Unsere neue Geschichte (Teil 23)
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Bewertung:
Bevor die Dokumentarfilmerin Mirjam Leuze zur eigentlichen Fragestellung von The Whale and the Raven kommt, gibt sie dem Publikum reichlich Gelegenheit, sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. Hartley Bay ist ein Fjord im Nordwesten Kanadas, ein fast unberührtes Paradies für Wale, das aber in den Fokus wirtschaftlicher Interessen geraten ist. Leuze begleitet die Meeresbiologin Janie Wray und den Orca-Spezialisten Hermann Meuter bei ihrer Walbeobachtung und Forschungsarbeit. Sie arbeiten fernab der nächsten Siedlung auf einer sonst unbewohnten Insel, die mitten im Habitat der Wale liegt. Meuter hat an verschiedenen Stellen Mikrophone angebracht und studiert die Gesänge der Wale, die er mittlerweile in unterschiedliche Gruppierungen unterteilen kann. Bei manchen Tönen kennt er auch die Bedeutung. Früher gab es hier nur Orcas, aber sie teilen sich dieses Gebiet nun mit anderen Walarten, darunter Buckelwale, die Wrays Vorliebe sind.
Die Mitglieder des First-Nation-Stamms der Gitga'at genehmigten den beiden im Jahr 2001 die Errichtung der kleinen Walstationen in ihrem Gebiet, und es sind Freundschaften entstanden. Wray wurde sogar in den Wal-Clan und Meuter in den Raben-Clan der Ureinwohner aufgenommen, womit sich der Filmtitel erklärt, der die beiden Protagonisten ihren Stämmen zuordnet. Sie erlebten die tiefe Verbindung der Einheimischen zur Natur und hörten von ihren Legenden: Die Legende vom Orca-Häuptling, dem Regenten der Unterwasserwelt, wird in einer fantastischen Animation illustriert nach den Zeichnungen des First-Nation-Künstlers Roy Henry Vickers. Die beiden Walforscher lassen sich auch immer wieder von Helen Clifton (Jahrgang 1925), der Matriarchin des Orca-Clans, beraten, die beide unterstützt, aber auch deren Hilfe annimmt.
Vor einiger Zeit sollte eine Tankerroute mitten durch die langen Fjorde verlaufen. Die jahrzehntelangen Proteste hatten letztendlich Erfolg, u.a. weil die UreinwohnerInnen auf die Forschungsergebnisse von Wray und Meuter zurückgreifen konnten. Derzeit entsteht in der 70 Kilometer von den Forschungsstationen befindlichen Kleinstadt Kitimat eine Exportanlage für Flüssiggas. Hier sind die Betreiber defensiver vorgegangen als die Ölfirma. Sie schlossen mit der First Nation Gitga'at einen Vertrag, versprachen der strukturschwachen Region Gegenleistungen, aber nur, wenn sie das Projekt in der Öffentlichkeit nicht kritisieren. Wie verheerend sich der Flüssiggastransport auf die Region auswirken wird/würde, kann man ganz gut abschätzen, und allmählich regt sich auch da der Widerstand.
Neben der Gefahr durch das transportierte Produkt wirkt sich allein der Lärm durch die riesigen Tanker extrem schädlich auf das empfindliche Sonarsystem der Wale aus, mit dem sie kommunizieren. Meuter lässt mitten in der Aufnahme von Walgesängen das Mikrofon an, als ein kleiner Versorgungsfrachter in der Ferne vorbei schippert. Allein der macht schon einen Höllenlärm. Die Wale hätten bei einer Transportroute durch das verzweigte Fjordsystem kaum eine Ruhepause oder Ausweichmöglichkeiten und könnten sich durch den ständigen Lärm nicht miteinander verständigen und dort nicht mehr leben. Aber wo gibt es noch Rückzugsgebiete für sie? Wie elaboriert sie sich verständigen, hat Meuter durch seine Tonaufnahmen bewiesen, die er nach den vielen Jahren zu interpretieren versteht. Wray hat vor allem das Sozialverhalten der Wale studiert. Zunächst waren dort nur Orcas heimisch, doch nach und nach kamen andere Walarten dazu.
Es gibt unter Walen keine Auseinandersetzungen und keine Kämpfe, weder untereinander noch mit anderen Gattungen. Sie arrangieren sich miteinander. Wray meint zurecht, dass wir Menschen von der sozialen Kompetenz der Wale durchaus lernen könnten. Sie beobachtete auch, dass Wale zu Mitgefühl fähig sind. So sichtete sie einmal eine Buckelwal-Kuh, die kürzlich noch ein Kalb hatte, das jetzt nicht mehr zu sehen war. Sie trieb apathisch auf einer Stelle, bis sich eine andere Buckelwal-Kuh in angemessenem Abstand zu ihr gesellte und sie nicht alleine ließ. Nach einiger Zeit erholte sich die offensichtlich um ihr Kalb trauernde Kuh, und die beiden schwammen wieder davon. Es ist unbestritten, dass Tiere Leid, Schmerzen, Liebe und Mitgefühl empfinden können, und Leuze zeigt uns in ihrer Dokumentation, wie faszinierend und weit entwickelt gerade die Wale sind. Sie will mit dem Film zeigen, dass wir Menschen nicht die einzig empfindenden Wesen auf der Erde sind, und deshalb werden auch die Namen der Wale genannt: Sarah BCY0703, Surf CSX0002, Notch BCX0049, A35 Northern Resident Orca, Matriline, Habit BCX1225, Anonymous, 46-A36 Matriline-A1 Pod, Misty BCY0331 and her calf, A5, Bent CSY0067, Bigg's Orcas. Leuze erklärt: „Doch ich glaube, ein Paradigmenwechsel, der den Menschen nicht mehr als ‚Krone der Schöpfung‘, sondern als nur EINE mögliche Seinsform in einer Reihe mit anderen Lebewesen sieht, könnte tatsächlich unsere Wahrnehmung der Welt und wie wir mit diesem Planeten umgehen, grundlegend verändern...Unter dem Schlagwort ‚Posthumanities‘ oder ‚The Nonhuman Turn‘ stellen Forscher den Menschen als einzig möglichen Ausgangspunkt und als Zentrum unserer Wahrnehmung und unseres Denkens zunehmend in Frage.“
Leuze ist Ethnologin, und der respektvolle Blick auf andere Ethnien ist ihr wichtig und war auch unabdingbar, um das Filmprojekt zu realisieren. Schon in ihrer ersten abendfüllenden Dokumentation Flowers of Freedom, die den Kampf von kirgisischen Frauen gegen den umweltvergiftenden Goldabbau beschreibt, stehen die Frauen und ihre Tradition im Vordergrund. In The Whale and the Raven hält sich Leuze noch mehr zurück, gibt keine Interpretation oder Meinung vor und lässt Raum für Stille und meditative Bilder. Es gibt keine zielführende Filmhandlung oder Ergebnisorientierung, sondern sie lässt den Walen den Vorrang sowie den Forschern und den Einheimischen, die nun das Unmögliche versuchen wollen, aus dem verheerenden Vertrag mit der Flüssiggasfirma wieder herauszukommen. Der Ausgang ist ungewiss und damit auch das Schicksal der Region und der Wale. Die Dokumentation steht stellvertretend für das Dilemma, dass der Planet einer weiteren Ausbeutung und Vernichtung nicht standhält. Deswegen ist ihr Ansatz so wichtig, dass der Mensch eben nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern dass er sich diesen Planeten mit vielen anderen Lebensformen teilt und aufhören muss, seine eigene Lebensgrundlage zu vernichten.
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Janie Wray beobachtet die Wale auch gerne von Land aus, um sie nicht zu stören | © Mindjazz Pictures
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Helga Fitzner - 4. September 2019 ID 11658
Weitere Infos siehe auch: https://mindjazz-pictures.de/filme/the-whale-and-the-raven/
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