bevorstehenden Schlachtung und Zerlegung etwas ab. Ein Spinett, auf dem ein Fandango von Domenico Scarlatti gespielt wird, ist als musikalische Umrahmung hörbar.
Die theaterspielenden Schülerinnen und Schüler, die sich an der Heiligen Johanna von den Schlachthöfen immer wieder neu und immer wieder ein Stück besser ausprobieren, liegen zum Filmschluss (wahrscheinlich kurz nach der Premierenfeier) verstreut desnachts im Schnee herum - erst assoziiert man, dass sie vielleicht volltrunken wären, etwas später kriegt man das inszenatorisch gestellte Stillleben als Schlaglicht auf Erfrorene, Ermordete mit - ; ja und auch hier ist wieder der Scarlatti-Tanz im Hintergrund zu hören.
Ein aufgeschnappter Satz (im Originalton des litauischen Schlachters Remigijus, der meinte, dass das Filmteam besser in der Schlachterei statt außerhalb von ihr die Doku drehen sollte) bleibt erschütternd haften: "Wie die weißen Nigger arbeiten." Es sollte zum Ausdruck bringen, dass die Schufterei (für ihn) wie Sklavenhaltung wäre.
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Bildquelle: schaubuehne.de / KE-Screenshot v. 16.04.2021
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Auf der Homepage der Schaubühne Berlin war/ ist der Film derzeit zu sehen.
"Die Klugheit von Yulia Lokshinas Dokumentarfilm besteht in seinem Essayismus, der die Medien des Erzählens mitdenkt, das Theater, den Journalismus, den Film. Auf diese Weise entsteht ein Dokument, das nicht mit dem Kopf vor die Wand der Empörung rennt, sondern sich als zeitlose Übersetzungshilfe begreift: für Bilder, die nicht gemacht werden können, und Vorstellungen, die nicht stimmen.
'Du hast nicht aufgepasst', sagt der Deutschlehrer zum Arbeiter im Kurs, der ihm versucht zu erklären, dass nicht individuelles Versagen vorliegt, sondern ein strukturelles Problem. Das Deutsch des Lehrers ist also falsch – und das sichtbar zu machen, ist Verdienst dieses Films."
(Quelle: schaubuehne.de)
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Andre Sokolowski - 17. April 2021 ID 12862
http://www.andre-sokolowski.de
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